Ein Plateau, 13 Kilometer ausserhalb der Stadt Veracruz: Frauen der Gruppe Colectivo Solecito suchen Meter für Meter nach Verschwundenen. Daniel Berehulak/The New York Times/Redux/Laif

Der Tod und die Hoffnung

Wie ist es, wenn das Leben nur noch eine Suche nach Toten ist? Wenn man den Glauben an den Rechtsstaat verloren hat und trotzdem auf dessen Hilfe hofft? Eine Reise nach Veracruz.
Teil II der Reportage aus Mexiko.

Von Oscar Alba, 29.06.2018

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«Was kümmert mich der Tod, wenn mich schon das Leben nicht kümmert?» (Octavio Paz, mexikanischer Literaturnobelpreisträger)

«Respektiert und schützt das Leben der Eichhörnchen!» Solche Schilder hängen an den Baumstämmen im historischen Zentrum von Coatepec, einem der sechs «Pueblos Mágicos» im mexikanischen Bundesstaat Veracruz. «Pueblo Mágico» heisst magisches Dorf, ist eine Erfindung des Tourismusministeriums und will sagen: Dieser Ort ist zauberhaft und einen Besuch wert.

In der Tat, Coatepec ist eine Oase. Es liegt am Rand eines dichten, hügeligen Nebelwalds, 1200 Meter über Meer, mit traumhaftem Klima, das ganze Jahr hindurch ist es feucht und warm, viel Sonne und viel Regen. Die Pflanzen explodieren hier förmlich. Die Bauern sagen: Es gibt hier nichts, was nicht wächst. Die Märkte in Coatepec verzücken Augen und Nase. Im Zentrum rund um den Park, wo einem die Eichhörnchen vor die Füsse springen, sind die Häuser so farbig wie anderswo die Blumenbeete. Überall blühen Orchideen, überall duftet es nach frisch geröstetem Kaffee. Coatepec ist Mexikos «Hauptstadt des Kaffees» (was neben «Pueblo Mágico» der zweitbeste Slogan des Tourismusministeriums ist). Der «café veracruzano» gilt in Coatepec als der beste der Welt.

Zwei Mexikos

Es hat den ganzen Morgen geregnet. Lucía de los Angeles sitzt auf einer Parkbank, die ein Indio in Gemeinde-Uniform soeben mit einem Tuch getrocknet hat. Sie ist eine gepflegte Dame mittleren Alters, blinzelt in die ersten Sonnenstrahlen, die durch Wolken und Baumkronen dringen, und seufzt leise: «México lindo y querido.» Schönes und geliebtes Mexiko.

Der Titel eines bekannten Liedes. Mexikaner zitieren ihn nicht nur aus Begeisterung. Sondern auch aus Ironie, wenn sie sich ärgern.

Lucías Ton ist genau in der Mitte. Sie ist Lehrerin, studierte Literatur und Englisch und ist Mutter von drei erwachsenen Kindern. Wie bei vielen Mexikanerinnen ist ihr Alter ein Geheimnis. Sie wischt eine gefärbte Strähne aus dem gepuderten Gesicht und spricht von «zwei Mexikos». Das eine sei das «Mexiko nach aussen» – ein faszinierendes und farbiges Land, gesegnet von der Natur, mit allen Klimazonen, Bergen und Meeren, reich an Bodenschätzen, Kultur und Traditionen, dazu freundliche, arbeitsame und diensteifrige Menschen.

Und das andere?

«Wovor soll ich Angst haben? Mein Sohn ist verschwunden, etwas Schlimmeres kann niemandem passieren»: Lucía de los Angeles. Oscar Alba

«Das Mexiko im Innern.» Lucía wirft einen scharfen Blick durch ihre überdimensionierte professorale Brille: Dabei handle es sich um die Eigenart des Mexikaners, seine tiefsten Charakterzüge, quasi die DNA der Nation. «Dieses Mexiko habe ich in den letzten Jahren so richtig kennengelernt, und zwar am eigenen Leib. Es ist gewalttätig, korrupt, innerlich verfault, düster, falsch und grausam.»

Die Bekanntschaft begann am 28. Juni 2013. Lucías ältester Sohn Luis Guillermo, 29, schläft in seiner Wohnung im Mittelstandsquartier Reforma in der Hafenstadt Veracruz. Irgendwann in den frühen Morgenstunden brechen Kriminelle in die Wohnung ein: Luis Guillermo wird aus dem Schlaf gerissen und entführt. In der Untersuchungsakte steht, die Spuren in der Wohnung deuteten darauf hin, dass die Entführer Luis Guillermo nicht einmal Zeit gelassen hatten, sich richtig anzuziehen. Seither ist er spurlos verschwunden. Die Täter bleiben unentdeckt – so wie fast alle Kriminellen in Mexiko. Es gibt keine Verdächtigen, keine Anklagen, nichts.

«Wenn du plötzlich in dieses dunkle Mexiko hineingestürzt wirst, du Schutz, Hilfe, Beistand brauchst, wenn du auf den Staat und seine Institutionen angewiesen bist – dann bist du in diesem Land des Schweigens verloren.» Veracruz, der Bundesstaat, wo ihr Sohn verschwand, ist für Lucía seither das schwarze Zentrum ihres Lebens geworden.

Geografie des Grauens

Veracruz. Das Martyrium liegt hier schon im Namen drin: das wahre Kreuz. In diesem Staat – fast doppelt so gross und fast gleich viele Einwohner wie die Schweiz – gibt es mehr heimliche Massengräber als Gemeinden. Stand Ende 2017: 343 Massengräber, in denen 225 Körper, 335 Schädel und über 30’000 sterbliche Überreste gefunden wurden. Landesrekord. Die Akten sprechen von 3600 registrierten, unaufgeklärten Fälle von Verschwundenen. Die Dunkelziffer ist weit höher, weil die meisten Angehörigen die Verbrechen nie melden. Aus Angst, sie könnten selbst zur Zielscheibe werden. Und weil sie Polizei und den Behörden misstrauen und diese verdächtigen, ebenfalls Teil des organisierten Verbrechens zu sein.

Lucía hat keine Angst. «Wovor soll ich Angst haben? Mein Sohn ist verschwunden, etwas Schlimmeres kann niemandem passieren.»

Es sind vor allem Frauen, die verzweifelt suchen und hoffen: Mütter, Ehegattinnen, Freundinnen, Tanten, Schwestern, Cousinen von Verschwundenen. Daniel Berehulak/The New York Times/Redux/Laif

Lucía ging zur Polizei. Zieht seit fünf Jahren rastlos herum, von einer Behörde zur nächsten, erfolglos. Gründete ein Colectivo, eine Gruppe von Müttern, die so wie Lucía auch seit Jahren bei der Polizei und der Justiz «gegen eine Wand laufen». Ihr Colectivo heisst Solecito, die kleine Sonne, weil sie die Hoffnung nicht aufgeben können. 200 Mitglieder hat das Colectivo. In Veracruz gibt es inzwischen 16 solche Gruppen. Ihre Mitglieder: fast nur Frauen. Mütter, Ehegattinnen, Freundinnen, Tanten, Schwestern, Cousinen von Verschwundenen.

«Ohne diese Frauen wären die Tausenden Verschwundenen in Mexiko wahrscheinlich gar kein grosses Thema», sagt Marcela Dionicio. Die 29-jährige Soziologin begleitet Angehörige und hilft ihnen, sich zu organisieren. «Die meisten Männer wollen nicht darüber reden. Verschwundene sind in vielen Familien ein Tabu.» Marcela kennt viele Mütter, die Tag für Tag fast nichts mehr anderes tun, als ihr verlorenes Kind zu suchen, und wenn sie abends nach Hause kämen, werde kein Wort darüber gesprochen. «Die Frauen sind sehr einsam. Zu Hause schweigt der Mann, bei den Behörden treffen sie wieder auf eine Mauer von Männern, die ebenfalls schweigen, die nicht zuhören, keine Zeit haben, nichts tun.»

Und deshalb machen sich diese Frauen selbst auf die Suche, sammeln Informationen, DNA-Proben, gehen Gerüchten nach, verfolgen Spuren, graben zahllose Leichen aus. Marcela sagt: «Das Verrückte ist, dass dies inzwischen normal ist. Dass wir vergessen haben, dass ja eigentlich der Staat all diese Arbeit machen und die Verbrechen aufklären müsste.»

10. Mai 2016. Mütter von Colectivos gehen in der Hafenstadt Veracruz auf die Strasse, fordern die Rückkehr ihrer Kinder, protestieren gegen die Behörden. Zwei Unbekannte stecken einer Demonstrantin ein zusammengefaltetes Papier zu und verschwinden in der Menge. Es ist eine handgezeichnete Skizze von einer Gegend ausserhalb der Stadt, viele kleine Kreuze sind darauf, daneben steht das Wort «Körper». Was aussieht wie eine Schatzkarte für Kinder, ist ein Lageplan des Schreckens. Die Karte führt zu dem grössten je in Mexiko entdeckten geheimen Massengrab. Der Ort: Las Colinas de Santa Fe, die Hügel des Heiligen Glaubens.

Wer die inzwischen abgeriegelten und streng bewachten Hügel von Santa Fe besuchen will, braucht die Erlaubnis des einzigen Mannes, der befugt ist, sie zu erteilen: Generalstaatsanwalt Jorge Winckler Ortíz. Er fragt: «Wollen Sie da wirklich hin? Es ist ein düsterer Ort.»

Auf den Hügeln

Acht Uhr morgens an einem Dienstag, am Rand einer heruntergekommenen Plattenbausiedlung, 13 Kilometer ausserhalb von Veracruz. Kurz nach Sonnenaufgang ist das Klima bereits warm und feucht. Man sieht das Meer nicht, riecht es aber. Der Minibus und ein Personenwagen halten an einer Ecke vor einem Laden, Typ Tankstellenshop. Ein halbes Dutzend Männer in Arbeitskleidung, die Fahrer und drei Frauen steigen aus den beiden Fahrzeugen, um sich einen letzten Kaffee zu holen. Im Laden stehen zwei Polizisten, Esteban (23) und Rosendo (25). Beide tragen schwarze Kampfmontur, Sonnenbrillen und Kugelwesten, an diesen klebt direkt über dem Herzen ein Totenkopf in den drei Farben Mexikos – rot, weiss, grün. An Rosendos Schulter hängt ein Maschinengewehr. Man begrüsst sich herzlich als alte Kumpels. Schulterklopfen, Umarmungen. Die Polizisten küssen die Frauen, schäkern ein wenig. Ihre Begleiter bestellen Cola und Kaffee im Pappbecher. Dann gehts zur Arbeit.

Die letzte Ruhestätte: Im März 2017 fanden die Frauen des Colectivo Solecito die menschlichen Überreste von Pedro Huesca. Der Justizangestellte war seit April 2013 vermisst worden. Felix Marquez/ AP Photo

Der Wächter öffnet das Tor aus dickem Eisengestänge. Links und rechts erstreckt sich endlos dickes Gebüsch. Die Lücken dazwischen sind mit Stacheldraht geschlossen. Vor dem Minibus und dem Auto fahren Esteban und Rosendo in ihrem bulligen, zerbeulten Ford-Pick-up der Polícia estatal. Ein Gefährt wie aus einem billigen Film. Nach zehn Minuten holpriger Fahrt durch zerzauste Büsche, Bäume und Totholz geht es leicht aufwärts zu einem mehrere Fussballfelder grossen Plateau, wo ausser ein paar Sträuchern und Grasbüscheln nichts mehr wächst. Eine kleine Wüste nahe am Meer. Rundherum erheben sich dünenartig die Hügel. Der Boden ist purer Sand. Überall liegen Fetzen von gelben Absperrbändern herum, schwarz beschriftet mit «Tatort – nicht betreten». An einigen Orten sind mit den Bändern am Boden zwei auf zwei Meter grosse Quadrate markiert. «Da müssen wir noch graben», sagt Janette, knall-violette Lippen, stark geschminkt, das Haar unter der Baseballmütze zusammengebunden.

Janette ist 42 Jahre alt, Mitglied des Colectivo Solecito und koordiniert die Arbeitseinsätze. Sie tut das, um irgendetwas gegen den Schmerz zu tun. Sechs Familienangehörige von ihr sind vor vier Jahren auf einen Schlag spurlos verschwunden. Der Bruder, fünf Cousins und Neffen. Sie waren zusammen in einem Van unterwegs zu einem Dorffest – und kamen nie an. Es gab anonyme Anrufe von Erpressern, die Geld forderten. Doch in Janettes Familie hatte niemand Geld. Bald rief niemand mehr an. Der Wagen wurde Wochen später ausgebrannt in einem Wald gefunden. Weitere Spuren: keine. Verdächtige: keine.

Der kleine Konvoi hält bei einem grossen Stück Zeltplane, unter dem das Material gelagert ist. Werkzeug, Plastikstühle, Tischplatte. Die Männer heben das Zeltdach an, stecken lange, dicke Äste in die vier Ecken, der Sonnenschutz steht.

Janette sagt den Männern, sie sollten dort weitermachen, wo sie gestern aufgehört haben. An einer markierten Stelle in einer kleinen Senke beginnen sie zu graben. Als vor zwei Jahren die Suche hier begann, griffen die Frauen des Colectivo noch selbst zur Schaufel. Doch die Arbeit ist streng, deshalb engagierten sie Männer dafür. Die meisten sind Arbeitslose, andere helfen mit, weil sie «Gutes tun wollen» oder selbst jemanden in der Familie haben, der verschwunden ist. Um die Helfer zu bezahlen, verkaufen die Colectivos Altkleider und Handgemachtes, veranstalten Tombolas und nehmen Spenden entgegen.

Seit zwei Jahren graben sie in Santa Fe. Jede Woche, von Montag bis Freitag. Bis jetzt haben sie an 151 Stellen 295 Schädel gefunden, die meisten mit dem zugehörigen Körper, einige einzeln ohne Skelett, oft in Plastiksäcke eingepackt, manche verstümmelt – insgesamt über 11’000 Knochen sowie unzählige Kleidungsstücke und andere Besitztümer. Aus dem Knochenberg konnten bis heute gerade einmal 16 Personen identifiziert werden.

Die Spürnase

Der Chef der Truppe ist Lupe, 60, ein drahtiger Mann mit grauem Haar, dunkler Haut, dunklen Augen und einem eingefallenen Gesicht, das Bände spricht. Er kommt aus Iguala – einer Stadt in Mexikos traurigstem Bundesstaat Guerrero, wo am meisten Menschen ermordet werden. Lupe war Maurer, bis vor sechs Jahren sein 28-jähriger Sohn verschwand. Seither sucht er ihn. Zwei Jahre lang grub er in Guerrero und Sinaloa Leichen aus. Vor zwei Jahren bat ihn das Colectivo Solecito um Hilfe.

Der Mann, der den Tod riechen kann: Lupe, er sucht seit sechs Jahren nach seinem Sohn.Victoria Razo/AFP

Lupe kann wie kein anderer den Tod riechen. Seine Technik: An den vermuteten Fundstellen schlägt er mit einem grossen Hammer ein fast zweieinhalb Meter langes T-Eisen in den sandigen Boden, zieht es wieder heraus, schnuppert das lange Eisen ab, und wenn ihm an einer Stelle der süssliche Geruch der Verwesung in die Nase sticht, weiss Lupe: Hier müssen wir graben. Nach jedem Fund macht er einen Strich in ein winziges zerknittertes Notizbuch, das er seit 2014 mit sich trägt. Der fast den ganzen Tag hindurch schweigende Mann hat schon über 500 Tote gefunden. Er sagt nur: «Wenn wir es nicht machen, macht es niemand.» Die Arbeit sei lebenswichtig für die Angehörigen. «Das Schlimmste ist das Unwissen, ob dein Kind lebt oder tot ist. Das zerfrisst dich.» Lupe glaubt nicht, dass sein Sohn noch lebt. Doch die Hoffnung gibt er nicht auf. Er kann es nicht.

Lupe hämmert, riecht, gräbt und erhält dafür hundert Franken pro Woche, doppelt so viel wie alle, die nur graben.

Moderne Archäologie

Carlos, der 33-jährige Archäologe, bekommt als Akademiker am meisten: rund 150 Franken die Woche. Nach dem Studium grub er in den historischen Tempelanlagen in San Lorenzo Tenochtitlán Überbleibsel der Olmeken aus, dann machte er ein Diplom in forensischer Archäologie, jetzt gräbt er nach Ermordeten im Mexiko von heute. Er sagt: «Die Archäologie ist bedeutend für die mexikanische Identität.» Doch zu der gehöre nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart. «Und diese Toten hier gehören leider genauso zu unserer Identität.» Diese Arbeit sei quasi moderne Archäologie. Und für das Land jetzt wichtiger als die traditionelle. «Wenn sich niemand um die Verschwundenen kümmert, geht das immer so weiter mit dem straflosen Entführen, Erpressen und Töten.»

Carlos sagt, sein Lohn reiche knapp, weil er keine Miete mehr zahlen müsse. Er, Lupe und zwei weitere Kollegen leben im Haus von einem Verschwundenen. Dessen Mutter ist Mitglied des Colectivo und lässt die Helfer gratis im Haus des Sohnes wohnen. Die Staatsanwaltschaft bezahlt nur die Spesen: den Transport, einen Minibus mit Chauffeur, das Mittagessen.

Mittagspause. Es gibt Spiralnudeln, ein Stück Fleisch mit Knochen, Tortillas und brutal scharfe Sauce. Die Reste kann man unbesorgt in den Sand werfen, nachts kommen die Koyoten und holen sie. Grillen zirpen, die Hitze flirrt über der sandigen Ebene. Rosendo und Esteban haben ihre kugelsicheren Westen ausgezogen. Die Frauen reden über eine Telenovela.

Am Nachmittag stösst Gonzalo auf etwas hartes Weisses. Er legt die Schaufel weg, arbeitet mit den Händen weiter. Ein Reissack. Gonzalo drückt mit den Fingern darauf herum und sagt trocken: «Knochen.» Er tritt aus der Grube, darf jetzt nichts mehr tun. Archäologe Carlos ruft die Männer von der Polícia Federal, dem mexikanischen FBI, die den ganzen Tag in ihrem Luxus-Pick-up auf heruntergeklappten Sitzen gedöst haben. Die beiden kommen, telefonieren mit ihren Handys, sagen dann, die Spezialisten würden erst morgen kommen, für heute sei es schon zu spät. Gonzalo und Lupe legen gelbe Absperrbänder quer über die Grube.

Um halb vier ist Feierabend.

Am nächsten Tag titelt ein Lokalblatt: «Zwölf Schädel in vier Schöpfbrunnen in der Gemeinde Omealca gefunden». Entdeckt von Frauen des Colectivo. Sie waren Gerüchten nachgegangen.

Der Jäger

Der Sitz der Generalstaatsanwaltschaft in der Bundeshauptstadt Xalapa ist ein gigantischer heller Hochsicherheitsbau aus Granit. In jedem Stockwerk stehen bewaffnete Männer in dunkler Uniform. Jorge Winckler, Chef von 4000 Angestellten, ist ein eleganter und redegewandter Mann, 42 Jahre jung, Brillantine im schwarzen Haar, erst seit eineinhalb Jahren im Amt, aber schon landesweit berühmt. Der oberste Strafverfolger von Xalapa will aufräumen. Und geht dafür gegen den Staat vor, für den er arbeitet. Wie kein anderer Justizangestellter vor ihm hat er in kurzer Zeit Politiker, Polizisten, Staatsanwälte und andere Funktionäre eingekerkert, weil er ihnen nachweisen konnte, dass sie Teil des organisierten Verbrechens waren. Einige wurden verhaftet, weil sie systematisch betrogen, andere, weil sie Menschen entführten, folterten oder töteten.

Herr Winckler, was ist Ihre schwierigste Aufgabe?
In einem Land, wo die Gewalt, Korruption und Straffreiheit derartige Ausmasse angenommen haben, ist es meine grösste Herausforderung, mit meiner Arbeit dazu beizutragen, dass die Menschen das schwer beschädigte Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden zurückgewinnen.

Er geht gegen den Staat vor, für den er arbeitet: Jorge Winckler, Generalstaatsanwalt in Xalapa, der Hauptstadt des Bundestaates Veracruz.zvg

Angesichts der Realität ist das fast aussichtslos.
Nein, zumindest hier in Veracruz haben wir die ersten wichtigen Schritte getan. In 53 von 212 Gemeinden unseres Bundesstaates haben wir das systematische Verschwinden von Menschen nachgewiesen. Wir haben Beweise, dass lokale Autoritäten, nicht zuletzt die frühere Regierung des Bundesstaates Veracruz, im angeblichen Kampf gegen das Kartell Los Zetas dieselben grausamen Methoden angewendet haben wie das organisierte Verbrechen. Und also selbst Teil von diesem waren.

Eine Zentrale des organisierten Verbrechens war die Polizeiakademie El Lencero. Laut Anklage haben Gruppen von bei der Polizei angestellten Todesschwadronen Verdächtige von der Strasse geholt, gefoltert und getötet und danach verschwinden lassen. Meistens Junge aus armen Verhältnissen. Winckler jagt die damals Verantwortlichen. Der ehemalige Gouverneur von Veracruz, Wincklers Amtsvorgänger, der oberste Polizeichef, zahlreiche Polizisten und Angestellte der Staatsanwaltschaft sitzen bereits im Gefängnis.

Von den 8000 Polizisten im Bundesstaat hat Winckler bis jetzt 1000 aussortieren lassen. Und er sagt: «Die Säuberung ist noch nicht zu Ende.» Sein neues Problem: Es fehlen 4000 brauchbare Polizisten. «Wir finden fast keine geeigneten, genügend qualifizierten Leute. Unter anderem weil der Job lebensgefährlich ist.»

Fürchten Sie auch um Ihr Leben?
Ja klar. Meine Familie und ich erhalten Drohungen. Damit muss ich klarkommen.

Wie hat sich Ihr Leben verändert als Verbrechensbekämpfer?
Ich kann sehr vieles nicht mehr machen, was ich früher gern getan habe: allein oder mit der Familie ausgehen, auf dem Markt einkaufen, joggen. Das geht nur noch mit Leibgarde. Was nicht wirklich angenehm ist.

Sie leben selbst wie ein Gefangener?
Ich bin sehr viel weniger frei als früher, ja. Ich fahre nicht einmal mehr ans Meer, nicht einmal mit Leibwache. Wird irgendwo ein schweres Verbrechen begangen, wenn ich am Strand liege, hiesse es sofort: In Veracruz werden Menschen getötet, und der Generalstaatsanwalt liegt am Strand. Eine solche Schlagzeile kann ich mir nicht leisten. Nicht in einem Land, wo der Rechtsstaat praktisch null Kredit mehr hat.

Der Doktor

Die Gesundheit Mexikos ist sein Beruf. Juan Ramón de la Fuente ist so etwas wie der Doktor der Nation. Ein Blick auf sein dreissig Seiten langes Curriculum – und man fragt sich, warum der Arzt nicht längst zusammengebrochen ist: Chirurg, Psychiater, ehemaliger Rektor von Mexikos grösster Universität, Professor, Dozent, Autor, Politiker, Gesundheitsminister, dazu in den 90er-Jahren Uno-Mandate und Präsident- und Mitgliedschaften von x akademischen Gremien, vernetzt und tätig auf der ganzen Welt, 22 Bücher, 18 Ehrendoktortitel, Dutzende Preise oder Anerkennungen – und kein Ende in Sicht. Eigentlich ist der Mann mit 66 Jahren, Bart und Röntgenblick bereits im Pensionsalter. Doch dafür hat er keine Zeit.

De la Fuente gilt als einer der brillantesten Köpfe Mexikos. Keiner hat sich so sehr mit den Leiden des Landes beschäftigt wie er. Zu seinen Spezialgebieten gehören unter anderem Sucht, Drogen und Drogenpolitik, Globalisierung, Macht, mentale Gesundheit – und wie sich all diese Themen und Probleme auf die Gesellschaft auswirken. Sein neustes Buch: «Die verletzte Gesellschaft – das Unwohlsein des Bürgers», eine messerscharfe Diagnose zum Gesundheitszustand Mexikos und der Welt.

Doktor, wie geht es Mexiko?
Das Land erlebt eine Epidemie der Gewalt. Einerseits verursacht durch den absurden Krieg gegen die Drogen, andererseits durch die Korruption, die nie gekannte Ausmasse angenommen hat.

Er sagt, das Land sei gespalten, die Gesellschaft zerrüttet, und dennoch ist Doktor Juan Ramón de la Fuente optimistisch, dass das soziale Gefüge geflickt werden kann. zvg

Wie wirkt sich diese Epidemie auf die Bürger aus?
In einem ungeheuren seelischen Schmerz. Wir leben in einer Spirale aus Betrug, Schwindel und Lüge. Dazu die Straffreiheit, Unsicherheit und das permanente Unrecht. Das alles bedeutet: Frust, Ohnmacht, Beklemmung und Wut.

Die chronische Straffreiheit …
… ist verheerend. Tatsache ist: Es geschieht nichts. Niemand tut etwas gegen das Verbrechen. Überall ist Komplizenschaft, die Institutionen sind zerfressen. Das Vertrauen in diese zurückzugewinnen, wird unglaublich viel Zeit brauchen.

Welche Medizin würden Sie als Arzt Ihrem Land verschreiben?
Teilnahme. Aufstehen. Schluss mit dem Kniefall. Schluss mit den Klagen. Wir gewinnen nichts, wenn wir uns nur als Opfer sehen. Etwas zu tun, wirkt bereits therapeutisch.

Am Sonntag wählt Mexiko eine neue Regierung. Unabhängig wer an die Macht kommt, wie lautet Ihre Prognose für das Land?
Ich bin trotz allem zuversichtlich. Das Land ist gespalten, unsere Gesellschaft zerrüttet. Hier kann die neue Regierung ansetzen. Das soziale Gefüge muss geflickt werden. Die Menschen unten müssen wir nach oben bringen. Und von denen oben brauchen wir endlich null Toleranz für Korruption. Mexiko muss die Verantwortung übernehmen. Und selbst tun, was zu tun ist.

Danke, Doktor de la Fuente.

Zum Autor

Oscar Alba (46) lebt und arbeitet als freier Journalist in Mexiko und Kuba.

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