Sarah kämpft

Sarah Akanji war als Kind genauso fussballverrückt wie ihr Bruder Manuel. Er wurde Profi. Sie nicht. Was ist passiert?

Von Elia Blülle (Text) und Maurice Haas (Bilder), 27.06.2018

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Synthetische Stimme
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Kein Gnu mehr, sondern eine Löwin: Sarah Akanji eine halbe Stunde vor dem Spiel.

Dieser Text könnte so beginnen: Wenn heute Abend Manuel Akanji mit dem Schweizer Nationalteam gegen Costa Rica antritt, dann sitzt seine Schwester in Winterthur vor dem Fernseher. Sie wird, wie immer, sein Trikot mit der Rückennummer 5 tragen und so aufgeregt sein, dass sie mit den Füssen wippt. Jedes Mal, wenn er einen Gegenspieler abgrätscht oder ein Kopfballduell gewinnt, dann wird sie …

Aber – nein. So soll der Text nicht beginnen. Gewiss: Sarah Akanji liebt ihren Bruder über alles. Posiert an seiner Seite in Magazinen und fiebert mit, wenn er als Innenverteidiger der Nationalmannschaft aufläuft. Aber sie ist mehr als «die grosse Schwester von …». Und darum beginnt dieser Text anders.

Nämlich so:

Sarah Akanji konnte noch nie still sitzen. Schon immer hat sie Bewegung gesucht wie ein Faultier den Schlaf. Nachmittags, nach der Primarschule, spielt sie Tennis, rennt auf der Tartanbahn, tanzt Hip-Hop und Jazz, turnt in der Mädchenriege. Ihre Liebe aber ist der Fussball. Mit zehn tritt sie dem FC Wiesendangen bei, als einziges Mädchen.

Zuerst ist das kein Problem. Doch dann beginnt die Pubertät. Im Dorf fragen die anderen Mädchen, warum sie wie ein Mann gehe, so breitbeinig, so ohne Eleganz. Sie schämt sich. Bald achtet sie darauf, dass sie konzentriert einen Fuss vor den anderen setzt, wenn die anderen gucken. Wie Heidi Klum.

Auch auf dem Fussballplatz ändern sich Ton und Umgang: Die Löwen stürzen sich auf das vermeintlich schwächste Gnu. «Du hast hier nichts verloren», raunen die Stürmer im Strafraum, oder: Sie gehöre an den Herd, nicht auf den Platz. Foulen sie mit Vorsatz, steigen ihr mit den Stollen auf die Füsse, rammen ihr den Ellenbogen ins Zwerchfell. Gerade so hart, dass sie sich vor Schmerzen krümmt, aber der Schiri vom Foul nichts mitkriegt.

Doch es gibt etwas, das noch demütigender ist: wenn die Gegner Zweikämpfen aus dem Weg gehen. Den Ball an ein Mädchen verlieren? Was für eine Blamage. Da spielen sie lieber einen Pass oder weichen zurück. Man könnte sie ja verletzen.

Sarah gründet ihr Team

Als sie fünfzehn ist, fragt sich Sarah Akanji mit jedem Tag mehr: Wieso zum Teufel sind Frauen im Fussball eigentlich weniger wert als Männer?

Inzwischen spielt sie im Juniorinnenteam des FC Wiesendangen und fühlt sich unterfordert. Akanji ist gut. Stammspielerin in der Verteidigung. Wie gern würde sie in einem Spitzenklub trainieren. Dafür müsste sie aber täglich zwei Stunden Zug fahren. Neben dem Gymnasium liegt das nicht drin. Also nimmt sie eines Tages ihren ganzen Mut zusammen, stellt sich Andreas Mösli, dem Geschäftsführer des nahen Spitzenklubs FC Winterthur, in den Weg und fragt: «Wann weitet ihr euer Angebot endlich auch auf Mädchen aus? Wieso werden bei euch nur die Jungs gefördert?»

Aufgestiegen: Nächstes Jahr spielen die Frauen des FC Winterthur in der 1. Liga.

Drei Tage lang hat sie sich auf diesen Moment vorbereitet und in Gedanken immer wieder diese beiden Fragen durchgespielt. Drei Spieler aus dem aktuellen Kader der Nationalmannschaft wurden damals in Winterthur ausgebildet, darunter auch Akanjis Bruder. Der FC Winterthur gilt als Talentschmiede, der Geschäftsführer nennt das Stadion gern das «grösste Jugendhaus der Region». Höflich schaut er sie an, diplomatisch antwortet er: Es tue ihm leid, aber es gebe keine Kapazitäten. Wobei, er verstehe ihren Wunsch. Er wolle das ansprechen. Er melde sich bei ihr.

Akanji erinnert sich, wie glücklich sie damals ist. Überrascht von ihrem Mut, stolz, die Initiative ergriffen zu haben. Und wartet auf den Anruf. Und wartet. Eine Woche lang, einen Monat lang, ein Jahr. Und hört nichts.

Sieben Jahre dauert es, bis sie wieder auf den Geschäftsführer des FC Winterthur trifft. Dieses Mal vor grossem Publikum. Sarah Akanji ist inzwischen 22 Jahre alt. Soeben hat ihr Bruder für viel Geld zum Serienmeister FC Basel gewechselt.

Als eine andere Fussballerin in der Zeitung behauptet, der Frauenfussball würde in der Region Winterthur angemessen gefördert, platzt ihr der Kragen. Sie schreibt dem «Landboten» einen wütenden Leserbrief; ein Reporter bittet sie zum Interview. «Eine Fussballerin spricht Klartext» lautet der Titel.

«Ich verstehe nicht, warum man in den Männerfussball so viel und in den Frauenfussball fast gar nichts investiert», macht sich Sarah Akanji Luft. «Mein Bruder wurde im Lauf seiner Karriere ständig unterstützt. Das fing damit an, dass ihn ein Scout entdeckte. Als Frau muss man sein Talent selber erkennen, und es ist schwierig, einen konstanten Weg zu gehen. Mit den Talenten in Winterthur und Umgebung müsste es möglich sein, mindestens ein Nati-B-Team aufzustellen.»

Endlich antwortet der Geschäftsführer des FC Winterthur. Auch er gibt dem «Landboten» ein Interview. Es erscheint wenige Tage später. «Ich hätte gern Frauenfussball auf der Schützi», sagt er, doch «es fehlen Garderoben, Duschen und WCs». Und er rechnet vor: «Mit einem Budget von vier Millionen Franken jährlich noch einige hunderttausend für den Frauenspitzenfussball aufzubringen, sprengt unsere Möglichkeiten.»

Wenig später meldet sich Sarah Akanji bei ihm. Sie sagt: «Wir brauchen einen Ball, einen Platz und eine Garderobe. Den Rest organisiere ich.»

Und das ist der Beginn des Frauenfussballs beim FC Winterthur, im Juni 2016.

Sarah steigt auf

Zwei Jahre später, ebenfalls im Juni, ein Café nicht weit vom Stadion. Akanji ist pünktlich. Sie trägt Jeans und T-Shirt, hat die langen, dunklen Locken streng nach hinten gebunden. Sie ist 25 Jahre alt und 1,74 Meter gross, hat die stolzen Schultern einer Tänzerin. Nicht nur ihre Mutter sagt, sie spiele wie ihr Bruder: ruhig am Ball, standhaft wie ein Boxer, rasant im Vorstoss. Sie lacht viel, auch dann noch, wenn ihr Team 0:3 im Rückstand liegt. Sie ist schon lange nicht mehr das Gnu, sondern eine Löwin: studiert Geschichte und Politik, kämpft dafür, dass es im Fussball gerechter zugeht. Dass nicht nur junge Spieler früh gefördert werden, sondern auch die Spielerinnen.

Sie strahlt aus kleinen Augen. Sie ist müde von der langen Feier und reibt sich immer wieder das Knie. Es sticht bei jeden Schritt. Am Vortag hat ihre Mannschaft mit 3:2 gegen den FC Wädenswil gewonnen und ist damit aufgestiegen. In der kommenden Saison spielt das Frauenteam des FC Winterthur in der 1. Liga, der dritthöchsten Spielklasse der Schweiz. Das Ziel, die Nationalliga B, kommt näher.

250 Leute schauten zu. Sarah hat gespielt und jede Minute auf die Uhr geschaut, denn die Schmerzen waren unerträglich. Heute hat ihr der Sportarzt diagnostiziert, dass der Wadenknochenkopf versteift sei.

Warum sind Sie trotzdem aufgelaufen, Frau Akanji?
Als Kapitänin führe ich das Team an. Die Innenverteidigung erfordert Konstanz. Ich wollte trotz Schmerzen unbedingt spielen und musste die Zähne zusammenbeissen.

Haben Sie das Gefühl, Ihre Fussballkarriere wäre anders verlaufen, wenn Sie als Mann geboren worden wären?
Ich hätte mehr Selbstvertrauen und Optionen gehabt. Ich hätte früher daran geglaubt, dass ich ein Profi werden kann. Man hätte mir mehr zugetraut.

Ihr Bruder spielt heute bei Borussia Dortmund, hat einen Marktwert von 24 Millionen Franken. Waren Sie jemals eifersüchtig auf den Erfolg Ihres Bruders?
Nein. Ich bin kein eifersüchtiger Mensch. Ich gönne ihm seinen Erfolg von ganzem Herzen. Es geht nicht darum, dass ich anderen etwas nicht gönnen mag. Ich will, dass Fussballerinnen dieselben Startmöglichkeiten wie Fussballer haben.

Eng verbunden: Sarah Akanji und ihr Bruder Manuel nach dem Aufstiegsspiel.

Wenn man von Ihnen liest, dann meist im Zusammenhang mit Ihrem Bruder. Stört Sie das?
Nein. Ich finde es toll, dass ich ihn auch in der Öffentlichkeit unterstützen darf. Und es ist eine Chance, den Frauenfussball zu bewerben.

Warum zieren sich die Vereine bei der Frauenförderung?
Es ist nicht die Norm. Fussball ist Männersache. Und dann gibt es am Rande noch den Frauenfussball. Ich glaube, die Leute müssen sich noch daran gewöhnen, auf gutem Niveau Fussball spielen zu können und gefördert werden zu wollen. Die Entwicklung verläuft aber gut: Es gibt heute viel mehr Juniorinnen als vor fünfzehn Jahren. Unser Team beim FC Winterthur ist akzeptiert, unsere Spiele sind mittlerweile sehr gut besucht, und der Verein unterstützt uns. Ohne das vorbildliche Engagement des FC Winterthur und der Geschäftsführung gäbe es unser Team nicht.

Schon ihre Eltern brannten für den Sport. Akanjis Mutter machte eine Lehre bei der Schweizerischen Post, reiste in den 1980er-Jahren durch die USA, um ihr Englisch zu verbessern, und verliebte sich an der Ostküste in einen jungen Nigerianer, der in Boston Wirtschaft studierte. Zwei Jahre später kam er in die Schweiz und begann hier als Finanzfachmann. Die Mutter spielt Volleyball, der Vater Fussball, zusammen spielen sie Tennis.

Haben Sie mit Ihrem Vater in seiner Muttersprache geredet?
Auf Yoruba? Nein. Er hat gesagt, man könne seine Sprache nicht einfach sprechen, man müsse sie leben. Und das gehe in der Schweiz nicht.

Was ist Ihre Heimat?
Wiesendangen, Winterthur. Hier bin ich aufgewachsen.

Nigeria?
Das ist das Herkunftsland meines Vaters. Ich war mehrere Male in den Ferien in Nigeria und habe kaum einen Bezug, weil ich nie in Nigeria gelebt habe. Ich fühlte mich eher wie eine Touristin.

Stört es Sie, wenn man Sie fragt, woher Sie kommen?
Mich stört die Nachfrage. Viele haken nach, wenn ich sage, dass ich Schweizerin bin. Sie fragen dann jeweils: «Nein, woher kommst du denn richtig?» Das ist sehr verletzend, weil mir das Gefühl gegeben wird, dass ich nicht dazugehöre.

Sarah will mehr

Mit etwas mehr Glück hätte es vielleicht auch Sarah Akanji trotz allen Widerständen und der verpassten fussballerischen Förderung nach ganz oben geschafft. Eine Saison spielte sie in der Nati A, beim Verein St. Gallen. Doch dann beerdigen zwei Hüftoperationen und ein Kreuzbandriss ihren Traum vom Spitzenfussball. Ihre Wendigkeit bleibt auf dem Operationstisch zurück.

Sie schaltet einen Gang zurück – und beginnt in Zürich Politik und Geschichte zu studieren. Ihre Bachelorarbeit schreibt sie über deutsche Kolonialherrinnen in Afrika. In jenen Jahren fällt ihr auf, dass Frauenfussball viel mit Politik zu tun hat – und damit, wie es um die Gleichberechtigung steht. «Seit Jahrhunderten wurden Frauen in den Schatten verbannt», sagt sie. «Männer schrieben Geschichte. In der Politik, in der Kultur – und im Fussball. Herausragende Leistungen von Frauen wurden viel weniger beachtet als die von Männern.»

Spielt bald in der 1. Liga: Sarah Akanji zehn Minuten nach dem Spiel.

Na klar, sagt sie, sei Männerfussball schneller und dynamischer. Aber darum gehe es nicht. Im Fussball zähle schon lange nicht mehr nur die Körperstärke. Das gute, moderne Spiel beginne im Kopf. Zwei der besten Spieler der Welt, Lionel Messi und Neymar, beide gleich gross wie Sarah Akanji, spielen mit Intelligenz, Technik und Feingefühl. Nicht mit der Körpermasse, nicht mit Kraft.

Sarah Akanji sagt, es gehe eher darum, zu fragen, warum Fussballspielerinnen taktisch und technisch weniger stark sind als die Männer.

Sie glaubt, die Antwort zu kennen: Weil Mädchen nicht früh genug, nicht sorgfältig genug trainiert werden.

Das will sie ändern.

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