Am Gericht

Was ist eine Vergewaltigung?

Ein junger Mann verbringt mit einer Arbeitskollegin einen lauschigen Sommerabend am See. Die Nacht endet in der Wohnung des Mannes, beide sind betrunken, sie kotzt, er zieht sie aus und will Sex. Vor Gericht gibt er zu, ihr Vertrauen missbraucht zu haben – aber war es eine Vergewaltigung?

Von Brigitte Hürlimann, 06.06.2018

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Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 26. April 2018, 8.30 Uhr
Fall-Nr.: DG180028
Thema: Vergewaltigung

Es ist ein Traumschwiegersohn, der vor den Schranken steht. Nett und adrett gekleidet, beige Chinos, kariertes Hemd, Kurzhaarschnitt, unglaublich schüchtern und sehr, sehr nervös. Man möchte ihm spontan den Arm um die Schultern legen, ihn beruhigen, ihm gut zureden, ihm sagen, es komme schon gut. Stellt der Gerichtspräsident eine bohrende Frage, reisst er die Augen angstvoll auf, wie ein erschrockenes Reh. Es geht um viel. Um sehr viel.

Doch nach einem Blick in die Anklageschrift und vor allem nach der richterlichen Befragung verfliegt das Bedürfnis, den jungen Mann zu trösten. Der Tiefpunkt an diesem Strafprozess vor dem Bezirksgericht Zürich ist erreicht, als der 24-Jährige gefragt wird, was seiner Meinung nach eine Vergewaltigung sei.

Was, zum Teufel, ist eine Vergewaltigung?

Die Frage, so banal sie klingen mag, könnte wohl der grösste Teil der hiesigen Bevölkerung nicht korrekt beantworten. Stand heute werden ausschliesslich Frauen Opfer einer Vergewaltigung, Männer nicht. Denn nur «wer eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt», macht sich einer Vergewaltigung schuldig. «Beischlaf» heisst: vaginale Penetration, also, das Geschlechtsteil des Mannes dringt in das Geschlechtsteil der Frau ein. Weitere sexuelle Handlungen, und seien sie noch so grausam, erniedrigend und demütigend, fallen nicht darunter (sondern erfüllen andere Delikte). Das soll sich allerdings in Kürze ändern; dem Gesetzgeber wird beantragt, die Vergewaltigung künftig geschlechtsneutral zu formulieren, das Beischlafzeugs zu streichen. Der Bundesrat ist gewillt, dies zu tun, mit grossem Widerstand ist nicht zu rechnen.

Ein Blick zurück in die Geschichte des schweizerischen Sexualstrafrechts und des Eherechts zeigt, wie jung die Erkenntnis ist, dass auch Frauen über ein sexuelles Selbstbestimmungsrecht verfügen – ob sie nun verheiratet sind oder nicht, für den Sex Geld entgegennehmen oder nicht, mehrere Sexualpartner haben oder bloss einen oder eine. Zur Erinnerung: Noch bis zur grossen Sexualstrafrechtsreform von 1992 war im Schweizer Strafrecht von Unzucht und Notzucht die Rede. Mit Verlaub: Wer züchtet da wen, warum und in welcher Not? Vergewaltigung in der Ehe war bis 1992 nicht verboten und wurde danach bloss als Antragsdelikt geregelt. Heute gibt es keinen Sondertatbestand mehr für sexuelle Gewalt innerhalb einer Beziehung, aber eben: Das ist noch nicht so lange her. Und alle, die sich mit der Materie befassen, wissen genau, dass die meisten Sexualdelikte innerhalb von Beziehungen passieren: in der Ehe, in der Partnerschaft, im Verwandtenkreis, unter Kollegen. Der unbekannte Täter, der hinter einem Busch oder in einer menschenleeren Strasse einem weiblichen Opfer auflauert, stellt die grosse Ausnahme dar. Vor ihm müssen sich die Frauen viel weniger fürchten als vor dem Ehemann, Freund, Arbeitskollegen, Chef, Nachbarn, Onkel oder Cousin.

Im Gerichtssaal versucht der verängstigte junge Mann nun redlich, dem dreiköpfigen Richtergremium zu erklären, was eine Vergewaltigung ist. Was er seiner Arbeitskollegin angetan hat, fällt seiner Meinung nach nicht darunter, da er «nicht gekommen» sei. Vergewaltigung, sagt der 24-Jährige, liege dann vor, wenn der Mann «abspritzt». Und wenn die Frau dann schwanger werde, müsse man sich halt um das Kind kümmern. Doch einmal abgesehen von solch abstrusen Ideen, gibt der Mann immerhin zu, er habe sich der Kollegin gegenüber unkorrekt verhalten; er habe einen Fehler gemacht, ihr Vertrauen ausgenützt.

Es ist ein in mancher Hinsicht ungewöhnlicher Vergewaltigungsfall. Gerichtspräsident Alain Kessler sagt am Rande des Prozesses, es wäre das erste Mal in seiner langen Richterkarriere gewesen, dass er über einen geständigen Vergewaltiger hätte urteilen können. Tatsächlich hat alles darauf hingewiesen, dass der junge Sri Lanker seine Schandtat ohne Wenn und Aber gesteht. Er hat dies in der Untersuchung mehrfach geäussert, hat sich beim Opfer entschuldigt, hat die Anklageschrift anerkannt.

Bei der Befragung vor Gericht bestätigt er zum wiederholten Male, die Vorwürfe träfen zu, es stimme, was die Arbeitskollegin sage. Allerdings: Er sei sturzbetrunken gewesen, ein anderer Mensch, sonst wäre dies niemals passiert. Auch Staatsanwalt Markus Fasano geht von einem geständigen Täter aus, sein Plädoyer dauert nicht viel länger als fünf Minuten, zum Sachverhalt sagt er gar nichts, nur zur rechtlichen Würdigung und zum Strafmass.

Geschädigtenvertreterin Brigitta Sonnenmoser ist da schon ein bisschen vorsichtiger und schildert das Geschehen nochmals, erwähnt die gravierenden Folgen für die junge Frau, die wohl für ihr Leben gezeichnet sei. Sie verlangt eine Genugtuung von 18’000 Franken für ihre Mandantin.

Dann folgt das Plädoyer von Verteidigerin Manuela Vock und damit die grosse Überraschung: Sie fordert einen Freispruch, was die Vergewaltigungsvorwürfe betrifft. Ihr Mandant, sagt die Verteidigerin, habe sich nicht gentlemanlike verhalten. Beide seien betrunken gewesen. Als die Frau geschrien habe, habe er sofort aufgehört. Es sei unklar, ob sie schon vorher signalisiert habe, dass sie den Sex nicht wolle. Eine unschöne Sache. Aber nicht strafbar.

Die beiden jungen Leute kennen sich vom Arbeitsplatz, sie sind seit längerem befreundet, die Frau hat schon mehrmals beim Arbeitskollegen übernachtet, zu Sex kam es bis zur besagten Nacht nie. Das sei natürlich kein Freipass für den Mann, sagt Verteidigerin Vock, aber es sei auch nicht verboten, dass er sich Hoffnungen mache. Es ist eine laue Sommernacht, die beiden hängen am See auf einer Wiese, trinken viel zu viel Whisky, kehren zum Mann in die Wohnung zurück. Dort wird es der Frau kotzübel, sie muss sich übergeben, der Mann reicht ihr Tücher, wischt ihr den Mund ab – und beginnt sie auszuziehen. Er versucht sie zunächst zu Oralverkehr zu drängen, das gelingt nicht, weil sie die Tücher vor den Mund hält, also dringt er vaginal in sie ein, ungeschützt, ohne Kondom. Sie weint, bittet ihn, aufzuhören, versucht ihn wegzudrücken, sie rutscht vom Sofa, er richtet sie wieder auf, penetriert von neuem. Als sie ihn erneut anfleht, aufzuhören, lässt er von ihr ab.

Es stehe Aussage gegen Aussage, sagt Verteidigerin Manuela Vock. Das ist fast immer so bei Sexualdelikten. Eine schwierige Ausgangslage für die Gerichte.

Die vierte Abteilung des Bezirksgerichts Zürich spricht den 24-Jährigen der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung schuldig – schuldig auch zweier weiterer Bagatelldelikte, die am Prozess nicht viel zu reden geben. Der junge Sri Lanker wird zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zu einer geringen bedingten Geldstrafe verurteilt, bei einer Probezeit von zwei Jahren. Dem Opfer hat er eine Genugtuung von 12’000 Franken zu bezahlen. Er ist ein Ersttäter, hat sich bisher tadellos verhalten. Eine Landesverweisung ist an diesem Prozess kein Thema, weil die Vergewaltigung geschah, bevor die neue Strafnorm in Kraft trat. Klar ist allerdings, dass die Migrationsbehörde vom Schuldspruch erfahren wird – höchst unklar deshalb, ob der Mann, der mit 16 Jahren in die Schweiz kam, hier eine Lehre absolvierte und immer arbeitstätig war, bleiben darf. Der Sri Lanker verfügt über die Aufenthaltsbewilligung B, die jedes Jahr erneuert werden muss. Auch darum: Es geht um sehr viel.

Das Richtergremium erachtet die Aussagen der jungen Frau als glaubhaft. Und eben: Der Mann habe sich ja auch am Prozess noch so halbwegs geständig gezeigt. Bestritten werde die Vergewaltigung nur von der Verteidigung. Anders als bei so manchen Sexualdelikten konnten bei diesem Fall sogar noch Spuren gesichert werden. Das Opfer war nach den Übergriffen nach Hause gekehrt und hatte einer Kollegin von den Vorfällen berichtet. Diese reagierte sofort, riet der Betroffenen, sich ja nicht zu duschen, die Kleider nicht zu waschen, und schickte sie zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. «Nur deshalb war die ganze Spurensicherung möglich», sagt Rechtsanwältin Brigitta Sonnenmoser, die seit über 20 Jahren vorwiegend als Geschädigtenvertreterin arbeitet. Die Zürcher Rechtsanwältin kennt das Beweisdilemma bestens – und sie weiss, dass vor allem bei Übergriffen in Partnerschaften die Opfer oft sehr lange zögern, bis sie sich zu einer Anzeige aufraffen. Geschieht dies erst Monate oder gar Jahre später, sind keine Spuren mehr vorhanden, und die Gerichte können nur noch auf die Aussagen der beiden Beteiligten abstellen.

In dieser Situation, sagt Sonnenmoser, stünden die Chancen oft weniger als 50 Prozent, dass ein Täter verurteilt werde: nicht zuletzt wegen der Regel, dass Beschuldigte im Zweifelsfall freigesprochen werden – in dubio pro reo. «Je länger und näher sich Täter und Opfer kennen», sagt die Anwältin, «desto schambehafteter ist das Ganze. Man muss von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Und auch jene Frauen, die sich an eine Opferhilfestelle wenden, reichen nicht immer eine Strafanzeige ein. Es braucht viel Stabilität, um ein Strafverfahren durchzustehen.»

Bis heute zweifeln die meisten Frauen an sich selbst, wenn sie Opfer von sexuellen Übergriffen werden. Haben sie sich falsch verhalten, die falschen Kleider getragen, hätten sie diese Gegend meiden sollen, waren sie zu naiv, hätten sie nicht trinken, dem Mann nicht vertrauen dürfen? Haben sie zu wenig deutlich Nein gesagt, zu wenig Widerstand geleistet? Solche Fragen muss sich gefallen lassen, wer es wagt, einen sexuellen Übergriff anzuzeigen. Und in aller Regel behauptet der Täter halt, es habe sich um einvernehmlichen Sex gehandelt. Selten nimmt einer so viel Schuld auf sich wie der mehr oder minder geständige Sri Lanker, der nun um sein Aufenthaltsrecht bangen muss. Er hat das Urteil des Bezirksgerichts Zürich übrigens anerkannt, der Entscheid ist rechtskräftig geworden.

Illustration Friederike Hantel

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