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Über Lüge und Beischlaf, zweiter Teil

Der Bundesrat versucht, die Strafnormen rund um Sexualdelikte zu reformieren – und schafft dabei etwas vom Wichtigsten ab, was einen Rechtsstaat auszeichnet: klar definierte Begriffe.

Von Marcel Alexander Niggli, 06.06.2018

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Der erste Teil dieses Beitrages hat sich mit den allgemeinen Unstimmigkeiten der Totalrevision des Besonderen Teiles des Strafgesetzbuches beschäftigt (irreführend Harmonisierung der Strafrahmen genannt). Dieser zweite Teil soll ebendiese nun an einem konkreten Beispiel verdeutlichen.

Eines reicht, weil praktisch jede vorgeschlagene Änderung schlecht begründet und schludrig ausgeführt ist. So wird etwa bei der fahrlässigen Tötung (Art. 117) das «Bedürfnis nach höheren Strafen für Raserinnen und Raser» angesprochen. Der Hinweis sei erlaubt, dass diese Orientierung auf den Täter («Raser») und nicht auf die Tat («Mensch, der exzessiv schnell fährt») aus dem nationalsozialistischen Strafrecht stammt.

Der Täter ist nicht seine Tat, auch wenn er sie begangen hat. Ihn mit seiner Tat zu identifizieren, ist eines liberalen Rechtsstaates unwürdig. Zudem verursacht es begriffliche Probleme: Denn wann hört ein «Raser» auf, einer zu sein? Nach vollzogener Strafe? Ist er dann nicht weiterhin ein «Raser», einfach ein bestrafter?

Nun aber zum konkreten Beispiel, dem wir uns etwas ausführlicher widmen wollen: den Sexualdelikten.

Wenn die Botschaft ausführt, «aus kriminalpolitischen und generalpräventiven Gründen [solle] keine Geldstrafe mehr ausgesprochen werden können», dann lassen wir mal offen, was «kriminalpolitisch» genau bedeutet (mein Eindruck ist, dass es nur eine andere Formulierung für «Ich will» ist). Höchstes Erstaunen aber wecken die «generalpräventiven» Gründe.

Träfe tatsächlich zu, dass die Geldstrafe zu wenig abschreckend wirkt, so würde das doch auch bedeuten, dass ihre Einführung 2007 die Abschreckung verringert und damit die Kriminalität gefördert hat. Ist das die Meinung des Bundesrates? Und sofern ja, warum hat er sie dann überhaupt eingeführt?

Aber vielleicht hat er das vor zehn Jahren ja anders gesehen und an die Präventivwirkung geglaubt, nun aber seine Meinung geändert. Dann müsste es dafür doch Gründe geben. Trifft es denn zu, dass die Kriminalität seit der Einführung der Geldstrafe zugenommen hat?

Nimmt der Bundesrat an, wir bemerkten das nicht?

Den Angaben des Bundesamtes für Statistik zufolge ist genau das Gegenteil der Fall: Sie hat deutlich abgenommen. Und zwar bei den Delikten nach Strafgesetzbuch insgesamt (von rund 550’000 polizeilich registrierten Straftaten 2009 auf 440’000 letztes Jahr) wie auch bei sexuellen Handlungen mit Kindern (Art. 187), die als Beispiel angeführten werden. Sie sind von 1526 polizeilich registrierten Fällen im Jahr 2009 auf 1054 im Jahr 2017 zurückgegangen. Analoges gilt bei der Vergewaltigung (Rückgang von 666 auf 619), die weder früher noch heute die Geldstrafe kennt.

Wollte man also mit dem Bundesrat auf die Präventivwirkung einer Strafe abstellen, so müsste man allenfalls zum gegenteiligen Schluss kommen, dass nämlich die Geldstrafe präventiv sehr gut wirkt. Wir wollen das ausdrücklich nicht tun, weil eine präventive Wirkung von Strafart oder Strafmass nicht nachweisbar ist. Wer sich aber darauf beruft, sollte erkennen, dass sich zumindest eine Strafschärfung damit nicht begründen lässt, sondern höchstens das Gegenteil davon.

Nimmt der Bundesrat an, wir bemerkten das nicht, oder ist es ihm einfach egal? Das Schöne (aber politisch Gefährliche) an der Prävention ist eben, dass sie überprüfbar ist.

Was ist eine Vergewaltigung?

Nun aber zur Vergewaltigung: Richtig ist, dass nach geltendem Recht nur Frauen vergewaltigt werden können, weil der Gesetzestext das ausdrücklich so bestimmt («wer eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt»). Das lässt sich einfach ändern, ohne die Tathandlung vom «Beischlaf» auf die «beischlafsähnlichen Handlungen» zu erweitern. Die Tathandlung ist es, was Vergewaltigung (Art. 190) von sexueller Nötigung (Art. 189) unterscheidet – nicht das Geschlecht von Täter oder Opfer.

Vergewaltigung erfasst den «Beischlaf», das heisst nur denjenigen Sexualkontakt, der eine Schwangerschaft auslösen kann, also nur Vaginalpenetration durch das männliche Geschlechtsteil. Jede andere Penetration, auch der Vagina, ist nicht Beischlaf, sondern «beischlafsähnliche Handlung», die von Art. 189 erfasst wird. Ist das Ziel eine geschlechtsneutrale Formulierung des Tatbestandes der Vergewaltigung, so reicht es aus, den Passus «weiblichen Geschlechts» zu streichen.

Die Zwillingsnorm (Art. 189: sexuelle Nötigung) ist bereits geschlechtsneutral formuliert. An der Geschlechtsneutralität kann es also nicht liegen, wenn die Vergewaltigung erweitert werden soll. Wenn also, mit vielen Verweisen auf das internationale Recht, die geschlechtsneutrale Formulierung als Begründung der Änderungsvorschläge angeführt wird, ist das irreführend. Mit der Streichung des Passus «weiblichen Geschlechts» nämlich werden alle internationalen Verpflichtungen erfüllt. Damit wird zudem auch das erklärte Ziel erreicht, dass eine Vergewaltigung auch an «Männern, Homo- und Bisexuellen wie auch Transgendern» begangen werden kann.

Dass der Bundesrat weiter geht und den «Beischlaf» durch die «beischlafsähnlichen Handlungen» ergänzen will, lässt sich nur mit Sexismus erklären. Ohne den Passus «weiblichen Geschlechts» nämlich können – wie gerade erwähnt – auch Männer, seien sie nun homo-, bi- oder heterosexuell, Opfer einer Vergewaltigung werden. Allerdings nur begangen von Frauen, denn «Beischlaf» setzt immer voraus, dass auch eine Vagina involviert ist.

Offenbar geht der Bundesrat aber davon aus, dass diejenige Person mit der Vagina in keinem Fall Täter sein kann, sonst würde ja eine geschlechtsneutrale Formulierung ausreichen (Frauen können Männer und Männer können Frauen vergewaltigen). Reicht das nicht aus, so muss es an der Annahme liegen, eine Frau könne einen Mann nicht vergewaltigen, also keinen Beischlaf gegen seinen Willen erzwingen. Das genau ist, was das Strafgesetz bereits 1942 unterstellte, weshalb es die Vergewaltigung (den erzwungenen Beischlaf) auf Frauen als Opfer beschränkte.

Die Vorstellungswelt des Bundesrates scheint sich seither nicht wirklich entwickelt zu haben. Dass niemand vergewaltigt werden könne, wenn er es partout nicht will, ist eine Legende, die ebenso falsch ist bei Frauen (wo sie als sexistisch erkannt wird) wie bei Männern (wo das offenbar nicht der Fall ist, obwohl das Dunkelfeld hier viel grösser ist als bei den weiblichen Opfern). Kurz: Wird der Passus «weiblichen Geschlechts» gestrichen, ist das Sexualstrafrecht geschlechtsneutral. Die übrigen Änderungsvorschläge haben damit schlicht nichts zu tun.

Der Bundesrat will aber mehr als Geschlechtsneutralität. Was genau, lässt sich nur erahnen. Vielleicht sind es die Genfer Vorstellungen (2013 Interpellation Hiltpold, 2014 Standesinitiative Kanton Genf und einen Monat später erneut Hiltpold mit einer Motion), die zitiert werden und nach welchen das Trauma eines Opfers rechtlich nicht anerkannt werde, wenn es nicht «Opfer einer Vergewaltigung» genannt werde. Das natürlich ist hanebüchen und derart frei von Sachkenntnis, dass einem der Atem stockt.

Wird denn bei einer Schändung (Art. 191), das heisst dort, wo der Widerstand des Opfers nicht gebrochen wird, weil es bereits widerstandsunfähig ist, den Opfern ebenfalls die rechtliche Anerkennung ihres Traumas verweigert, nur weil sie nicht Opfer einer Vergewaltigung, sondern einer Schändung wurden? Das kann nicht ernst gemeint sein. Vielleicht aber sind es auch die eigenen verquasten Vorstellungen von Sexualität. Der Bundesrat nämlich nennt tatsächlich «anale oder orale Penetrationen oder sadistische Handlungen» in einem Atemzug, ganz so, als ob Oral- und Analsex sadistische Praktiken wären. Aber lassen wir das.

Neu sollen also neben dem Beischlaf auch die beischlafsähnlichen Handlungen Vergewaltigung heissen, was unweigerlich zu einem Chaos führen muss. Das zeigt sich bereits darin, dass Art. 189 (sexuelle Nötigung) zukünftig nur noch von «sexueller Handlung» sprechen wird (zuvor: beischlafsähnliche oder andere sexuelle Handlung). Gegenwärtig ist klar, dass Penetrationen zwar sexuelle Handlungen darstellen, aber gerade keine «anderen» sexuellen Handlungen. Werden sie zukünftig also von zwei Normen (der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung) erfasst?

Vielleicht hilft hier ein Hinweis auf den Ursprung der Unterscheidung von «Beischlaf» und «beischlafsähnlich» weiter. Der Unterschied rührt historisch daher, dass in einem armen Land, wie es die Schweiz damals war, vor allem ungewollte Schwangerschaften ein (ökonomisches) Problem darstellten. Der erzwungene Beischlaf wurde deshalb von allen anderen sexuellen Handlungen unterschieden und deutlich schwerer bestraft (Strafmass wie bei einer Tötung).

Es geht bei der Unterscheidung also nicht um eine spezifische Körperöffnung oder das Geschlecht, sondern um mögliche Schwangerschaften, und dabei – so viel wird auch der Kanton Genf zugestehen – ist das Risiko für Männer deutlich geringer.

Dass ökonomische Gründe entscheidend waren, zeigt sich ebenfalls am Inzest (Art. 213), also dem Sexualverkehr zwischen erwachsenen Blutsverwandten (Eltern, Kindern, Geschwistern). Der Verkehr mit Minderjährigen (verwandt oder nicht) ist ohnehin strafbar. Bei Erwachsenen aber wird nur der Beischlaf bestraft, also nur diejenige Variante des Sexualverkehrs, die zu genetisch problematischem Nachwuchs führen und die Gemeinde wirtschaftlich belasten könnte.

Die massgebliche Unterscheidung also ist diejenige zwischen Beischlaf und allen anderen sexuellen Handlungen. Die Kategorie der «beischlafsähnlichen Handlung» ist ein Sonderfall. Sie tauchte ursprünglich einzig bei sexuellen Handlungen mit Kindern auf und meint Penetrationen, die keine Schwangerschaft auslösen können. Das ist völlig einsichtig, weil bei Kindern ja das Kriterium der Schwangerschaft unangemessen wäre.

Zu erwähnen bleibt allerdings ein Sündenfall: Den Verkehr inter femora, also zwischen den Oberschenkeln des Opfers, hat die Praxis dummerweise als «beischlafsähnlich» gewertet, obwohl das natürlich keine Penetration darstellt und zur Frage führt, ob andere, künstlich gebildete Körperöffnungen (Hand, Oberarm) ebenfalls «beischlafsähnlich» penetriert werden können.

Wir können das aber offenlassen, weil der Gesetzesentwurf von «beischlafsähnlicher Handlung, insbesondere einer solchen, die mit dem Eindringen in den Körper verbunden ist», spricht. Interessanterweise wird das als Respekt vor dem Bestimmtheitsgebot (Art. 1) verkauft, obwohl es genau das Gegenteil davon darstellt. Der Bundesrat führt aus, auch das Einführen eines Fingers werde zukünftig erfasst und stelle eine Vergewaltigung dar (ganz analog zu Schweden, wo das «digital rape» heisst, aber mit Computern nichts zu tun hat, sondern von lat. «digitus» für Finger kommt). Dasselbe soll auch für das Stimulieren der Geschlechtsteile durch den Mund gelten, wo nichts penetriert wird. All das soll neu eine Variante der Vergewaltigung darstellen.

Man sieht, wo das hinführt: Bisher war die Abgrenzung von «beischlafsähnlicher» und «anderer sexueller Handlung» bei Handlungen, die keine Penetration darstellten, nicht so bedeutsam, weil die Strafbestimmung (Art. 189: sexuelle Nötigung) beide erfasst. Bei Penetrationen («beischlafsähnlich») gilt dasselbe Mindeststrafmass wie für Vergewaltigung. Für alle anderen sexuellen Handlungen kann die Strafe der Schwere des konkreten Falles angepasst werden. Zukünftig aber wird die Unterscheidung höchst bedeutsam, weil «beischlafsähnliche Handlungen» als Vergewaltigung zählen sollen und damit eine Mindestfreiheitsstrafe von zwei Jahren kennen. Dasselbe Problem wird sich neu auch bei der Schändung (Art. 191) ergeben.

Das Gesetz soll Strafbarkeit bestimmen, nicht die Gerichte

Rechtsbegriffe sollten so scharf definiert und klar als möglich sein. Das gilt ganz besonders dort, wo sie entscheidend sind für die Frage der Strafbarkeit. Soll tatsächlich ein derart unbestimmter Begriff wie die «beischlafsähnliche» Handlung (der nun noch verwässert werden soll) darüber entscheiden, ob eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren ausgefällt werden muss? Ein Begriff, von dem der Bundesrat zugibt, dass er unfähig ist, ihn selber zu definieren, weshalb er dies der Rechtsprechung «überlässt».

Krasser lässt sich das Bestimmtheitsgebot von Art. 1 StGB («Keine Sanktion ohne Gesetz») nicht missachten. Nicht das Gesetz soll bestimmen, was strafbar ist und wie es bestraft wird, sondern die Gerichte? Der Täter aber soll das vorher wissen?

Dabei gäbe es Auswege: Man könnte zum Beispiel (wie ursprünglich gedacht) als «beischlafsähnliche Handlungen» nur Penetrationen erfassen oder – noch einfacher – die Unterscheidung von «Beischlaf» und «beischlafsähnlich» überhaupt aufgeben, nur zwischen Penetrationen und anderen sexuellen Handlungen unterscheiden und als Vergewaltigung nur Penetrationen erfassen. Das hätte wenigstens die notwendige Logik.

Ist der Bundesrat tatsächlich der Meinung, dass eine Frau, die das Geschlechtsteil ihres Ehemannes stimuliert und nicht sofort damit aufhört, wenn der sagt, er wolle nicht, für mindestens zwei Jahre ins Gefängnis soll? Ist das wirklich die Meinung?

Der Bundesrat scheint sich der Probleme bewusst, nur dass sie ihn offenbar nicht kümmern. So gibt er zu, dass durch die «Erhöhung der Mindeststrafe das Ermessen der Gerichte stark eingeschränkt wird», verweist dann aber einfach auf die teilbedingte Strafe, durch welche das Gericht einen Teil seines Ermessens zurückerhalte, ganz so, als hätte es diese Möglichkeit nicht bereits heute.

Möglichst klare Begriffe sind die Basis jedes liberalen Rechtsstaats. Opfern wir sie zeitgeistiger Gefallsucht, werden wir es noch bitter bereuen. Denn wir alle werden den Preis dafür bezahlen.

Illustration Alex Solman

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