Alpenfaltung kompakt: Im World Nature Forum in Naters zeigt sich die Aletschregion übersichtlich. Weniger Übersicht herrschte bei den Einnahmen und Ausgaben.

Kapitalschmelze am Gletscherrand

Ein Besucherzentrum im Oberwallis sollte Zehntausende von Touristen anlocken. Sie blieben aus. Nun sitzt die Standortgemeinde auf einem leeren Museum. Doch statt die Übung abzubrechen, macht man weiter. Koste es, was es wolle – schliesslich will man profitieren.

Von Michael Rüegg (Text) und Mark Henley (Fotos), 29.05.2018

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Kapitalschmelze am Gletscherrand
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«Baue, und sie werden kommen», verspricht im 1989 erschienenen Hollywood-Streifen «Field of Dreams» eine rätselhafte Stimme im Kopf von Kevin Costner. Er spielt einen Farmer im ländlichen Iowa, der mitten im Nichts ein Baseballfeld erstellt. Man hält ihn für verrückt. Doch zum Schluss kommen sie tatsächlich, die Leute, in Scharen. Und wollen Baseball sehen.

Solche Stimmen müssen auch die Verantwortlichen der Walliser Gemeinde Naters vor ein paar Jahren in ihren Köpfen gehört haben. Sonst hätten sie sich kaum dazu hinreissen lassen, auf ihrem Boden ein «World Nature Forum» zu erstellen. Was wie eine Art Davoser Weltwirtschaftsforum für Naturfreundinnen klingt, ist in Wahrheit ein Besucherzentrum für Touristinnen in der Region Jungfrau-Aletsch.

Naters am Rand des Oberwalliser Zentrums Brig-Glis wollte seinen Anteil am regionalen Tourismuskuchen haben. Dieser Kuchen, das 824 Quadratkilometer grosse Gebiet der Berner Oberländer und Walliser Alpen rund um Eiger, Mönch, Jungfrau und Aletschgletscher, war erst Anfang des neuen Jahrtausends verziert worden: mit dem Gütesiegel der Unesco, als Weltnaturerbe. Damit war das Aletschgebiet aufgestiegen. Es spielte nun in der Liga von Grand Canyon, Great Barrier Reef und den Osterinseln. Zumindest auf dem Papier. Auf der Berner Seite drüben pilgern schliesslich auch Massen von Touristinnen aufs Jungfraujoch.

Beflügelt von der nun erwarteten eigenen Berühmtheit, strebte man in Naters einen Erfolg versprechenden Handel an: Die Versicherungsgesellschaft Axa erhielt eine attraktive Parzelle im Baurecht. Dafür musste die Axa nicht nur Wohnbauten, sondern auch ein Gebäude für das World Nature Forum erstellen. Diesen Klotz würde die eigens fürs Forum gegründete Aktiengesellschaft mieten, zum Preis von – gemessen am örtlichen Preisniveau stolzen – 717’000 Franken pro Jahr, frühestens kündbar per 1. Dezember 2035.

Zwölf Millionen steckte die Axa in den Bau. Knapp sechs Prozent Rendite hätte sie damit erzielt. Hätte – denn es kam anders.

An die Urversammlung sind sie gekommen

Zwischen dem Rotten – wie das Oberwallis die Rhone nennt – und einer brüchigen Felswand liegt Naters. Seit 2016 die zehntausendste Einwohnerin hierhergezogen ist, fühlt es sich als Stadt. Wie das bekanntere Brig nebenan.

Vergangenen Mittwochabend versammelten sich fast 400 Natischerinnen und Natischer im holzgetäfelten Saal des Zentrums Missione, des örtlichen Mehrzwecksgebäudes. Der Gemeinderat rief zur Urversammlung, wie Gemeindeversammlungen im Wallis heissen.

So zahlreich waren die Stimmberechtigten erschienen, dass der Imbiss zum Apéro nach der Versammlung nicht reichte (der Wein hingegen schon). Eine enorme Fraktion von Dorfältesten, ein paar Frauen, eine Handvoll Junge. Helferinnen fügten emsig Stuhlreihe um Stuhlreihe an, um dem nicht enden wollenden Bürgerstrom Sitzgelegenheiten zu bieten.

Man duzt sich hier. Und man weiss an Urversammlungen im Vorfeld, wer in etwa was sagen wird. Sie bringen sich jeweils in Stellung, die Bewahrer, die Kritikerinnen, die mit den vorbestellten Voten. Vorne nahm, in einer Reihe, der Gemeinderat Platz. Bürgerliche Herren mit ernster Miene, die meisten krawattiert. Links aussen der einzige SP-Mann.

Es war nicht die traktandierte Gemeinderechnung, die das Stimmvolk anlockte. Sondern der Sanierungsplan des World Nature Forum. Denn längst bröckelt nicht nur die Felswand am Ortsrand, wo eine Steinschlagverbauung das Dorf schützt. Auch das einstige Vorzeigeobjekt hat Risse bekommen. Nicht entlang der Fassade, sondern in der Bilanz der Aktiengesellschaft, die es betreibt.

Es wäre so schön gewesen

Vor anderthalb Jahren war die Welt in Naters noch eine andere. Im September 2016 eröffnete eine strahlende Bundesrätin Doris Leuthard feierlich «das modernste Museum der Alpen». Als «Base-Camp» des Aletschgebiets war das Forum gedacht. Hierher würden sie kommen, die Touristen. Sich informieren, die Ziele für ihre Ausflüge entdecken. Und im Anschluss gleich die Bergbahntickets kaufen und ausschwärmen.

Die Magistratin war davon dermassen angetan, dass sie ein halbes Jahr später, im Mai 2017, gleich wieder in Naters einfuhr. Diesmal mit einem Tross ausländischer Botschafter, zum traditionellen Kulturausflug des Berner diplomatischen Corps. Unter grossem Polizeiaufgebot liess die Bundespräsidentin noch einmal Gletscherfloh und Alpenfaltung erklären.

Die bundesrätliche Begeisterung vermochte jedoch nicht auf den Rest der Menschheit überzuschwappen. Anstelle der prognostizierten jährlich 30’000 bis 50’000 Personen besuchten nur rund 10’000 die Ausstellung. Die oberen Etagen blieben leer. Die Betriebsgesellschaft WNF AG hätte sie gewinnbringend vermieten sollen. Kam hinzu, dass der Innenausbau inklusive der Ausstellung statt der budgetierten sieben Millionen Franken plötzlich deren zehn kostete.

An sich war sie hübsch geworden, die Ausstellung. Mit dem üblichen schweizerischen Hang zur Perfektion. Alle Viertausender auf einen Streich, ein Waggon der Jungfraubahn, im Kinosaal ein Film über Wanderfalter. Ein «Geschenk Gottes» hatte der umtriebige Walliser Hotelier Art Furrer das World Nature Forum anlässlich der Eröffnung 2016 genannt.

Mitten im Ortskern von Naters steht der vermeintliche Tourismusmagnet. Die oberen Stockwerke stehen seit der Erstellung des Gebäudes leer. Sie hätten vermietet werden müssen, damit das Vorhaben dereinst schwarze Zahlen schreiben kann.

Mit Vollgas Richtung Konkurs

Doch Gott liess die Natischer im Stich. Der ausbleibende Besucherstrom schlug sich im Betriebsbudget nieder. Angesichts der finanziellen Schieflage vom ersten Tag an schmolz das Kapital der WNF AG schneller dahin als der Aletschgletscher im Hochsommer. Für Investitionen vorgesehenes Geld wurde in den Betrieb gesteckt. Alles unter den Augen des Verwaltungsrates. Ein effektives Controlling fehlte.

Keine anderthalb Jahre nach der Eröffnung stand das Projekt am Abgrund. Entweder man rettete das Forum. Oder es würde noch diesen Sommer in Konkurs gehen und liquidiert werden.

2009 hatte es noch anders getönt. Die Finanzierungsstrategie des World Nature Forum stammte vom Winterthurer Peter Arbenz, einst Direktor des Bundesamtes für Flüchtlinge (heute SEM), später Unternehmensberater. Er kalkulierte, dass die Gesellschaft schon «im dritten, spätestens aber im vierten Jahr einen Gewinn erwirtschaftet». Nach weniger als zwei Jahren war sie pleite.

Eine Million Gäste fährt pro Jahr mit der Bahn aufs Jungfraujoch. Doch nur 10’000 wollten sich in Naters über die Geschichte und Kultur der Aletschregion informieren. Per Ende 2017 war die WNF AG mit fast 1,8 Millionen Franken überschuldet. Der Traum vom Touristenmagnet, den man in Naters geträumt hatte, war ausgeträumt.

Wie die Millionen versickerten

Im Mehrzwecksaal von Naters machte sich vergangenen Mittwoch nüchterne Realität breit. Es war der grosse Auftritt zweier Männer. Das war zum einen Gemeindepräsident Franz Ruppen, 2015 für die SVP in den Nationalrat aufgestiegen. Und zum anderen der von Ruppen ins Boot geholte Albert Bass, ein ortsansässiger Treuhänder fortgeschrittenen Alters. Er kennt die Tricks seiner Branche, experimentierte unter anderem mit Briefkastenfirmen, bevor er zwölf Jahre lang Vizepräsident der Walliser Kantonalbank war.

Ruppen und Bass führten durch die Show. Zwei kleine Männer, deren Wort Gewicht hat. Studierte Leute. Ihre Behäbigkeit täuscht über ihre Schlauheit hinweg. Sie hätten monatelang die Köpfe zusammengesteckt, sagten sie. Um einen Ausweg zu finden aus der Misere. Und sie wussten, was die Leute hören wollten.

Ihr Plan: Die Gemeinde soll der Axa den Bau für sechs Millionen Franken abkaufen und an eine Stiftung überführen. Warum eine Stiftung? «Eine Aktiengesellschaft gründet man, wenn man Geld verdienen will», sagte Albert Bass, der Sanierer. Ironie: Die WNF AG hatte es nicht so mit dem Verdienen.

Hätten die Natischer über sechs Millionen Franken abzustimmen, müssten sie das an der Urne tun. Doch an jenem Abend ging es um 800’000 Franken. Ein Darlehen, das die Gemeinde der WNF AG gegeben hatte. Die Logik ist simpel: Geht die Gesellschaft in Konkurs, sind die 800’000 ohnehin weg. Gründen wir eine Stiftung, können wir das Geld als Anlagewert nutzen. (Ein zusätzlicher A-fonds-perdu-Beitrag über eine Million, den die Gemeinde bezahlt hat, ist – der Name sagt es – längst versickert.)

Die meisten der 400 Natischer Stimmberechtigten blieben an der Urversammlung stumm. Sie winkten die Sanierungspläne durch. Ohne Gewissheit, ob ihr Museum künftig rentieren wird.

Die bisherige Eigentümerin, die Axa, würde das Gebäude für sechs Millionen an die Gemeinde verkaufen. Und damit auf die Hälfte der Erstellungskosten verzichten. Mit anderen Worten: Sie sieht keine Verwendung für den Klotz und streicht sich lieber sechs Millionen ans Bein. Andernfalls sässe sie auf einer zehn Millionen Franken teuren Ausstellung, die niemand mehr besuchen könnte. Den Verlust kann sie vermutlich verkraften. Die angrenzenden Wohnbauten werfen wohl genug ab.

Insgesamt hat das Abenteuer 22 Millionen Franken gekostet. Das Gebäude bezahlt von Axa, das Forum von der Gemeinde, zwei Lotteriefonds, dem Kanton Wallis, Stiftungen und privaten Sponsoren. Übrig sind ein Trümmerhaufen von sechs Millionen und 800’000 Franken Buchgeld, das von einem Papier auf ein anderes übertragen werden soll.

Von Powerpoint-Folie zu Powerpoint-Folie erklärte Treuhänder Albert Bass die ausweglose Situation. Und man fragte sich: Wie hätte diese Rechnung je aufgehen können?

Man kennt sich, und das ist gut so

Trotz der fast zwei Millionen Franken Steuergelder, die nun weg sind, bleibt in Naters die Kirche im Dorf. Und auch der weisse Klotz, in dem das World Nature Forum haust. Das Land wird aus dem restlichen Axa-Gelände herausparzelliert.

Präsident der neuen Stiftung wird nach dem Willen des Gemeindepräsidenten: der ortsansässige Sanierer Albert Bass. Die Stiftung wird künftig im Wesentlichen die Hauswartung übernehmen. Das Personal hingegen wird, geht es nach Plan, von der Stiftung Unesco-Welterbe Swiss Alps Jungfrau-Aletsch entlöhnt. Deren Präsident Heinz Karrer ist Chef von Economiesuisse. Karrer kennt die Alpen gut, als CEO von Axpo betrieb er allein im Wallis ein halbes Dutzend Wasserkraftwerke.

Nun wusste die Urversammlung Bescheid. Nun konnte sie entscheiden: Retten oder liquidieren hiessen die beiden Optionen. Gibt es Fragen? «Wird jetzt untersucht, was der Verwaltungsrat die letzten zwei Jahre gemacht hat?», wollte ein Bürger wissen. «Ja, schon», sagten Gemeindepräsident Ruppen und Sanierer Bass. Aber jetzt gehe es erst einmal um die Frage der Zukunft des Forums.

Pikant: Die Gemeinde Naters besitzt die Aktienmehrheit der WNF AG. Nach dem Willen des Gemeinderates sollte ihr Verwaltungsrat eigentlich die Décharge erhalten. Doch die auf vergangenen Freitag angesetzte Generalversammlung wurde kurzfristig verschoben. Denn sind die Verwaltungsräte erst einmal entlastet, können sie nicht mehr so leicht zur Rechenschaft gezogen werden.

Im Wallis gilt ein Geschäft nur, wenn man darauf anstösst: Das Geld fürs Museum ist keinesfalls gesichert. Trotzdem floss im Anschluss an die Abstimmung in Naters der Fendant.

Doch selbst wenn dem Verwaltungsrat Fehler vorgeworfen werden können, dürfte dies wenig Konsequenzen haben. Einer, der sich unlängst elegant aus dem WNF-Verwaltungsrat verabschiedet hat, ist Banker und FDP-Politiker Pierre Alain Grichting. Er hat bereits einen neuen Nebenjob. Grichting ist heute Präsident der Walliser Kantonalbank. Auch er ist, der Zufall will es, in Naters wohnhaft.

Und die Walliser Kantonalbank ist übrigens diejenige Bank, die der Gemeinde für den Kauf des WNF-Gebäudes eine Hypothek von drei Millionen Franken in Aussicht gestellt hat. Also auch diejenige Bank, deren ehemaliger Vizepräsident, Sanierer Albert Bass, die neue WNF-Stiftung präsidieren soll. Also diejenige Bank, die das Gebäude einheimsen wird, sollte Albert Bass scheitern.

Man kennt und schätzt sich in Naters.

Schuldenberge gehen, Viertausender bleiben

Ob das World Nature Forum mit der neuen Organisationsform und abgespeckten Einnahmeerwartungen überleben wird? Die Natischer waren an der Urversammlung offensichtlich guten Mutes und stimmten per Handheben mit 303 zu 65 Stimmen bei elf Enthaltungen für den Erhalt.

In der Fragerunde meldete sich ein Bürger: «Wir müssen unbedingt Ja stimmen. Nur so können wir der jungen Generation etwas hinterlassen.» Und wenn die Hinterlassenschaft aus Schulden besteht, ist das auch nicht so schlimm. Schuldenberge kann man abtragen, die Viertausender bleiben. Die Walliser sind hart im Nehmen.

«Baue, und sie werden kommen», sagt die Stimme im eingangs erwähnten Film zu Kevin Costners Figur. «Die Investoren können kommen», versprach 2009 der damalige Natischer Gemeindepräsident Manfred Holzer. Im Wallis sind die begeisterten Stimmen rund ums World Nature Forum vorerst verstummt.

Dafür versprechen die Stimmen nun etwas Neues: einen Schub für den ganzen Kanton, wenn die Olympia-Pläne «Sion 2026» Realität werden. Am 10. Juni stimmt das Wallis über sie ab. Die «Rote Anneliese», die linke Zeitung im stramm bürgerlichen Kanton, sieht in der Affäre ums World Nature Forum bereits die Vorlage für ein Olympia-Debakel: dieselben Leute, dieselben Versprechungen. Nur die Schuldenberge würden um ein Vielfaches grösser werden, warnen die Walliser Linken.

Bis hingegen das touristische Interesse am Unesco-Welterbe auf der Walliser Südseite so gross ist wie hüben im Berner Oberland, dürfte noch viel Schmelzwasser den Rotten hinunter Richtung Genfersee fliessen. Es brauche eben wirklich gute und tragfähige Ideen, sagt ein langjähriger Hotelier zur Republik: «Das Unesco-Label ist ein hervorragendes Verkaufsargument. Aber man muss etwas dafür tun. Es reicht nicht, wenn man da oben einfach die Käseschnitte zwei Franken teurer verkauft.»

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