Ausweitung der Grauzone

Die Bundesanwaltschaft klagt gegen die Führung des Islamischen Zentralrats und will damit erneut die Grenzen des Rechts verschieben: Rückt sie damit Journalismus in die Nähe des Terrorismus?

Von Carlos Hanimann, 16.05.2018

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Es ist ja nicht so, dass der Islamische Zentralrat der Schweiz (IZRS) besonders sympathisch wäre und breiten Anklang in der Bevölkerung fände. Der IZRS ist eine kleine, fundamentalistische Organisation, die es im vergangenen Jahrzehnt mit offiziell klingendem Titel und viel geschickter Inszenierung geschafft hat, zu einem festen Begriff in der Schweizer Presselandschaft zu werden. Mit seinen provokativen, radikalen und reaktionären Wortmeldungen gehörte er in die Kategorie der in den Medien notorisch übervertretenen Phänomene.

In dieser Hinsicht glich der Umgang mit dem IZRS in den letzten Jahren jenem mit der SVP: Jede Provokation eine Schlagzeile, jede Regung eine Talkshow-Einladung. Mit einem Unterschied: Die SVP hat eine grosse Fanbasis. Der IZRS hingegen, mit seinen knapp 40 aktiven Mitgliedern bei rund 400’000 Muslimen, ist eher die Klasse von Star-Astrologin Elizabeth Teissier: Fast niemand glaubt, was sie erzählt – und trotzdem ist sie ständig in den Medien.

IZRS-Präsident Nicolas Blancho steht gemeinsam mit Kommunikationschef Qaasim Illi und Kulturproduzent Naim Cherni vor Gericht. Der Vorwurf: Terrorpropaganda. Siggi Bucher/Keystone

Jetzt steht die Führung des IZRS vor Gericht. Die Bundesanwaltschaft wirft ihr Terrorpropaganda vor. Am Mittwoch und Donnerstag müssen sich Kommunikationschef Qaasim Illi, Präsident Nicolas Blancho und Kulturproduzent Naim Cherni vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona verantworten. Die drei hätten, so die Anklage, die in der Schweiz verbotene Gruppierung al-Qaida (oder eine verwandte Organisation) unterstützt, indem sie Propagandaaktionen organisiert beziehungsweise deren Aktivitäten «auf andere Weise» gefördert hätten.

Kernstück der Anklage sind zwei Filme, die Cherni gedreht hat und die Illi und Blancho mutmasslich abgesegnet und auf verschiedenen Kanälen publiziert haben: ein Interview mit Abdullah al-Muhaysini und eine Dokumentation über verschiedene islamistische Rebellengruppen in Syrien. Vor allem das knapp vierzigminütige «Exclusive Interview» mit al-Muhaysini steht im Fokus. Al-Muhaysini wird dem Umfeld der Terrororganisation al-Qaida beziehungsweise der dschihadistischen Nusra-Front zugerechnet. Und wenn man der Berichterstattung über den Film glauben darf (dieser wurde vom Netz genommen), ist es ein ziemlich unkritischer Beitrag: «Genre Hofberichterstattung», schrieb Medienjournalist Rainer Stadler in der NZZ. «Der Monolog» von al-Muhaysini sei trotzdem «interessant», «ein Aufruf zu Gewalt oder zum Kampf in Syrien ist da schwerlich zu erkennen».

Der Prozess gegen die IZRS-Führung wirft also die Fragen auf: Was ist Journalismus, was Terrorpropaganda? Darf man Verbrecherinnen, Verrückte und Terroristen unwidersprochen reden lassen, ihnen «eine Plattform» bieten, wie die Bundesanwaltschaft es nennt? Gehört unkritische Berichterstattung strafrechtlich verfolgt und bestraft? Aber vor allem geht es um eine grundsätzliche, rechtsstaatliche Frage: Was ist das für ein Gesetz, das im schlechtesten Fall Journalismus für Terrorismus erklärt?

Diktiert das Strafrecht, was Journalismus ist?

Der Vorwurf der Terrorpropaganda an die Adresse eines Interviewers weckt unschöne Assoziationen. Da ist zum Beispiel der Fall Deniz Yücel: Der Journalist interviewte als Türkei-Korrespondent für die deutsche «Welt» unter anderem einen PKK-Führer. Das brachte ihm seitens der türkischen Behörden den Vorwurf der Terrorpropaganda ein, er sass ein Jahr lang im Gefängnis. In der Begründung der Untersuchungshaft führte der Haftrichter damals aus, durch das Interview habe Yücel «den Aussagen des Organisationsführers Cemil Bayik Platz eingeräumt und damit den Eindruck erweckt, dass die PKK-Terrororganisation eine legitime Organisation wäre».

Oder zum Beispiel Laura Poitras: Bevor die US-amerikanische Filmemacherin eine Trilogie mit den Enthüllungen von NSA-Whistleblower Edward Snowden abschloss, dokumentierte sie in einem ersten Film das Leben der Irakis während der US-Besatzung, einen zweiten Film drehte sie über zwei Vertraute von Osama bin Laden. Die Folge: Sie geriet ins Visier der Staatsschützer und wurde über 50 Mal an Flughäfen angehalten und verhört.

Journalist ist kein geschützter Beruf. Allerlei Gestalten schmücken sich mit dem Titel: Geheimdienstler, Lobbyisten, Propagandisten. Es liegt in der Natur des Berufes, dass die Grenzen nicht immer klar gezogen sind. Sie liegen im Auge der Betrachterin. Und sie ergeben sich durch die hartnäckig erarbeitete Glaubwürdigkeit des Einzelnen und allenfalls seines Mediums. Die Grenzziehung erfolgt durch selbst auferlegte Standesregeln von Institutionen wie dem Presserat, der rügt, wenn diese Regeln verletzt werden.

Natürlich: Der IZRS-Kulturproduzent Naim Cherni ist nicht Deniz Yücel oder Laura Poitras. Er hat – im Gegensatz zu den beiden – keinen journalistischen Leistungsausweis, und er ist in erster Linie Mitglied einer islamistischen Gruppierung. Aber ist das Strafrecht das richtige Mittel, um zu definieren, was Journalismus ist und was nicht?

Die innere Einstellung als Massstab

Die Bundesanwaltschaft hat sich in der Terrorismusbekämpfung in eine rechtliche Grauzone bewegt. Es ist ihr erklärtes Ziel, den Rahmen der Strafbarkeit auszuweiten. 2016 klagte sie den Winterthurer J. an, der nach Syrien reisen wollte, um sich dort vielleicht dem IS anzuschliessen. Die Polizei verhaftete ihn noch am Flughafen Zürich, J. wurde verurteilt: Mit seiner Reiseabsicht habe er die Terrormiliz IS «auf andere Weise» gefördert. Ähnlich der Fall der Schweizer Konvertitin S., die nach Rakka reisen wollte, um unter der Herrschaft des IS zu leben. Auch sie wurde verurteilt. In beiden Fällen bestrafte das Gericht eine Absicht oder eine mögliche Handlung in der Zukunft.

Der Fall IZRS soll nun erneut die Grenzen des Rechts verschieben: Ist Naim Cherni als unkritischer Mikrofonhalter ein Terrorpropagandist oder bloss ein miserabler Journalist?

Die Bundesanwaltschaft stützt sich in der Anklage auf ein Gesetz, das in der Öffentlichkeit kaum kritisch beleuchtet wird, tatsächlich aber rechtsstaatlich höchst fragwürdig ist. Das Gesetz über das Verbot der Gruppierungen al-Qaida, Islamischer Staat und verwandter Organisationen ist so unscharf formuliert, dass es einen Freipass zur Verfolgung all jener bietet, die sich im Dunstkreis islamistischer Gruppierungen bewegen. Es bestraft nicht nur die Beteiligung an diesen Gruppierungen, sondern auch, wer sie «personell oder materiell unterstützt, für sie oder ihre Ziele Propagandaaktionen organisiert, für sie anwirbt oder ihre Aktivitäten auf andere Weise fördert».

Entstanden ist das Gesetz als dringliche Verordnung des Bundesrats nach den Terroranschlägen auf die Twin Towers in New York am 11. September 2001. Dreimal wurde die Verordnung verlängert, bis sie 2015 in ein Gesetz gegossen wurde. Nun soll dieses wieder verlängert werden, bis 2022, und dann in die ordentliche Gesetzgebung übergehen.

Das IS-al-Qaida-Gesetz

Die Bundesanwaltschaft hat in den letzten zwei Jahren regen Gebrauch vom schwammig formulierten Gesetz gemacht. Gemäss der Gesetzesbotschaft leitete sie von 2015 bis im Sommer 2017 insgesamt 75 Verfahren ein, 28 sind hängig, 13 Fälle wurden sistiert, zweimal blieb es bei Vorermittlungen. Nur 32 Fälle wurden rechtskräftig abgeschlossen, weniger als die Hälfte. Lediglich dreimal erwirkte die Bundesanwaltschaft eine Verurteilung.

Der Strafverteidiger Marcel Bosonnet kritisierte das Gesetz in der WOZ, weil es gegen das Bestimmtheitsgebot verstosse: «Keine Strafe ohne Gesetz, das ist der fundamentale Artikel unseres Rechtsstaats – und dieses Gesetz kratzt an diesem Fundament.»

Die Strafrechtsprofessorin Nadja Capus teilt diese Ansicht: «Es würde mich wundern, wenn es einen Juristen gäbe, der das nicht so sähe.» Das Problem: Anders als eine objektiv strafbare Handlung wie einen Messerstich oder einen Faustschlag kriminalisiere das Gesetz eigentlich ungefährliche Alltagshandlungen: Flyer verteilen, Filme drehen, Flugzeuge besteigen. Erst durch den Kontext würden diese Handlungen strafbar. «Das Gesetz ist dermassen vage formuliert, dass man von äusseren Umständen auf die innere Einstellung des Beschuldigten schliesst und diese dann verurteilt. So werden Alltagshandlungen erst durch einen angeblichen Geist oder eine Ideologie strafbar. Das finde ich alarmierend», sagt Capus.

Das Gesetz sei im Geist des «war on terror» entstanden, als das Strafrecht immer mehr zum Präventionsstrafrecht umgewandelt wurde, sagt Capus. Das Strafrecht sei aber eine gänzlich ungeeignete Methode zur Deradikalisierung. Im Gegenteil: «Im Kampf gegen den Terrorismus haben wir Grenzen überschritten, die uns bisher geschützt haben vor der Ausgrenzung von Menschen, die eine falsche Meinung haben. Vielleicht mag das in einem konkreten Fall korrekt sein. Aber wer garantiert, dass es in Zukunft so bleibt?»

Der IZRS tut derweil das, was er am besten kann: Er inszeniert die Verhandlung am Bundesstrafgericht unter dem Titel «Der Prozess». Mit allen Mitteln der Publizistik – Pressekonferenzen, einem Filmtrailer, einer Social-Media-Kampagne – gibt er sich als Opfer einer islamophoben Schweizer Justiz. So schafft der Prozess am Bundesstrafgericht das, was dem IZRS vorgeworfen wird: Er bietet eine Plattform.

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