Im Libanon – Teil II

ein amerikanischer Cadillac vor einem ausgebrannten Bus
Gegensätze: Die Innenstadt von Beirut, 1978. Raymond Depardon/Magnum Photos/Keystone

Auge um Auge

Wie war es, zu töten? Zu foltern? Und wie geht man mit den Dämonen der Vergangenheit um? Im Libanon stellen sich wenige der Vergangenheit. Einige glorifizieren sie. Die anderen versuchen zu vergessen. Dreiteilige Reportage aus einem Land, das auf den Toten und den Trümmern seiner Geschichte durch die Kriegswirren der Gegenwart taumelt – Teil II.

Von Mona Fahmy (Text) und Dalia Khamissy (Bilder), 04.05.2018

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Der Libanon wählt. Am kommenden Sonntag, 6. Mai, entscheidet das Land, wer die 128 Sitze im Parlament besetzen darf. Was feststeht: Die Hälfte der Sitze erhalten Muslime, die andere Hälfte Christen. So ist es seit dem Abkommen in der saudiarabischen Stadt Taif geregelt, das 1989 den Bürgerkrieg beendete.

Unter den Gewählten werden Vertreter der Politdynastien sein. Milliardäre. Ehemalige Warlords. Söhne und Töchter ermordeter Spitzenpolitiker. Politik kann tödlich sein im Libanon.

Der Zusammenhalt zwischen den Menschen verschiedenster Religionen ist fragil. Ihr Glaube wurde allzu oft für Interessen anderer instrumentalisiert. Von Gruppen im Inneren des Landes. Den Nachbarn Israel und Syrien. Den arabischen Nationen. Iran und Saudiarabien. Russland und den USA.

Tripoli

Libanon

Bekaa-Tal

Mittelmeer

Safra

Beirut

Damur

Syrien

Said

Mleeta

Qana

Israel

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In Teil I der Libanon-Reportage trafen wir den ehemaligen Innenminister Ziyad Baroud. Obwohl er 2011 enttäuscht als Innenminister zurücktrat, weil, wie er sagt, das Establishment die eigenen Interessen vor die des Landes stellt, kandidiert er erneut. Wir trafen Amal, eine Palästinenserin im Lager Shatila, wo 1982 christliche Milizen mit Duldung Israels Hunderte Zivilisten umbrachten. Sie lebt zusammen mit Tausenden Palästinensern in einem Lager. Verlor ihre Mutter an den Bürgerkrieg, zwei Kinder an Drogenkriege innerhalb des Camps.

Teil II führt von Beirut ins Hizbollah-Gebiet. Wir trafen einen ehemaligen Warlord und geläuterte Ex-Kämpfer. Ihre Geschichten erzählen vom Irrsinn eines Bürgerkrieges, der bis heute das Land prägt. Wir reisten in den Süden, wo der Kult um die «Helden des Widerstands» in grobem Kontrast zur Schönheit der Landschaft steht.

Der Blick auf die Bucht von Jounieh, nördlich von Beirut gelegen.

Die Bürgerkriegskämpfer

Massoud «Poussy» Achkar

«Der Krieg war so komplex. Wie soll ein Ausländer das verstehen?» Massoud «Poussy» Achkar schreit. Er schreit immer. Achkar ist eine bekannte Figur. Kandidat für die Parlamentswahlen, Sekretär und Gründer der Unionsbewegung für den Libanon, ehemaliges Kader der Forces Libanaises, der christlichen Miliz, die von Israel unterstützt im Bürgerkrieg gegen Palästinenser, Kommunisten und linke Muslime kämpfte.

Achkar wuchs im Beiruter Stadtteil Achrafieh auf. Sein Vater Arzt, seine Mutter Volontärin beim Roten Kreuz. In seiner Familie, sagt er, seien Werte wie Nächstenliebe sehr wichtig gewesen. Er sitzt vor einem Bild, das einen israelischen Angriff im Bürgerkrieg zeigt. «Heute bin ich noch stolz auf das, was wir gemacht haben», sagt er. «Es ging ums Überleben. Wir wurden angegriffen.» Die Palästinenser hätten Waffen gehabt, sie hätten sich Kämpfe mit der Armee und Israel geliefert, in Beirut Barrikaden errichtet. «Sie haben ihre Heimat verloren und wollten den Libanon nehmen. Wir haben unser Vaterland verteidigt.»

Achkar stand Béchir Gemayel sehr nahe. Gemayel, Vater einer der Politdynastien, die den Libanon mitprägen, war der Anführer der Forces Libanaises. 1982 wurde er, Israels Wunschkandidat, zum libanesischen Präsidenten gewählt. Kaum einen Monat später, am 14. September, kamen er und 23 weitere Menschen bei einem Bombenattentat auf sein Hauptquartier ums Leben. Die Antwort der Christen: das Massaker von Sabra und Shatila. Vor den Augen der israelischen Armee töteten die Forces Libanaises in den palästinensischen Flüchtlingslagern Hunderte Zivilisten.

Training für den Krieg: Béchir Gemayel, Anführer der Forces Libanaises, im Jahr 1978. Jack Garofalo/Paris Match/Getty Images

Der Mörder Gemayels, ein Syrer, wurde 2017 in Abwesenheit schuldig gesprochen. Achkar bereut dennoch nichts. Der Bürgerkrieg, sagt er, da sei es ums Überleben gegangen. Um seine Heimat. Christen hätten gegen Palästinenser gekämpft. Muslime hätten sich mit den Palästinensern solidarisiert. Linke Parteien auch. Es habe Muslime auf der Seite der Christen gegeben. Die Palästinenser und die Schiiten hätten sich gegenseitig umgebracht. Die Schiiten und die Sunniten.

Im Libanon

Mona Fahmy, mit elf Jahren als Tochter einer Schweizer Geschäftsfrau im Libanon kurz vor dem Bürgerkrieg in die Schweiz übergesiedelt, zerlegt die mächtigen Politdynastien des Landes in verständliche Einzelteile und erläutert in unserer Serie auch die Machtstrukturen der ganzen Region.

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Die christlichen Parteien hätten Milizen aufgebaut, trainiert. Die Waffen seien erst später gekommen. Eine gute Miliz sei es gewesen. «Wenn die Palästinenser von Anfang an begriffen hätten, dass ihr Kampf in Israel stattfindet und nicht bei uns», sagt Achkar – dann hätte er heute weniger Mühe mit ihnen. Dann wird er ungeduldig, er hat noch ein Meeting. Spätabends. Im Hauptquartier der Unionsbewegung für den Libanon in Achrafieh. Es gibt noch viel zu tun fürs Vaterland.

Ziad Saab

«Ich war 14, als ich zu den Waffen griff», sagt Ziad Saab. 1973 war das, als die Kämpfe zwischen den Palästinensern und der libanesischen Armee begannen. Saab sitzt in einem Café in Beirut Souks, einer feinen Shopping-Gegend mit überteuerten Boutiquen, 1975 war sie Schauplatz heftiger Kämpfe.

Neben ihm: Assaad Chaftari, 63, Christ, einst Vizechef des Sicherheitsdienstes der Forces Libanaises. Und Badri Abu Diab, 54, Druse, einst Bataillonsführer der Kämpfer der Sozialistischen Partei.

Sie trinken Kaffee.

Aus Kämpfern an der Front wurden «Kämpfer für den Frieden»: Badri Abu Diab (links), Assaad Chaftari (Mitte) und Ziad Saab beim Kaffee im Zentrum Beiruts.

Sie alle haben getötet oder töten lassen. Im Krieg waren sie Todfeinde. Heute nennen sie sich «Kämpfer für den Frieden». Touren durchs Land. Erzählen in Schulen, wie es war, zu töten. Schlafen danach schlecht. Kriegsbilder im Kopf. Ihre Mission: Es soll nie mehr zum Blutvergiessen kommen.

Im Bürgerkrieg kämpften, grob gesagt, christliche Gruppierungen gegen eine Allianz aus PLO, linken Drusen und muslimischen Milizen.

Doch wer kämpfte genau gegen wen? Eine nicht abschliessende Liste von Milizen, die mal mit, mal gegeneinander kämpften, zeigt, wie verwirrend die Fronten waren. Sie lassen sich nicht einmal eindeutig entlang der Religionen festlegen, die im Libanon sogar für die Regierungsbildung entscheidend sind.

Die Milizen im Bürgerkrieg:

  • Die Allianz der Libanesischen Front: die Forces Libanaises unter Samir Geagea, die Kataeb-Sicherheitskräfte der Kataeb-Partei (oder Phalangisten), die Tiger-Milizen, die Marada-Brigaden, die «Hüter der Zedern» und weitere Splittergruppen. Maroniten. Die Allianz kämpfte zusammen mit Israel gegen den palästinensischen Widerstand und die syrische Armee.

  • Die von Israel unterstützte Südlibanesische Armee. Maroniten. Die von Saad Haddad angeführte Miliz operierte, von Israel aufgerüstet, im Süden des Landes. Gegen die Palästinenser. Gegen die libanesische Armee und die syrische Armee. Und später gegen die Hizbollah.

  • Die Forces-Libanaises-Splittergruppe unter Elie Hobeika. Maroniten.
    Die Miliz, welche aus Rache für das Attentat auf Béchir Gemayel das Massaker von Sabra und Shatila verübte und danach in den eigenen Reihen zu Geächteten wurde.

  • Die Libanesische Arabische Armee, die sich von der offiziellen Armee löste und eine Gegenregierung bildete. Sunniten. Kämpfte zwischen 1975 und 1977 gegen die Forces Libanaises.

  • Die Tawheed, eine islamistische Bewegung, die vor allem in Tripoli gegen die Syrer kämpfte. Sunniten. Die Miliz erstarkte, als die PLO den Libanon verliess und sie die meisten Waffen übernahm. Nach dem Bürgerkrieg wechselte die Tawheed die Fronten und unterstützte Syrien.

  • Die mithilfe der palästinensischen Fatah gegründete Amal-Miliz und die von Iran unterstützte Hizbollah. Schiiten. Das ursprüngliche Ziel beider Milizen war, auf die Lage der Schiiten im Süden aufmerksam zu machen, die bei Kämpfen zwischen der PLO und Israel immer wieder die leidtragenden Dritten waren. Die Amal wurde von Syrien, die Hizbollah von Iran unterstützt. Sie kämpften gegen Israel und die libanesische Armee. Im Bürgerkrieg kämpften sie auch gegeneinander.

  • Die unter syrischem Befehl stehende PLA (Palastine Liberation Army, militärischer Arm der PLO) und PLO-Splittergruppen, die abwechselnd für die Interessen des Irak, von Libyen oder Syrien kämpften. Palästinenser.

  • Die Volksbefreiungsarmee. Drusen. Die Miliz der Progressiven Sozialistischen Partei unter Drusenführer Kamal Jumblatt stand für die panarabische Idee und die arabische Identität des Libanon und kämpfte unterstützt von Syrien aufseiten der Kommunisten und der Palästinenser gegen die libanesische Armee.

  • Die Arabischen Roten Ritter. Alawiten. Die in Tripoli operierende Miliz der Arabischen Demokratischen Partei kämpfte während des Krieges gegen anti-syrische Muslime.

  • Die Kommunisten und die Syrische Sozialnationalistische Partei (SSNP). Konfessionslos. Die Miliz der Kommunisten bestand hauptsächlich aus Christen und Armeniern. Sie stand für eine klassenlose Gesellschaft und «Gerechtigkeit für die Unterdrückten». Sie kämpfte aufseiten der Palästinenser. Und gegen die Islamisten in Tripoli und die Amal im Südlibanon. Die SSNP vertrat die panarabische Idee und wollte einen Anschluss des Libanon an Syrien. Nach dem Bürgerkrieg teilte sich die SSNP in einen pro- und einen antisyrischen Block auf.

Religionen, Ideologien und externe Interessen formten im Bürgerkrieg ein unübersichtliches Wirrwarr von Positionen und Fronten. Jeder kämpfte gegen jeden. Und keiner wusste mehr genau, warum.

Ziad Saab zieht an seiner Zigarette. Er trägt eine dunkelgrüne Jacke, T-Shirt. Das grauschwarz melierte Haar nach hinten gekämmt. Sein Blick verfinstert sich. Er war im Bürgerkrieg Kommandant der von Russland und Syrien unterstützten kommunistischen Milizen.

«Wann hast du zu den Waffen gegriffen?» Assaad Chaftari stupst ihn freundschaftlich an.

«1973.»

«Siehst du! Dann war es klug von mir, mich auch zu bewaffnen!» Chaftari lacht.

«Natürlich hattest du recht. Aber ihr habt angefangen!»

«Nein. Ihr!»

«Blödsinn, das wart ihr!»

Die beiden lachen laut.

Es ist ein Lachen gegen die Dämonen der Vergangenheit.

Saab wuchs in Bourj Hammoud auf, einem östlichen Vorort von Beirut, in dem vor allem Armenier wohnen. «Als Kind fragte ich mich, ob es Gerechtigkeit gebe.» Er wollte das System ändern. Mit Gewalt. «Ich rannte allen hinterher, die diese Idee vertraten.» Mit 14 trat er aus der Kommunistischen Partei aus: «Weil sie mir nicht gewalttätig genug war.»

Die bewaffnete Miliz der Kommunisten, die aufseiten der Palästinenser kämpfte und ihn rekrutierte, war es.

Seine erste Mission: Waffen aus einem Haus holen.

Am 18. Januar 1976 töteten christliche Milizen in Karantina, einem Elendsviertel im christlichen Ost-Beirut, zwischen 1000 und 1500 Zivilisten. Palästinenser, Kurden, Armenier, Libanesen.

Zwei Tage später übten palästinensische Kämpfer in Damur Vergeltung und töteten 20 Phalangisten und an die 300 Zivilisten. Darunter die Verlobte von Elie Hobeika, dem Anführer der Forces Libanaises.

Krieger im christlichen Bezirk von Achrafieh, 1978. Raymond Depardon/Magnum Photos/Keystone

Auf Damur folgte die Belagerung von Tel al-Zaatar, einem palästinensischen Flüchtlingscamp im Nordosten Beiruts, in dem an die 30’000 Menschen lebten. Von Syrien unterstützte christliche Milizen töteten über 1000 Zivilisten.

Ziad Saab kämpfte im ganzen Land, fünf Jahre im Südlibanon vom Sommer 1976 bis 1981, in Tripoli 1983, 1985, immer mit der Kommunistischen Partei. Er stieg die militärische Karriereleiter hoch. «1987 war ich der Verantwortliche des militärischen Arms der Kommunistischen Partei.» Vor kurzem traf er sich mit Mitgliedern der Partei. Sie hätten ihn gefragt, wie viele gestorben seien. «Ich kannte die Toten. Ich kenne ihre Augenfarbe. Ich habe ihre Kinder im Arm gehalten.» Zahlen könnten dem nicht gerecht werden. «Wir sollten dafür sorgen, dass es die letzten Toten waren.»

Badri Abu Diab

«Wir verstanden gar nicht richtig, worum es geht», sagt Badri Abu Diab. Er leitete ein Bataillon, kämpfte im Süden, in Saida. Nein, soziale Gründe hätten ihn nicht militarisiert, sagt er. Seine Familie gehörte zur Mittelklasse, sie lebten gut. Der panarabischen Ideologie oder dem Kampf der Palästinenser konnte er nichts abgewinnen. Es ging einfach darum, zu einer Miliz zu gehören. Sie hatten Macht, einen Chauffeur, Bodyguards. Mit 18. «Das fand ich natürlich cool.»

Abu Diab lebte im Drusengebiet in den Bergen. Nach dem Attentat auf Drusenführer Kamal Jumblatt 1977 hatte jede Fraktion ihre eigene Miliz. Man trainierte im Chouf-Gebirge. Kein Spiel. Echter Drill. Man bereitete sich auf den Krieg vor. Syrische Truppen waren bereits im Land. Die meisten Kämpfer der Drusen waren 16, 17 Jahre jung.

Im Oktober 1976 stationierte Syrien 40’000 Mann im Land. Als Friedensmission. Die libanesische Regierung hatte um Unterstützung gebeten, die Syrer sollten ursprünglich die Maroniten beschützen. Die Kämpfe hörten kurz auf. Im Südlibanon und in West-Beirut waren nun die muslimischen Kämpfer und die PLO stationiert. Die Christen kontrollierten Ost-Beirut und den christlichen Teil des Mount Lebanon, der Gebirgskette, die den Libanon von Syrien trennt.

Zwischen Februar und April 1978 kämpften christliche Milizen gegen die syrischen Truppen und vertrieben sie kurz aus Ost-Beirut. Die Syrer hatten ihre Position zugunsten der PLO geändert. Der Libanon befand sich nun offiziell im Krieg mit Syrien.

Yassir Arafat, legendärer Leader der Palästinenser, 1982 im Libanon. Gilles Peress/Magnum Photos/Keystone

Am 11. März 1978 überquerten Fatah-Kämpfer die Grenze zu Israel und töteten 37 Menschen. Die israelische Armee marschierte darauf im Südlibanon ein, zog sich später zurück, rüstete dafür die Südlibanesische Armee auf. Derweil schossen PLO-Kämpfer Raketen auf Israel, trotz Waffenstillstand. Im Juni 1980 gingen Christen aufeinander los. Kämpfer der Kataeb griffen in Safra die Tiger-Milizen an und töteten 83 Menschen, die meisten Zivilisten. 1981 beschoss Israel ein Gebäude in Beirut mit Büros der PLO. 300 Zivilisten starben.

Eine weitere Runde Kaffee? Ein Kellner unterbricht Abu Diab.

Im Gegensatz zu den beiden anderen ehemaligen Bürgerkriegern am Tisch spricht er weder Englisch noch Französisch. 1981 das militärische Training in der damaligen Sowjetunion. 1982 die Rückkehr in den Libanon. Er zählte 27 Bürgerkriege im Bürgerkrieg. «Es begann als panarabische und palästinensische Sache, richtete sich dann gegen die Forces Libanaises, dann gegen Christen, dann gegen alle, die gegen dich sind.»

Gegen alle, die gegen dich sind: der Irrsinn des Bürgerkriegs in einem Satz.

Heute erschrecke er über das, was er getan habe. «Ich erschrecke aber auch über das normale Leben, ohne Macht, ohne Bodyguards und Chauffeur. Ohne Ansehen.»

Assaad Chaftari

«Die Muslime wollten zur arabischen Welt gehören, wir wollten einen westlichen Libanon», erinnert sich Assaad Chaftari. Er wuchs in einer christlichen Umgebung auf. Griechisch-orthodox. An einer katholischen Schule erzogen. Er wollte nicht Arabisch lernen. Keiner seiner Freunde verstand, weshalb die Muslime sich für die Palästinenser einsetzten. Sie, die Christen, hatten ja alle Vorteile im Land: die Präsidentschaft, die wichtigsten Ministerien, den Armeechef, den Reichtum. «Das wollten wir nicht teilen.»

1973, nach Kämpfen zwischen der libanesischen Armee und den Palästinensern, war er überzeugt, dass die Armee sie nicht mehr beschützen konnte. «Ich suchte eine christliche Partei mit einer bewaffneten Miliz und Trainingscamps in den Bergen.» Er fand sie in der Kataeb-Partei unter Béchir Gemayel.

Beim Ausbruch des Bürgerkrieges war er bereit. Er hatte eine 7-Millimeter-Pistole, gekauft im Palästinensercamp Sabra, und eine Kalaschnikow mit 500 Schuss Munition. Er wurde der Informationsgewinnungseinheit zugeteilt. «Kommunisten, Sozialisten und vor allem Muslime, alle waren verdächtig.»

Chaftari erinnert sich an das «Verhör» eines Palästinensers. Elektroschocks. Der Mann redete. Dann fragten sie ihn, ob er den «Kämpfer Jethro Tull» kenne – «um uns zu amüsieren». Natürlich sagte dem Mann der Name der britischen Rockband nichts. «Wir drohten ihm die schlimmste Folter an.» Und der Mann redete. Jethro Tull, der Elitekämpfer. Sein Versteck. Seine Pläne. «Unter Folter sagt ein Verdächtiger alles, was man hören will.»

Alles was man hören will: der Irrsinn der Folter in einem Satz.

Ein Schreibtischtäter, der die dreckige Arbeit den anderen überlässt, das war Chaftari für die Kämpfer der Kataeb. «Sie erwarteten, dass ich mit blossen Händen einen Gefangenen töte. Vor einer Jury.» Er tat es. Mit einem Dolch. Danach war Töten einfach. Im Glauben, es sei für die Sache der Christen im Libanon. Ein Priester sorgte sogar dafür, dass keine Gewissensbisse aufkamen. Bei der Beichte «gab er mir die Absolution für 500 Hinrichtungen. Er bot mir sogar an, wiederzukommen, wenn die Quote erreicht sei.»

1978 fühlten sich die christlichen Milizen von der Welt im Stich gelassen. Sie suchten die Unterstützung Israels. Agent sei man nicht gewesen, höchstens Alliierter. Im Januar 1982 kam Ariel Sharon, der spätere Premier Israels, mit Mossad-Kadern zur Kataeb und teilte die Angriffspläne der Israelis mit.

Auslöser war ein versuchtes Attentat auf den israelischen Botschafter in Grossbritannien. Israelische Truppen kamen bis nach Beirut, unterstützt von den christlichen Milizen. Yassir Arafat und die PLO-Kämpfer zogen sich in den Norden nach Tripoli zurück.

Sukzessive baute die Kataeb ihren Sicherheitsdienst aus. 1984 kämpften insgesamt 256 Gruppierungen im Libanon. 95 Analysten werteten täglich 700 Dokumente aus.

1983 sprengte sich ein Attentäter beim Hauptquartier der französischen und amerikanischen Streitkräfte in Beirut in die Luft und tötete 241 Amerikaner und 58 Franzosen. 1984 zogen sich die Amerikaner aus dem Libanon zurück. Die Israelis folgten ein Jahr später. «Wir dachten, wir könnten auf ihre Hilfe zählen, dabei hatten sie ihre eigene Agenda», sagt Chaftari.

Die von Syrien unterstützte Amal-Miliz und die Palästinenser kämpften weiter gegeneinander. Flüchtlingscamps wie Sabra und Shatila wurden grossteils zerstört. 1987 schlossen sich Palästinenser mit Drusen und Linken gegen die Amal-Miliz zusammen, was zu weiteren syrischen Interventionen führte. An einer anderen Front kämpfte die Amal-Miliz gegen die Hizbollah.

1988 umging der amtierende Präsident Amine Gemayel den nationalen Pakt und setzte statt eines Sunniten einen Maroniten als Premierminister ein. General Michel Aoun, derzeitiger Präsident des Libanon. Unterstützt von Saddam Hussein. Der Irak wollte den Einfluss des Iran durch die Hizbollah und die Amal-Miliz eindämmen.

Mit dem Abkommen von Taif endete 1989 der Bürgerkrieg. Es folgten fünfzehn Jahre syrische Besatzung.

Alle Kriegsparteien wurden von jeglicher Schuld freigesprochen. «Man hat die Sache begraben», sagt Ziad Saab. Für die Versöhnung, die Wiedereingliederung in die Gesellschaft, hat man nichts getan. «Viele haben sich umgebracht.» Vor zwei Jahren einer seiner Freunde, vor einem Jahr ein Nachbar. «Auch er ein Ex-Kämpfer, der seinen Weg nicht fand.»

Die Hizbollah

Pinien, Oliven- und Eukalyptusbäume säumen die kurvenreiche Strasse nach Mleeta, im Süden Libanons. Arabische Strassenschilder. Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hizbollah, lächelt von Plakaten. Da und dort die gelbe Fahne der Hizbollah, der «Partei Allahs». Journalisten brauchen ihre Einwilligung und die der Armee, um Fragen zu stellen und zu fotografieren. Die Aussicht aufs Meer ist atemberaubend, die eine oder andere Villa am Strassenrand auch.

In Mleeta, im Süden des Libanon: Viele dieser Hügel waren von der israelischen Armee während des Libanonkriegs 1982 besetzt.
Ein israelischer Panzer, gekapert im Libanonkrieg 1982 von der Hizbollah, ausgestellt im Kriegsmuseum in Mleeta.
Ein Mahnmal gegen das Vergessen: Die Schuhe der Kämpfer gegen die Invasoren 1982.
Bis heute haben 1,65 Millionen Menschen das im Mai 2010 gegründete Kriegsmuseum besucht.

«Willkommen in Mleeta», mit einem breiten Lächeln streckt Ahmad Mansour, Medien- und PR-Manager der Hizbollah, die Hand entgegen. Und beginnt ungefragt zu erzählen: Seit der Gründung im Mai 2010 hätten 1,65 Millionen Besucherinnen das «Kriegsmuseum» besucht. Ein Mahnmal gegen das Vergessen der israelischen Invasion von 1982, der israelischen Angriffe 2006. Die kommenden Generationen sollten wissen, wie der «Widerstand» gekämpft habe.

Groteske Blüten treibt zuweilen die Verehrung von Muslimen für ihre «shahid», ihre «Märtyrer». Die gefallenen Kämpfer. Sie stehen über jeder Schuld, sind Helden des «Widerstands». Von ihnen begangene Gräueltaten werden ausgeblendet.

Mansour trägt eine graue Baskenmütze, eine braune Lederjacke und Jeans. Er gibt sich betont westlich. Stolz zeigt er auf die «Ausstellung» im Freien. Ein martialisches «Museum». In einem Graben sind Panzer und Kriegsmaterial, das die Hizbollah der israelischen Armee abnehmen konnte. Darüber ein metallenes Spinnennetz. Als Israel 2006 sich aus dem Libanon zurückzog, habe Hassan Nasrallah gesagt, Israel sei so fragil wie ein Spinnennetz. Dass ein Spinnennetz eher für Stärke steht, übergeht Mansour mit einer wegwerfenden Handbewegung. Das ausgestellte Kriegsgerät, das Spinnennetz, der Graben, das sei eine Botschaft. «Wer unser Land bedroht, landet im Graben», sagt Mansour. «Alle Eindringlinge.»

Alle? Auch die Syrer? Mansour lacht. «Lassen wir das. Die haben ihre eigenen Probleme.»

Von Mleeta aus sieht man Israel. 45 Kilometer entfernt. 130 Tanks habe der «Widerstand» zerstört. Kommen die Waffen dafür aus Syrien? Dem Iran? Mansour lächelt. «Nutzen Sie Ihre Logik.» Terroristen? «Wir sind nicht in Israel und Palästina eingefallen, wir haben unser Land und unsere Familien verteidigt.»

Tatsächlich hatte die Zivilbevölkerung im Süden die meisten Opfer zu beklagen, wenn Israel jeweils auf einen palästinensischen Angriff reagierte. Die Hinterbliebenen und Vertriebenen wurden zu Rekrutierungsmaterial für die iranische Revolutionsgarde, die 1982 vom Bekaa-Tal aus die Hizbollah gründete. Mitglieder der Amal-Bewegung des heutigen Parlamentssprechers Nabih Berri, Mitglieder schiitischer Gruppen, die der israelischen Besatzung Widerstand leisteten, und Flüchtlinge aus dem Südlibanon.

Mansour zeigt auf einen Hügel im Westen. 1985 die Positionen der Südlibanesischen Armee und der Israelis. Der «Widerstand» grub damals ein Tunnelsystem. Zwei Meter hoch, ein Meter breit, mit Lüftungssystem. Drei Jahre hätten sie dafür gebraucht, sagt Mansour bewundernd. Im Inneren Reliquien aus dem Bürgerkrieg, ein C-64-Computer, Karten des Libanon, ein Funkgerät, Militäruniformen, ein Maschinengewehr. Die Fahne der Hizbollah neben der libanesischen, rot-weiss-rot mit der grünen Zeder in der Mitte.

Mleeta hat derzeit wenig Besucher. Eine britische Touristin. Ein paar Leute der Beobachtermission im Libanon. Eine Handvoll Touristen aus islamischen Ländern mit Kindern. Und Hassan Nasrallahs Cousin Syed Hashem Safidie, Leiter des Exekutivrats der Hizbollah, begleitet von Bodyguards und einer Crew des Hizbollah-TV-Senders al-Manar. Im Kinosaal läuft in Endlosschleife ein Propagandafilm. Die Helden des «Widerstands» gegen die übermächtige israelische Armee. Blutverschmierte Kinderleichen. Trümmer. Weinende Mütter.

Das Massaker von Qana

Robert Fisk war auch damals vor Ort, als Israel 1996 ein UN-Flüchtlingslager beschoss und 106 Menschen starben. Er sah den Artillerieangriff. Vergeltung für Raketen auf Israel. Die wiederum Vergeltung für den Tod eines Jungen durch eine Sprengfalle waren. Erst stritt Israel ab, von den Flüchtlingen gewusst zu haben. Die Bilder eines UN-Soldaten von einer israelischen Drohne über dem Camp während des Angriffs bewiesen aber das Gegenteil.

Im Libanon: Das lesen Sie nächste Woche in Teil III

«Gewinner und Verlierer» – der Libanon nach der Parlamentswahl: Besuch bei Michel Mouawad, der das politische Erbe seines ermordeten Vaters antreten will. Und bei ehemaligen Ministern, die mit der Regierung von Premierminister Saad Hariri hart ins Gericht gehen. Wer wird ins Parlament gewählt? Und was sind die Hoffnungen der Bürgerinnen und Bürger im Land – glauben sie an eine Zukunft?

Im Libanon

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