Das Macron-Paradox

Der französische Präsident Emmanuel Macron ist seit einem Jahr im Amt. Enttäuscht er? Überzeugt er? Die Antwort lautet: beides.

Von Daniel Binswanger (Text) und Andrey Kasay (Illustration), 02.05.2018

Das Macron-Paradox
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Er ist der Komet, der weisse Ritter, der auftaucht aus dem Nichts, Le Pen verhindert, Europa vor dem drohenden Untergang rettet, mit einer Revolution aus der Mitte der Gesellschaft der Politik des 21. Jahrhunderts den Weg von Demokratie und Fortschritt weist. Er ist das Wunderkind, dem es gelingt, im Alter von 39 Jahren zum Präsidenten der Französischen Republik zu werden – gegen die Traditionsparteien, als Quereinsteiger, gestützt allein auf politischen Instinkt, überlegene Intelligenz, eine fast unheimliche Verführungskraft. Emmanuel Macron ist ein historisches Ausnahmephänomen. Daran besteht kein Zweifel.

Jetzt, da er ein Jahr im Amt ist, wäre es Zeit für eine erste Bilanz. Doch bei allen Lobgesängen und Vorschusslorbeeren: Bilanz zu ziehen, ist unmöglich. Der Durchmarsch des Kandidaten Macron wurde ein Jahr vor den Wahlen von fast niemandem vorausgesehen. Die Leistung des Präsidenten Macron ein Jahr nach seinem Sieg scheint jedoch fast noch ungreifbarer. Beispielhaft für sein gesamtes Regierungshandeln wirkt die seltsame Schulterklopf- und Tadelungsstrategie, mit der er jüngst beim Staatsbesuch bei Donald Trump taktiert hat. In dem speziellen Fall mag das Vorgehen voller Widersprüche bewusst auf die infantile Psychologie des amerikanischen Staatschefs zugeschnitten gewesen sein. Aber ganz generell wird das Handeln von Macron von scheinbar unauflösbaren Paradoxien bestimmt.

Selten hat eine politische Figur die Widersprüche einer politischen Situation so unvermittelt in einer Person vereint. «Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe», schrieb Hegel in der «Wissenschaft der Logik». Wäre es möglich, dass die Ausnahmefigur, die der Retter der Europäischen Union sein soll, am Ende eine Bilanz hat, die sich reduziert auf nichts? Auch das wäre ein voreiliger Schluss. Es lässt sich eben kaum eine Aussage machen über Emmanuel Macron, deren Antithese nicht ebenfalls als wahr betrachtet werden kann. Machen wir also eine Zwischenbilanz in vier Paradoxien.

1. Macron steht für die kraftvolle Renaissance der politischen Mitte. Das ist in unserer hyperpolarisierten Welt eine grosse Errungenschaft. Er hat eine Regierung gebildet mit Persönlichkeiten von rechts und von links, dem rechten Premierminister Edouard Philippe, dem Altsozialisten Gérard Collomb als Innenminister. Er betreibt eine Politik, die Elemente von rechts – Arbeitsmarktflexibilisierung, Budget-Disziplin – mit linken Anliegen wie einer verbesserten Chancengleichheit im Bildungswesen oder Umweltschutz verbindet. Er hat gesellschaftspolitisch einerseits ein progressives Profil – volles Adoptionsrecht für homosexuelle Paare –, kann sich aber auch sehr konservativ zeigen, zum Beispiel in der Asylpolitik.

Doch die Gegenthese trifft ebenfalls zu: Macrons Rückhalt ist gar nicht stark. Er profitiert lediglich von der Schwächung der politischen Pole – und diese Schwächung ist hauptsächlich Zufällen zu verdanken.

Der heutige Präsident hätte es nie ins Amt geschafft, wenn er nicht zum Nutzniesser der für Frankreich relativ neuen Primärwahlen bei den Sozialisten und bei den Républicains geworden wäre. Hätten die Sozialisten statt Benoît Hamon den viel populäreren Manuel Valls aufgestellt, wäre Macron niemals in den zweiten Wahlgang gekommen. Hätten die Républicains statt dem erzkonservativen François Fillon den Mittepolitiker Alain Juppé nominiert, hätte nichts mehr seine Wahl verhindern können. In beiden Grossparteien haben sich die Scharfmacher durchgesetzt. In der Mitte ging deshalb eine unverhoffte Lücke auf, breit wie die Champs-Elysées.

Es kommt hinzu, dass selbst der eigentlich suboptimale Kandidat François Fillon unter normalen Umständen die Wahl wohl für sich entschieden hätte. Nach der Pleite von Hollandes Präsidentschaft standen alle Zeichen auf den üblichen Wechsel von links nach rechts. Aus dem Rennen geworfen wurde Fillon von den Korruptionsvorwürfen gegen seine Person, die plötzlich auftauchten und seiner Kampagne den Garaus machten. Macron hatte nicht zuletzt unglaubliches Glück.

Unter dem Druck des erstarkenden Front National ist in der Mitte zwar sicherlich eine echte Dynamik entstanden. Aber ein grosser Teil von Macrons Erfolg beruht darauf, dass die Traditionsparteien sich selber sabotiert haben. Macrons reale politische Basis dürfte schmäler sein, als seine heutige Machtfülle vermuten lässt. Allerdings geht vorderhand die Selbstdemontage des linken und des rechten Lagers weiter. Die Républicains haben sich weit nach rechts positioniert, die Sozialisten sind am Boden und müssen das Feld dem Linksausleger Jean-Luc Mélenchon überlassen. Der Präsident hat momentan gar keine ernst zu nehmenden Gegner.

2. Macron steht für Bürgernähe und Demokratie. Er ist eine Kraft der Erneuerung in der elitären und verknöcherten Kultur der französischen Politik. Nur schon dadurch, dass Macrons Bewegung La République en Marche die alteingesessenen Parteiapparate ausboten konnte, hat er für frischen Wind gesorgt. Es kommt hinzu, dass er das Versprechen, Vertreter aus der Zivilgesellschaft ins Parlament zu holen, weitgehend umgesetzt hat. Viele davor nicht politisch engagierte Franzosen haben sich im Präsidentschaftswahlkampf für Macron eingesetzt und sind seiner Bewegung beigetreten. Dass der junge Präsident einen Mobilisierungsimpuls ausgelöst hat, der weite Teile der französischen Gesellschaft erfasst, ist unbestreitbar. Auch hat sich Macron dazu verpflichtet, neue Formen der partizipativen Demokratie und der Bürgerkonsultation einzuführen.

Doch auch die Gegenthese gilt: Macron hat ein extrem vertikales Verständnis der Machtausübung. Sein Stil ist autoritär. Er zementiert die anachronistischsten und zweifelhaftesten Aspekte des Präsidialsystems der Fünften Republik.

Es gibt dafür einen strategischen Grund. Die extreme Machtfülle des Präsidialamtes sowie die generell zentralistische und hierarchische Organisation der Staatsorgane ist in Frankreich schon lange ein Politikum. Wichtige Akteure plädieren für einen Systemwechsel, gar für den Übergang von der fünften zu einer Sechsten Republik, deren Institutionen dem gängigen Modell parlamentarischer Demokratien näherkommen sollen.

Macrons Vorgänger François Hollande liess zwar die Finger von grundlegenden Reformen, aber er hat versucht, wenigstens das quasi-monarchische Gehabe der Präsidentenrolle zu mässigen. Der Slogan seiner Amtszeit war «la présidence normale», die «normale Präsidentschaft». Macron jedoch hat aus der Unpopularität von Hollande die Lehre gezogen, dass ein autoritärer Stil beim französischen Publikum immer noch am besten ankommt. Den kultiviert er jetzt gezielt.

Seine Arbeitsmarktreformen hat er auf dem Verordnungsweg durchgesetzt, was zum Gegenstand heftiger Debatten wurde. Seinen Generalstabschef Pierre de Villiers, der Kritik an der Senkung des Verteidigungsetats laut werden liess, hat er durch öffentliche Massregelung zum Rücktritt gedrängt. Die Bewegung En Marche wurde zu einer Partei umfunktioniert, die selbst für französische Verhältnisse ungewöhnlich hierarchisch geführt wird. Macron ist nicht nur ein klassisches Gezücht des französischen Bildungs- und Karrieresystems. Er ist das exakte Gegenteil eines Basisdemokraten. Dass unter seiner Führung die politische Kultur Frankreichs eine grössere Volksnähe entwickeln wird, erscheint gelinde gesagt illusorisch.

3. Macron ist bisher ungeheuer durchsetzungsstark. Seine Medienpräsenz ist erdrückend. Ohne dass es zu nennenswerten Gegenreaktionen gekommen wäre, hat er in Rekordzeit im notorisch reformunfähigen Frankreich eine Arbeitsmarktreform durchgebracht. Viele Beobachter hätten das nicht für möglich gehalten. Die aktuellen Eisenbahnstreiks werden nun zu einem ersten ernsthafteren Test, aber es hat nicht den Anschein, als ob sie auf breite Unterstützung stossen und gefährlich werden könnten. Die Pläne für eine umfassende Rentenreform, die bis 2019 durchgeführt werden soll, sind nicht weniger weitreichend, und vorderhand scheint die Regierung auf Kurs. Macrons Agenda ist ambitiös, und bis anhin ist er auf der Höhe seiner Versprechen.

Die Gegenthese: Der Präsident setzt seine Politik um, aber zweifelhaft ist, ob er damit auch die intendierten Ziele erreicht. Das Kernproblem Frankreichs ist die hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit. Im letzten Quartal hat sich die Lage überraschend positiv entwickelt, die Arbeitslosigkeit sank auf 8,6 Prozent und ist so tief wie seit dem Jahr 2009 nicht mehr. Allerdings sind dafür vorwiegend externe Gründe verantwortlich, hauptsächlich das ungewöhnlich starke globale Wachstum, das weiterhin die gute Konjunkturentwicklung prägt. Die Arbeitsmarktreformen mögen einen Beitrag dazu leisten, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie stark ins Gewicht fallen. Der von Macron relativ offen deklarierte Hauptzweck der forschen Reformen war ein anderer: die Leidensfähigkeit Frankreichs unter Beweis stellen, bei der deutschen Regierung Vertrauen schaffen und dann auf europäischer Ebene eine wachstumsfreundlichere Politik anschieben. Damit könnte Macron scheitern – was seine gesamte Strategie infrage stellt.

Fast das gesamte erste Jahr seiner Amtszeit hat der vermeintlich so durchsetzungsstarke Präsident im Grunde mit Warten verbracht – warten darauf, dass Deutschland wieder eine handlungsfähige Regierung hat. Gemäss seinem Plan hätte die Karenzzeit nur bis in den Herbst 2017 dauern sollen, nur bis zur Bundestagswahl. Dann würde Angela Merkel wieder im Sattel sitzen, auf die Euroskepsis der deutschen Bevölkerung weniger Rücksicht nehmen müssen und sich wohl oder übel zu einem europäischen Investitionsprogramm, einer echten Bankenunion, einem europäischen Finanzminister, vielleicht sogar zu Eurobonds bekehren. So weit der Plan. Dieses Kalkül ist ins Leere gelaufen.

Merkel ist schwächer denn je, die EU-skeptischen Kräfte gewinnen in Deutschland an Terrain, die Feinde einer expansiveren europäischen Finanzpolitik haben Rückenwind, das erste Treffen zwischen dem französischen Präsidenten und der endlich nicht mehr kommissarisch regierenden Kanzlerin war eine herbe Enttäuschung. Macron hat in Frankreich vieles auf die Wege gebracht, aber wenn er auf europapolitischer Ebene nicht reüssiert, könnte seine ganze Präsidentschaft infrage gestellt sein.

4. Hier liegt wohl der Kern des Macron-Paradoxons. In Paris hat er freie Fahrt, eine historisch einmalige Chance, seine Modernisierung Frankreichs umzusetzen. Doch das Schicksal seiner Präsidentschaft entscheidet sich in Berlin. Dort aber ist der Lauf der Dinge alles andere als zu seinen Gunsten.

Ist Macron nun also der weisse Ritter oder ein weiterer Zögerer, der am Ende bloss das Weiterwursteln um vier weitere, letztlich nutzlose Jahre verlängert? Für eine definitive Bilanz ist es zu früh. Aber gut sieht es nicht aus.

Debatte: Kann Macron der Leader der westlichen Welt sein?

Hat er es wirklich geschafft, eine neue Synthese zwischen dem linken und dem rechten politischen Spektrum zu stiften? Ist er der erhoffte Erneuerer der verknöcherten Kultur der französischen Politik? Wie bewerten Sie seine Arbeitsmarktreform? Und wird er der Erneuerer der Europäischen Union sein – oder der Bittsteller von Angela Merkel bleiben? Hier geht es zur Debatte.

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