Väterland

Familie ist in der Schweiz Frauensache. Oder? Vier Familienporträts aus der Perspektive der Samenspender und Financiers. Der Väter.

Von Solmaz Khorsand (Text) und Joan Minder, Claudia Schildknecht, Linus Bill und Guadalupe Ruiz (Bilder), 30.04.2018

Väterland
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Die Schweizer Familienpolitik ist klar: Familie ist Frauensache. Der Mann ist Samenspender und Financier. Mehr Schablonen kennen Politik und Wirtschaft nicht. Ein Gute-Nacht-Kuss hier, ein Schaukelnachmittag da. Das muss reichen. So will es das System. Nur: Die Realität ist anders.

Vier Väter. Vier Phasen. Vier Versuche, es richtig zu machen.

1. Der Systemgefangene

Neo Vergeat hat sich verdammt lange Zeit gelassen. 9 Monate, 2 Wochen und 20 Stunden. Am 30. April ist er schliesslich aufgekreuzt, um 7 Uhr früh im Basler Universitätsspital. Die Ärzte nahmen ihn gleich mit. Neonatologie. Neo hatte Fruchtwasser verschluckt, in das er vorher gekackt hatte. Das schmutzige Wasser hatte die Lunge verklebt. «Er konnte nicht atmen», erklärt Joel Vergeat. Er bemüht sich, den Tag der Geburt seines Sohnes zu rekonstruieren. Die blaue Haut. Die Schläuche. Das wortkarge Krankenhauspersonal. Seine Frau Neve, die erschöpft im Zimmer zurückblieb, während er die Ärzte begleitete.

Dann endet Vergeats Erinnerung.

Joel Vergeat mit Sohn Neo in ihrer Wohnung in Basel. Bild: Joan Minder

«Du musstest dann gleich schaffen gehen, das weiss ich noch», sagt seine Frau Neve. Joel nickt. Beide sitzen im Wohnzimmer, auf einer Bank am Fenster, in ihrer Basler Wohnung. Sie liegt unweit des Basler Zoos im Stadtteil Gundeldingen, wo junge Wilde langsam sesshaft werden und den Jutesack gegen das Babytragetuch tauschen. Die Mittagssonne scheint ins Zimmer. Es ist voll von Vintage-Kommoden und Brockenhaus-Stühlen, in der Mitte liegt eine Krabbeldecke, die zu einem Quadrat in der Mitte des Raumes zusammengefaltet ist und von einem Laufgitter umzäunt wird.

Neo schläft im Nebenzimmer. Seine Eltern haben kurz Zeit zum Reden. Beide. Ein Luxus. Neos Geburt ist nun ein Jahr her. Hart waren seine ersten Tage auf dieser Welt. Neve erinnert sich an jedes Detail. Joel nicht.

«Ich musste arbeiten», beteuert Joel Vergeat. Er hatte doch erst wenige Wochen vor Neos Geburt in einer Galerie als Berater und Verkäufer angefangen. Er musste Einsatz zeigen. Er konnte nicht anders. Sein Sohn wurde an einem Sonntag geboren, genau einen Tag vor dem 1. Mai. Jackpot. Zwei volle freie Tage. Niemand konnte ja mit einer Woche Neonatologie rechnen. «In der Mittagspause habe ich immer im Krankenhaus vorbeigeschaut, für eine halbe Stunde. Und am Abend nach der Arbeit», sagt Joel Vergeat. Erst im Nachhinein ist ihm gedämmert: Dass es vielleicht nicht so sein muss. Dass man sich Zeit nehmen kann für die Geburt seines Kindes. Damit man sich in den ersten Stunden, Tagen und Wochen als Familie gemeinsam einspielen kann. Können dürfen muss, ohne dass das Gespenst einer bankrotten Schweiz heraufbeschworen wird.

Seit Jahren läuft die Debatte um den Vaterschaftsurlaub. 20 Tage müssten doch für alle Väter drin sein, kampagnisierte erst im vergangenen Sommer die Initiative «Vaterschaftsurlaub jetzt!». Sie irrte. 20 Tage sind nicht drin. Man bleibt beim Status quo: beim Goodwill der Arbeitgeber. Dabei wünscht sich die Mehrheit der Schweizer und Schweizerinnen eine gesetzlich verankerte Zeit von zwei bis vier Wochen für Väter. Das ergab eine schweizweite Umfrage der Gewerkschaft Travail Suisse im Jahr 2015. Darin sprachen sich 80 Prozent für einen Vaterschaftsurlaub aus. Einige grosse Unternehmen kommen diesem Wunsch bereits nach und bieten ihren Jungvätern die Elternzeit an. Doch das Gros bleibt bei der eidgenössischen Sparvariante: ein Tag, gerade so viel, wie es das Gesetz für «einen besonderen Anlass» vorsieht, etwa einen Umzug, ein Begräbnis, die Hochzeit des eigenen Kindes.

Vor Neos Geburt hat Joel Vergeat die Schweizer Familienpolitik nie interessiert. Es war halt so. Nach Neos Geburt hat sich das geändert. Worüber sich zuerst die Haare raufen? Den inexistenten Vaterschaftsurlaub? Die 14 läppischen Wochen Mutterschaftsurlaub? Oder doch erst die Kitas für 100 Franken pro Tag?

Selbstkritisch soll er werden, das wünscht sich Joel Vergeat für Neo. Bild: Joan Minder

Fast wäre Joel Vergeat in die Falle getappt. Fast hätte er an das traditionelle Bild der Familie geglaubt. Er, der Ernährer, müde vom Schaffen draussen in der Welt. Sie, Herrin über Kind und Kegel. Er schüttelt den Kopf. Ausgerechnet er, der immer von Partnerschaft auf Augenhöhe sprach, war irritiert, warum Neve nicht aufgeräumt hatte. Abgesehen von Neo hatte sie doch den ganzen Tag zu Hause Zeit gehabt. «Da gab es am Anfang schon Reibereien», erinnert sich Neve Vergeat.

Ihr Mann hat seine Lektion rasch gelernt. Spätestens, als sie wieder zu arbeiten begann. 60 Prozent arbeitet Neve Vergeat als Assistentin der Geschäftsleitung der Fachstelle «katholisch bl-bs», die Pfarrpersonal den Umgang mit Flüchtlingen, Prostituierten und Junkies näherbringt. Nun war auch sie wieder zurück in der Welt. Und er blieb zu Hause.

Seit einem halben Jahr ist Joel Vergeat 20-Prozent-Papa. Dienstag bis Freitag arbeitet er in der Galerie. Montags bleibt er daheim – und arbeitet für Neo. Seither hat er viel begriffen. Dass so ein Kind verdammt anstrengend ist. Und dass er Hochachtung hat vor jedem, der sich das Tag für Tag 100 Prozent antut. Das wollten die Vergeats nie. Die 100 Prozent. Nie 100 Prozent arbeiten, nie 100 Prozent zu Hause sein. Ein gesunder Mix, in dem jeder ein Stückchen seinen Traum leben kann.

Seit sieben Jahren sind Joel und Neve Vergeat ein Paar, seit fünf verheiratet. Er hat ihren Nachnamen angenommen, weil es ihr wichtig war und ihm egal. «Warum sollte ich nicht ihren Namen annehmen?», sagt Joel Vergeat. Er rüttelt gerne an der Tradition. Ein Frauenrechtler sei er, sagt Neve Vergeat. Unlängst hat er seine Kollegin aufgeklärt, dass sie um 1500 Franken weniger verdiene als er. Erst so hätte sie eine Ausgangsbasis, um mit dem Chef zu verhandeln, sagt er. Ihm ist es wichtig, den Mund aufzumachen, wenn andere schweigen. Vielleicht hat er das von seinen Eltern, einem Sozialarbeiter und einer Sozialpädagogin.

Inzwischen ist Neo aufgewacht. Wie ein kleiner Buddha tapst er mit weit aufgerissenen braunen Augen auf allen Vieren über das Parkett. Eins, zwei, drei, Pause. Eins, zwei, drei, Pause. Wie choreografiert plumpst er durch das Wohnzimmer hin zur Sitzbank beim Fenster, wo sein Vater Kaffee trinkt. Vergeat erspart ihm den Rest des Weges, hebt ihn auf und küsst ihn auf die Wange.

«Ich will Neo so erziehen, wie ich erzogen wurde», sagt er. Viel haben seine Eltern mit ihm und seinem jüngeren Bruder diskutiert, als sie klein waren. Respekt vor anderen sollten sie haben, egal welche Haut, welches Geschlecht, welche Religion. Und selber denken sollten sie. Das will er seinem Sohn auch mitgeben. Dass er das Wort ergreift, wenn Dinge falsch laufen. Dass er gegen den Strom schwimmt. Und dass er selbstkritisch bleibt. Etwas, womit Joel Vergeat selbst am meisten Mühe hat. Neo soll es einmal besser machen als sein Vater. Und ist es nicht das, was sich alle Eltern für ihre Kinder wünschen? Dass sie es eines Tages besser machen als man selbst?

2. Der Systemverweigerer

Entweder ganz oder gar nicht. Das ist Alexander Liechtis Prämisse. Er mag keine halben Sachen.

Liechti, 37, blonde zottelige Haare, Zauselbart. Er sitzt auf seinem Balkon und schaut auf die Wiesen, schneebetupfte Berggipfel, die Schafe des Nachbarn unterhalb des Balkons. Ein schmaler Streifen des Gartens gehört Liechti, da zieht er in einem Treibhaus Tomatensetzlinge, die er auf dem Markt verkauft. Besorgt blickt er immer wieder hinunter. Er fürchtet, dass der Wind die Plane wegreissen könnte. Gleich hinter der Dorfkirche von Malans wohnt er, in Graubünden, in einem Bauernhaus mit lila Fensterläden.

Halbherzig wollte Alexander Liechti nie Vater sein. Entweder ganz oder gar nicht. Bild: Claudia Schildknecht

Fast sein ganzes Leben hat Alexander Liechti in Malans verbracht. In dem Dorf mit den gut 2300 Einwohnern nennt ihn keiner Alexander. Hier heisst er nur Joschgi, eine schweizerische Koseform der russischen Koseform «Aljoscha» für Alexander. Liechti weiss nicht mehr, wie er zu seinem Spitznamen gekommen ist. Nur, dass es immer schon so war. Im Ort kennen alle den «Joschgi». Und sie kennen Sean, seinen Neunjährigen.

Es ist Mittwochnachmittag. Papazeit. Sean lümmelt auf dem Sofa im Wohnzimmer. Braune Haare bis zum Kinn, dunkle Augen, freches Lächeln. Dann hat er genug vom Lümmeln. Er hat Hunger. Aus der Küche holt er sich eine Mango und macht sich mit dem Messer an ihr zu schaffen.

Fünf Jahre waren Liechti und seine Ex-Freundin ein Paar. Just, als sie sich trennten, wurde sie schwanger. Das Kind wollten sie trotzdem. Und Liechti wollte ein echter Vater sein, keine Wochenendversion. «Ich wollte nie halbherzig Papa sein. Dann hätte ich lieber gesagt, ich habe gar nichts mit dem Kind zu tun», sagt er.

Seither kümmert er sich exakt 3½ Tage die Woche um Sean. Von Sonntagnachmittag bis Mittwochabend. Den Rest verbringt der Sohn bei der Mutter, ein paar Häuser weiter. Und selbst das hat den 37-Jährigen anfangs gewurmt. «In drei Tagen kann so viel passieren, wenn sie noch klein sind. Nach drei Tagen ist er grösser und kann schon viel mehr. Er war jedes Mal wie ein neues Kind, wenn ich ihn wieder hatte», erzählt Liechti. Das erste Sitzen, die ersten Schritte, das erste Wort. All das hat Liechti nicht vergessen. «Hallo» war Seans erstes Wort. «Blömblöm» für Blume das zweite. «Das sind so einmalige Sachen, und wenn es vorbei ist, ist es vorbei, und du hast es verpasst.»

Sohn Sean wollte nicht mit auf das Foto. Er hat seinen eigenen Kopf. Und das ist gut so, findet Alexander Liechti. Bild: Claudia Schildknecht

In der Schweiz investieren Väter rund 14 Stunden pro Woche in die Kinderbetreuung, die Mütter fast 22 Stunden. In Paarhaushalten bleibt das meiste an Betreuung an ihnen hängen. So bleiben vier Fünftel aller Mütter mit Kindern unter 13 Jahren zu Hause, wenn eines ihrer Kinder krank ist, und sie kümmern sich auch hauptsächlich darum, das Kind anzuziehen, in die Krippe zu verfrachten, in die Schule, zum Sport.

Dass das auch sein Part ist, weiss Liechti. Erwerbsarbeit ist Liechti nicht wichtig. 54 Stunden im Monat, 25 Prozent in der Woche, das muss reichen. Meistens hilft er beim Weinbau, für den Malans berühmt ist. Er weiss, dass seine Eltern mehr Freude gehabt hätten, wenn ihr Sohn Direktor in einem Luxushotel geworden wäre. Er schüttelt den Kopf. «Ich gehe nicht gerne schaffen. Von 7 bis 12 und dann wieder von 1 bis 5, das ist nichts für mich. Geld bedeutet mir nicht viel. Ich brauche genug zum Überleben, aber nicht viel für mich», sagt er. «Geld kann man nicht essen», ruft Sean aus dem Zimmer, während er seine Mango mampft.

Von Beginn an lauscht er dem Gespräch und hilft seinem Vater beim Nacherzählen. Wie der Opa den Papa als Kind immer aufgezogen hat, dass er den Fussball bis zum Mond schiessen kann und wie traurig der Papa war, als die Oma vor zwei Jahren gestorben ist und er seinen Geburtstag zum ersten Mal ohne sie feiern musste.

Liechti lächelt. Eng ist das Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Manchmal fürchtet Liechti, es könnte zu eng sein. Ungern ist Sean allein. Lieber unternimmt er Dinge mit seinem Vater.

Sean hat seinen Pfeil und Bogen geholt. Im Wald gibt es einen kleinen Parcours, den eine Nachbarin aus dem Boden gestampft hat, mit Zielscheiben und Mardern aus Schaumstoff, Plastikhirschen und der Hauptattraktion: einem Plastikwildschwein, das über ein Seil herunterrattert und darauf wartet, von zittrigen Kinderhänden mit Pfeil und Bogen erlegt zu werden.

Sean hat seinen Spielbogen bereits gespannt. Sein Vater schmiert noch zwei Honigbrote. Die Mango kann dem Sohn unmöglich gereicht haben.

Ob er sich vorstellen kann, mehr Kinder zu haben? «Nein», sagt Liechti. «Ausser ich bin Millionär.» So ein Kind ist schon teuer. Die 2000 Franken im Monat reichen vielleicht ihm, aber unmöglich einer Kinderschar. «Je mehr Kinder du hast, desto mehr musst du schaffen. Je mehr du schaffen musst, desto weniger Zeit hast du für die Kinder. Und wenn du keine Zeit hast, dann brauchst du auch keine Kinder mehr», sagt er. Er bleibt seiner Prämisse treu: Ganz oder gar nicht.

3. Der Systemvirtuose

Vor der Pubertät war alles leichter. Da konnte Benjamin Lanz seinen Kindern sagen, was sie zu tun und vor allem was sie zu lassen hatten. Wann sie essen, was sie anziehen sollen, mit wem sie ihre Zeit verbringen und wann sie zu Bett zu gehen haben. «Jetzt werden sie langsam erwachsen und selbstständig», sagt er.

Die Zeit der Leichtigkeit ist damit vorbei.

Fünf Kinder hat Benjamin Lanz. Oliver, 20, Valentina, 18, Sara, 17, Kerstin, 15, und Anna-Sophia, 13.

Fünf Kinder. Vier Teenager.

Die Zeit der Leichtigkeit ist endgültig vorbei.

Doch Benjamin Lanz hat Vertrauen. Denn er hat die perfekte Gebrauchsanweisung: die Bibel. «Wenn man die Bibel studiert, versteht man, dass Kindererziehung keine Überforderung sein muss», erklärt er. Im Prinzip gebe es nur zwei wichtige Regeln: «Gott zu lieben von ganzem Herzen und ganzer Kraft. Und den Nächsten wie sich selbst.»

Ein Segen ist die Familie für Benjamin Lanz. Hier mit seinen Töchtern Sara, Anna-Sophia und Kerstin (von links). Bild: Linus Bill

Lanz lächelt. Er sitzt am Esstisch in der Genossenschaftswohnung in Nidau, einem Ort mit knapp 7000 Einwohnern unweit von Biel. Draussen scheint die Sonne. Die Nachbarskinder tollen zwischen den Häuserparzellen mit getrimmten Vorgärten. Es ist Samstagnachmittag. Lily, Lanz’ Frau, hat Nussgipfel gebacken. Sie räumt die Küche auf. Sie will das Gespräch nicht stören. «Mein Erziehungsverständnis darf nicht sein: ‹Was dient mir?›, sondern ‹Wie erziehe ich meine Kinder in der Verantwortung Gott gegenüber?›», sagt Benjamin Lanz. Dann hält er kurz inne. «Das tönt schon fromm, oder?»

Lanz, 54, gross gewachsen, breites Lächeln, ist sehr bedacht in seinen Aussagen. Er weiss, dass er eine Entscheidung getroffen hat, die nicht viele getroffen haben. Und dass er deswegen schnell missverstanden werden könnte. Als Frömmler. Als Freak. Als Fanatiker.

Benjamin Lanz ist Christ. Er und seine Familie gehören der «Freien Missionsgemeinde» an. Die Freikirche zählt in der Schweiz rund 4000 Mitglieder. Seit seinem 18. Lebensjahr ist Lanz beseelt von Gott. Sein bester Freund hat ihn damals angefixt. Er hat ihm gedroht, dass er sich den Himmel abschminken könne, wenn er weitermache wie bisher. So gleichgültig. Er könne noch so brav und fromm tun, Gott könne er nichts vormachen. Der sehe in die Herzen.

Seither lebt Benjamin Lanz mit Gott.

Gott war es, der ihn und seine Frau vor 20 Jahren inspiriert hat, eine Familie zu gründen. In ihrer damaligen Gemeinde in Zürich war das junge Paar beeindruckt von den vielen Grossfamilien. Wie laut es war, wie lebendig. Das wollten sie auch. Am Ende sind es auch bei ihnen fünf Kinder geworden.

Die Aufgaben waren von Anfang an klar verteilt. Er geht arbeiten. Sie bleibt bei den Kindern. Klassisch. Traditionell. Christlich. Schweizerisch? Nicht ganz. Die meisten Mütter gehen nach der Geburt ihres ersten Kindes wieder arbeiten, nur 24,3 Prozent bleiben auf Dauer zu Hause. Nach dem zweiten Kind sind es 38,6 Prozent. Doch die meisten Mütter haben keine fünf Kinder. Gerade mal 5 Prozent aller Familien haben hierzulande vier oder mehr Kinder.

«Wir wollten die Kinder nicht abschieben. Ich bin extrem dankbar, dass wir unsere Kinder einen Grossteil ihrer Schulzeit zu Hause unterrichten konnten», sagt Benjamin Lanz. Seine Frau Lily hat sie zu Hause unterrichtet, wie es laut Schätzungen zwischen 700 und 1000 Schweizer Familien tun. Wozu dem Staat eine Aufgabe übertragen, die Gott für sie vorgesehen hat? Er habe ihnen die fünf Kinder anvertraut. Nun liegt es an den Eltern, sie anzuleiten.

Zeit ist Benjamin Lanz wichtig. Er begreift seine Vaterschaft als Dauereinsatz. Keine Quality Time am Wochenende, sondern permanente Präsenz. So gut es eben geht. Schliesslich muss einer das Geld verdienen. 100 Prozent. Bei den ersten drei Kindern war er noch angestellt. Danach hat er sich als Grafiker selbstständig gemacht. So kann er sich seine Arbeit einteilen. Und jederzeit heimkommen, wenn seine Frau «die Vision» verliert, so wie früher, als die Kinder noch klein waren und es ihr mit dem Homeschooling, der Hausarbeit oder den frechen Antworten zu viel wurde. Dann spricht Benjamin Lanz ein Machtwort. «Das gehört zur Aufgabe eines Vaters. Ich muss meine Frau schützen, wenn die Kinder zu ihr frech sind, nur weil sie die Mama ist», sagt er.

Im Sinne Gottes will Benjamin Lanz seine Kinder anleiten. Bild: Linus Bill

Lily Lanz hat sich an den Tisch gesetzt und hört aufmerksam zu. Ob es ihr je zu viel wurde mit fünf Kindern? Ob sie sich je nach etwas anderem gesehnt hat? Sie lacht. «Nein, Familie ist das grösste Abenteuer», sagt sie. Als Christin habe man eine andere Perspektive auf das Leben. Es sind nicht die 80 Jahre auf Erden. Die sind nur die Bewährungsprobe. «Im Himmel werde ich alles haben, was ich in diesem Leben nicht hatte. Das ist für mich eine herrliche Perspektive.»

Doch die Probe hat es in sich. Vor allem, je älter die Kinder werden. Gross sind die Versuchungen. Neue Freunde, eigenes Geld, mehr Freiheit. Lanz hofft, dass seine Erziehung all die Jahre nicht vergebens war. «Für mich wäre es schon eine Enttäuschung, wenn meine Kinder eines Tages Gott als unseren Vater im Himmel verwerfen. Und sagen: Ich weiss es selbst besser und gestalte mein Leben nach meiner Fasson», sagt er.

Oliver, der Älteste, ist der Testpilot für die Lanz’sche Erziehung. An ihm macht sich als Erstes fest, was hängen geblieben ist. Oliver lebt in einer WG in Biel, hat seine Lehre zum Landschaftsgärtner abgeschlossen und macht zurzeit seinen Armeedienst. Und er stellt als Ältester nun auch die grösste Herausforderung im Lanz-Clan dar. Kiffen, trinken, Frauen – all das steht nun plötzlich zur Debatte. Soll er mit den Kollegen abhängen, die so einem Lebensstil frönen? Wofür gibt er seinen Lohn aus? Und was ist mit Sex? Ist er wirklich nur innerhalb der Ehe erlaubt?

«Da haben wir keine Berührungsängste. Natürlich reden wir über solche Dinge», sagt Benjamin Lanz. Doch eines steht fest: Die Bibel ist der Massstab. Sie hat klare Regeln gesetzt. Als Christ müsste man sie nur befolgen. Hat er es geschafft, seinem Sohn diese Werte zu vermitteln? Hat er als Vater alles gegeben? Oder hat er versagt?

Lanz lächelt. «Jeder muss sein Leben vor Gott verantworten», sagt er, das sei nicht seine Aufgabe. «Oliver hat jetzt eine Freundin. In dem Sinn lebt er schon so, wie er möchte», sagt er. Morgen ist er mit der Entscheidung seines Sohnes aufs Neue konfrontiert.

Dann kommt Oliver zum Essen nach Hause. Mit Freundin.

4. Der Systemerhalter

Shefqet Cakolli kennt seinen Part. So wie alle Eltern in der Schweiz, die das Gröbste hinter sich haben, wenn die eigenen Kinder erwachsen sind. Phase II ist angesagt. Alles auf Anfang.

«Bald werde ich Grossvater», sagt er und lächelt.

Shefqet Cakolli mit seinen Töchtern Albulena (links) und Arbenora (rechts). Bild: Guadalupe Ruiz

Es ist Freitagabend, 19 Uhr, in der Kronaustrasse in der Grüze, Winterthur. Wie ausgestorben ist das Industriequartier zu dieser Zeit. Ein paar Halbstarke streunen zwischen Lagerhallen und Gestrüpp umher. Licht brennt nur bei Nummer 21, dem Jugendzentrum. Hier trifft sich der albanische Kulturverein «Dardania» zum wöchentlichen Volkstanz. Während die Mädchen und Buben vor dem Spiegel im Studio ihre Formationen üben, sitzen ihre Eltern in der schiffskojeähnlichen Kaffeeküche und reden. Mitten drin Shefqet Cakolli, 55, John-Travolta-Frisur, kariertes Hemd und einen Notizblock in der Hand, sein Equipment für den Interviewtermin.

Er ist Obmann des Kulturvereins. Vor 35 Jahren kam er aus dem Kosovo in die Schweiz. Vor 26 Jahren hat er seine Frau hier kennengelernt. Und vor 24 Jahren wurde er zum ersten Mal Vater: Albulena. Danach folgten ihre Geschwister Arbenora, 23, und Samir, 19.

Albulena erwartet nun ihr erstes Kind. Die Ärzte sagen, es wird ein Junge. Sie selbst traut den Ultraschallbildern noch nicht. Sie spricht noch vom «Es». Im August ist es so weit. Vier Monate bleibt Albulena dann zu Hause. Danach stehen Cakolli und seine Frau auf der Matte. Zum Aufpassen, zum Füttern, zum Windelwechseln. So läuft das. So machen es doch alle Grosseltern, nicht?

68 Prozent aller Schweizer Familien mit Kindern unter 13 Jahren lassen ihren Nachwuchs von Dritten betreuen, 47 Prozent davon greifen dabei auf Verwandte zurück. Der Zürcher Soziologe François Höpflinger hat ihre Leistung auf zwei Milliarden Franken beziffert – gesetzt, Oma und Opa würden die Rechnung stellen.

Cakolli denkt keine Sekunde daran. Er will nur seine Tochter unterstützen. Sie soll ihr Potenzial ausschöpfen. Ihr Studium fertig machen. Zwei Tage die Woche studiert Albulena soziale Arbeit neben ihrem Job auf der Gemeinde. Mit Kind wird sich das verzögern. Cakolli ist das egal. Sie soll fertig werden. Darauf beharren er und seine Frau.

Beide haben in Pristina studiert. Sie Jura, er Ökonomie. Beide konnten ihr Studium in der Schweiz nicht anwenden. Marxistische Theorien und kosovarische Jurisprudenz in gebrochenem Deutsch waren hier nie besonders gefragt. «Das war schon schwer, aber ich war mir nie zu schade zum Arbeiten», erklärt Cakolli. Er begann als Dachdecker und Schreiner. Nebenbei engagierte er sich für die Politik in der Heimat und organisierte Spenden und Kleidung. 2008 erlangte der Kosovo seine Unabhängigkeit. Und Cakolli schraubte sein Engagement zurück. Heute hat er sein eigenes Taxiunternehmen, den Verein und die Kinder.

Und bald sein Enkelkind.

Im August kommt Albulenas (rechts) erstes Kind zur Welt. Dann muss Shefqet Cakolli seinen Part spielen, den der Staat für ihn vorgesehen hat: den des Gratis-Kindermädchens. Bild: Guadalupe Ruiz

Überschaubar. Er freut sich und grinst jedes Mal, wenn er das Wort «Grossvater» sagt. Cakolli selbst ist in einer grossen Familie aufgewachsen, in Krileva, einem Ort knapp 40 Kilometer von Pristina entfernt. Elf Kinder waren sie insgesamt, neun Buben und zwei Mädchen. Cakolli war der Zweitälteste. Sein Vater war Imam. Ein «Cooler», wie er sagt, kein patriarchaler Fundi mit Schleierfantasien. Mit den Kindern hatte er wenig zu tun. Die Mutter hat sich um alles gekümmert, um Haushalt, Familie, den kleinen Hof mit den Tieren. Distanziert war das Verhältnis zum Vater. Nie hat er seine Kinder umarmt, sie nie geküsst, nie mit ihnen gespielt. Cakolli macht ihm keinen Vorwurf. So war das früher.

Doch Shefqet Cakolli wollte es anders machen. Er hat Windeln gewechselt, er hat seine Kinder vom Kindergarten abgeholt, und am Wochenende besuchte er mit ihnen Theater und Museen.

Unter der Woche hat er immer gearbeitet, seine Frau kümmerte sich um die Kinder, als sie noch klein waren. Später ging auch sie arbeiten, mal als Hauswartin im Fitnesscenter, dann als Taxifahrerin. Auch sie bedauert es, dass sie ihr Studium in der Schweiz nicht besser nutzen konnte. 300 Prozent hätte sie geben müssen, sagt sie dann immer. Die Emigration, die Sprache, die Fremde, die Kinder. Das war viel zu viel.

Ihre Kinder müssen diesen Rucksack nicht tragen. Sie können ihr Studium abschliessen. Und sie können dann auch davon profitieren. Dafür spielen die Cakollis auch den Part, den das System ohnehin für alle Eltern in der Schweiz vorgesehen hat: den der unbezahlten Kinderbetreuer.

So verschieden sie alle sind, eines haben die vier Männer gemeinsam: Ich bin ein guter Vater. Diesen Satz hat sich keiner zu sagen getraut. Höchstens: Ich versuche mein Bestes. Trial and Error. Egal ob auf dem Land oder in der Stadt. Egal ob als Freigeist oder Freikirchler. Egal ob als Sohn eines stummen Vaters oder eines redseligen.

Am Ende hoffen sie alle nur dasselbe: es nicht allzu sehr zu vermasseln.

Debatte: Was macht einen guten Vater aus?

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