Das empörte Schweigen der SP

Die SP verweigert dem Referendum gegen Sozialdetektive die Unterstützung. Das ist nicht nur feige, sondern auch strategisch falsch. Ein Kommentar.

Von Elia Blülle, 06.04.2018

Synthetische Stimme
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Die Geschichte liest sich so: Ein Anwalt, ein Student und eine Schriftstellerin kämpfen einsam gegen die Versicherungsspione, weil die SP sie im Stich lässt. Das könnte den Sozialdemokraten den Start ins Wahljahr 2019 verpfuschen.

Blicken wir zurück: Vor einem Monat hat das Parlament die gesetzliche Grundlage zur Überwachung von mutmasslichen Versicherungsbetrügern verabschiedet. Die Vorlage gibt Privatdetektiven mehr Kompetenzen als Polizei und Geheimdienst: Sie dürfen Verdächtige an öffentlich einsehbaren Orten observieren – das schliesst Balkone, Gärten und den Blick durchs Schlafzimmerfenster ein. Das alles ohne richterlichen Beschluss – den braucht es nur bei Überwachungen mit GPS-Peilsendern. Gemäss Bundesrat Alain Berset ist auch der Einsatz von Drohnen erlaubt. Das Gesetz verletzt die Privatsphäre, welche laut Verfassung als Grundrecht jeder Bürgerin zusteht – auch mutmasslichen Betrügern.

Am Donnerstag ergriffen die Schriftstellerin und Republik-Kolumnistin Sibylle Berg, der Student und Campaigner Dimitri Rougy und der Rechtsanwalt Philip Stolkin das Referendum – ohne Hilfe einer Partei. Unterstützt wird die Gruppe von der unabhängigen Kampagnenplattform WeCollect und 11’000 Bürgerinnen, die dem Online-Aufruf folgten. Ihr Ziel: das Grundrecht auf Privatsphäre verteidigen und eine Debatte über die Macht der Versicherungen anstossen.

Die drei reagieren damit auf die Untätigkeit der linken Parteien. Obwohl diese sich im Parlament geschlossen und empört gegen die Vorlage wehrten, fehlte – ausser bei einzelnen Parlamentariern – die Lust auf ein Referendum. Die Grünen und die Gewerkschaften machten fehlende Ressourcen geltend. Die SP aber schwieg. Vier Wochen lang.

Erst letzten Sonntag meldete sich die Parteileitung zu Wort. Die SP werde weder Unterschriften sammeln noch Geld einschiessen. «Wir können nicht gegen jedes Gesetz aufstehen, das uns nicht passt», erklärte Fraktionschef Roger Nordmann resigniert dem «SonntagsBlick». Ihm graue es vor einem Abstimmungskampf, in dem die SVP während Monaten über Sozialhilfebezüger und Behinderte herzieht. Falls das Gesetz Grundrechte tatsächlich verletze, werde es am Europäischen Gerichtshof gekippt. Parteipräsident Christian Levrat ergänzte, ein Referendum wäre sowieso kaum zu gewinnen.

Mit dieser Verweigerungshaltung vergibt die SP eine grosse Chance. In den nächsten Monaten wird der Umbau der Sozialwerke im Zentrum der politischen Debatte stehen. Auf die SP warten grosse Schlachten: Sie muss die Sparreform der Ergänzungsleistungen abwehren, in den Kantonen die Kürzung der Sozialhilfe bekämpfen und den Abbau der Renten verhindern. Die Abstimmungen und Debatten zu diesen Themen fallen alle ins Wahljahr 2019. Der Kampfgeist und die Präsenz der Sozialdemokratinnen in diesen Fragen werden über Erfolg und Niederlage bei den Wahlen entscheiden.

Kommt hinzu: Die SP kann einer klaren Positionierung zu den Versicherungsspionen ohnehin nicht ausweichen. Die Referendumsgruppe wird die nötigen 50’000 Unterschriften ohne Probleme zusammenkriegen. Spätestens bei der Abstimmung, mitten im Wahlkampf, kann sich die SP nicht mehr zieren. Sie wird sich aber nicht als Hüterin der Grundrechte profilieren können, sondern ihren Wählerinnen folgende Frage beantworten müssen: Wieso habt ihr auf das Referendum verzichtet, wenn euch das Anliegen angeblich so wichtig ist?

Die SP gibt ein schlechtes Bild ab. Sie fürchtet die Debatte. Sie fürchtet die SVP. Sie fürchtet das Verlieren. Das ist mutlos und schadet ihrer Glaubwürdigkeit. Die SP hat sich in ihrem Parteiprogramm dem «Projekt der Aufklärung» verschrieben und schweigt nun empört zum Abbau der Grundrechte.

Ein schlechter Start in den Wahlkampf 2019, in dem Christian Levrat die 20-Prozent-Marke knacken und die rechte Mehrheit brechen will. Das kann nicht gelingen, wenn sich die SP in einer derart grundlegenden Frage aus der Verantwortung stiehlt.

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