Die Camouflagistin

Nippellose Brüste, geritzte Handgelenke und kahle Köpfe. Kein Problem für Viktoria D’Angelo. Sie kann alles kaschieren. Ein Besuch bei der Make-up-Artistin.

Von Solmaz Khorsand (Text) und Anne Morgenstern (Bilder), 02.04.2018

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Geht rein wie Butter, meint Viktoria D'Angelo über ihre Nadeln, mit denen sie die Farbe in die Kopfhaut sticht.

Das Täuschungsmanöver ist Sandro Salerno geglückt. Sie haben es geschluckt. Sie alle. Freunde, Bekannte, Kollegen, selbst die Eltern. Wann er sich die Haare wieder länger wachsen lasse, wollen sie wissen. Wann er denn genug habe von seinem rasierten Kopf. Wann er wieder mehr Sandro und weniger Bruce Willis sein wolle. Salerno grinst. Nein, sagt der 30-Jährige in diesen Momenten immer. «Ich will mir meine Haare nicht länger wachsen lassen. Sie gefallen mir so.»

Meine Haare. Er strahlt, wenn er diese zwei Worte ausspricht.

Sandro Salerno hat keine Haare. Zumindest nicht auf dem Kopf. Die dunklen Punkte auf seiner Kopfhaut sind keine Stoppel. Sie sind Farbe, aufgetragen mit einer feinen Nadel, Mikromillimeter für Mikromillimeter.

Dankbar sieht Salerno zu Viktoria D'Angelo hinüber. Sie war seine Komplizin in der Operation Versteck-den-Schädel. Nur wenige Meter steht sie von ihm entfernt, eine zierliche Frau mit blutroten Lippen und einem markanten Lidstrich über den Augenlidern. Es ist Samstagnachmittag in der Eventhalle Stage One in Oerlikon. Hier, auf der Zürcher «Man’s World», soll das männliche Ego gestreichelt werden. Mit Baggern, Flipperkästen, Hipsterrucksäcken und Zigarren wird selige Barbershop-Virilität zelebriert. Es ist eine heile Welt ohne Schattenseiten.

Nur eine Problemzone hat es auf die Wohlfühlmesse geschafft: die Glatze, Viktoria D'Angelos Spezialgebiet. D'Angelo kennt Salernos Martyrium. Wie er mit 24 Jahren hilflos beobachten musste, wie sein Haaransatz langsam verschwand. Wie er irgendwann nur mehr zwei Büschel an den Ohren zum Frisieren hatte. Und sie weiss von dem Tag vor einem Jahr, als er genug hatte von dem «Clown», der ihn jeden Morgen im Spiegel begrüsste, und er zum Coiffeur ging, um sich von seinem spärlichen Haarkranz für immer zu verabschieden. «Das war schon sehr hart», sagt er. «Zum Glück habe ich im Internet Viktoria gefunden.» Er sieht wieder zu ihrem Stand hinüber. Viktoria D'Angelo hört ihn nicht. Zu vertieft ist sie in ihre Arbeit, in ihre nächste Operation.

Eine Mischung aus Hohepriesterin und Patissier

Auf wenigen Quadratmetern demonstriert sie am lebenden Modell, wie sie den nackten Skalp hinter einem feinen Netz aus kleinen Punkten verschwinden lässt. Mikropigmentierung nennt sich die Technik. Sie ist ähnlich wie eine Tätowierung, nur ist die Nadel viermal dünner als eine Tattoonadel, und die Farbe wird nur in die oberste Hautschicht gestochen. «Ich habe sehr scharfe Nadeln, die gehen rein wie Butter. Da muss ich gar nicht viel drücken», sagt Viktoria D'Angelo, während sie mit einem weissen Kajalstift einem jungen Mann den Haaransatz aufzeichnet. Das Modell gibt sich bemüht entspannt, schliesst die Augen, nur die zusammengepressten Lippen zeigen seine Nervosität.

In manchen Fällen sollen die pigmentierten Punkte den Schein von vollerem Haar erwecken.

«Bei einem runden Gesicht muss man einen kantigen Ansatz machen, bei einem kantigen Gesicht einen runderen und immer ein bisschen ausfransen, sodass es echt aussieht», erklärt D'Angelo, bevor sie zu stechen beginnt. Mit dem Mundschutz, den schwarzen Arbeitshandschuhen und der Nadel in der Hand sieht sie aus wie eine Mischung aus Hohepriesterin und Patissier, die ein heiliges Stück Torte verziert.

Fasziniert verfolgen die umstehenden Messebesucher jeden ihrer Handgriffe. Während die jungen Männer nervös kichern und sich gegenseitig in die fliehenden Haaransätze fassen, füllen die Älteren unbemerkt Kontaktformulare aus, um bei D'Angelos Verlosung für eine Gratisbehandlung mitzumachen. Zwischen 600 und 1800 Franken kostet das künstliche Haarnetz aus Farbe. Viele Interessenten halten sich im Hintergrund und beobachten die Prozedur aus sicherer Distanz. Erst wenn die Beraterinnen am Stand mitten im Gespräch sind, pirschen sich diese Männer an die Unterlagen heran, schnappen sich eine Broschüre und verschwinden in der Menge. «Das sind diejenigen, die dann am Montag anrufen, um sich einen Termin geben zu lassen», sagt D'Angelo.

Keiner muss vor den eigenen Genen kapitulieren

Sie kennt den männlichen Stolz. Sie weiss um die Stunden vor dem Spiegel. Wie die letzten Haarsträhnen fein säuberlich über die blanke Kopfhaut drapiert werden, um bei Tageslicht einen Funken ästhetische Souveränität auszustrahlen, während in der Nacht verzweifelt nach Haarwuchsmitteln und Transplantationen gegoogelt wird. Keiner soll den Makel entdecken. Und viel wichtiger: Keiner soll entdecken, wie tief er sich bereits in die Seele hineingefressen hat.

Das Versteckspiel ist Viktoria D'Angelo nicht fremd. Im Gegenteil. Seit 15 Jahren arbeitet sie als Make-up-Artistin. Camouflage ist ihr Job. Die perfekte Täuschung. Ein Punkt da, ein Strich dort. Fertig ist der 3-D-Effekt. Die Wimpern sind dichter, die Lippen voller, der Hintern frei von Dehnungsstreifen und die zerritzten Handgelenke so rosig wie am ersten Tag. Der Schein ist gewahrt.

«Das ist alles echt. Nur permanentes Make-up», sagt D'Angelo und zeigt auf ihre Lippen und Augen. Es ist Montagvormittag. Die Messe ist vorbei. Der Alltag hat sie wieder. Sie sitzt in ihrem Studio an der Eisenstrasse, in der Altstadt von Luzern. Hell ist es hier, aus der Dachluke strömt Tageslicht auf ihren Behandlungstisch, daneben, auf der Anrichte, stehen ihre Utensilien, Farbtuben, Klammern und Übungsköpfe aus Plastik. «Ich mag es, bei natürlichem Licht zu arbeiten», sagt sie. Ihre Stimme hat etwas Meditatives. Dunkel, rau, ruhig. Ihre 40 Jahre sieht man ihr nicht an. Geboren und aufgewachsen in Mariupol, in der Ukraine, ist sie es gewohnt, dass man der Natur ein bisschen auf die Sprünge hilft. «Das war die Sowjetunion. Da war es normal, dass sich alle Frauen herrichten. Nur in den Ferien hat man sich ein bisschen gehen lassen», erzählt sie. Als sie mit 22 Jahren in die Schweiz kam, war das anders. Natürlichkeit wurde hier der Natur überlassen. Ausschliesslich. «Es ist eine andere Mentalität. Nicht besser oder schlechter, nur anders», sagt sie. Sie will nicht werten. Jede, wie sie will.

Die perfekte Täuschung, das ist Viktoria D'Angelos Job.

«Meine Augen gehen von Natur aus ein bisschen runter. Dadurch schaue ich automatisch traurig aus», sagt sie. Das will sie nicht. Daher der markante Lidstrich. Viktoria D’Angelo kapituliert nicht vor ihren Genen. Keiner muss das. Keiner muss den Märtyrer spielen. Keine zur Geisel ihrer Komplexe werden. Wozu sich quälen, wenn es doch eine Lösung gibt, und das ganz ohne chirurgische Eingriffe?

«Es kann mir keiner sagen, dass es schlechter aussieht als vorher», sagt sie. Zum Beweis blättert D'Angelo in ihrem Vorher-nachher-Buch und zeigt die Bilder ihrer Kunden. Von Frauen, deren Brüste nach der erfolgreichen Krebsbehandlung zu warzenlosen Kuverts zusammengetuckert wurden. Mit ein bisschen Farbe hat sie ihnen einen Warzenhof inklusive Knubbel in all seinen Schattierungen in die Haut gestochen. «3-D-Effekt», wiederholt sie nüchtern. Bei den Männerköpfen ist es ebenso. Ein dichtes Punktenetz, und schon sieht der Kopf rasiert aus. Sie weiss um die Wirkung der Farbe. Dass es mehr ist als Eitelkeit. Dass es manchmal nichts Tieferes gibt als die perfekte Oberfläche.

Und dass diese Oberfläche ein ganzes Leben bestimmen kann, wenn man nicht aufpasst. Dass man immer mehr will, immer glatter, kantiger, voller. «Solche Kunden sind nie zufrieden, egal, was man macht», erzählt sie. Oft hat sie schon Leute abgewiesen, ihnen zu verstehen gegeben, dass alles gut ist, dass sie kein schütteres Haar haben, dass sie schön sind, so wie sie sind.

Der aufrechte Gang

Einen Kunden wird sie nie vergessen. Einen 36-jähriger Verkäufer. Sieben Jahre lang trug er ein Toupet. «Das ist ein Gefängnis», hat er ihr gesagt. Jeden Tag musste er den Wetterbericht checken. Ob der Wind geht oder nicht. In welchem Winkel er dann am besten den Kopf halten soll, falls die Klebestreifen unter dem Haarteil nicht halten, was sie versprechen.

Immer wieder hat er sich bei Viktoria D'Angelo einen Termin geben lassen und wieder abgesagt. Bis er sich schliesslich entschieden hatte. Gebückt ist er ins Studio gekommen. Sie musste die Trennwand zur Eingangstür und zu den anderen Zimmern hochziehen. Kein Kunde und keine Kollegin sollten sehen, wie er vor ihr das Toupet abnimmt. Nach nur einer Sitzung wurde sein Gang aufrechter. Nach der zweiten stand er schon über die Trennwand gebeugt und flirtete mit D’Angelos Kolleginnen. Zum Schluss stand er aufrecht. «Er hat sich ganz verändert», erzählt sie. «Aber dann hat er gefunden, dass seine Ohren zu gross sind.»

D’Angelo seufzt. In diesen Momenten kommt auch eine Camouflagistin an ihre Grenzen. Dann braucht es einfach mehr als ein bisschen Farbe.

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