ein Mann fährt mit seinem Velo vor einer gigantischem Berg von Mietvelos durch
Auf dem Weg zur Endstation: Ein Bike wird zu seinem Abstellplatz an einer Velohalde in der Stadt Xiamen im Südosten von China gebracht. Reuters

Ein kleines Lehrstück über den Kapitalismus

China hat in den letzten achtzehn Monaten einen wahnwitzigen Bikesharing-Boom erlebt. Diverse Anbieter haben sich einen Wettlauf um die Vorherrschaft in den Strassen der Grossstädte geliefert. Das Resultat: Millionen von überzähligen Fahrrädern.

Von Mark Dittli, 28.03.2018

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Es war im Sommer 2017, als die Anarchie in Zürich Einzug hielt. Über Nacht standen einige hundert Fahrräder eines Bikesharing-Anbieters namens O-Bike in der Innenstadt herum. Das Unternehmen aus Singapur hatte vorgängig keine Bewilligung beantragt, die Velos waren einfach da. Politiker von weit rechts bis ganz links, Journalistinnen von NZZ bis «Tages-Anzeiger» sahen die öffentliche Ordnung und das Stadtbild in akuter Gefahr.

Mittlerweile gehören sie irgendwie dazu: die gelben und grünen Mieträder von O-Bike und des neuen Konkurrenten Limebike. Die schweren Geräte bereiten kein Fahrvergnügen, doch sie sind eigentlich ganz praktisch.

Weg damit: In Shanghai werden Mieträder von der Strasse geholt, damit Parkplätze für Autos wieder frei werden. AFP
Velopark: Nahe dem Eingang des Xiashan Park in der Küstenstadt Shenzhen sind mehr als 500 Sharing-Bikes deponiert. AFP

Bikesharing dieser Art – ohne feste Mietstationen und mit Velos, die sich via Mobiltelefon entriegeln lassen – hat seinen Ursprung in China. Das Land hat in den vergangenen achtzehn Monaten einen irrwitzigen Bikesharing-Boom erlebt.

Nun ist die Blase geplatzt. Und hinterlässt ein herrliches kleines Lehrstück über den brachialen Kapitalismus im kommunistisch regierten China.

Viele Farben: Gelb, Orange, Blau, Grün …

Man sieht sie dort in jeder grösseren Stadt. Sie stehen auf Trottoirs, in Pärken, an Kreuzungen und unter Brücken – manchmal artig aufgereiht, manchmal achtlos hingeworfen, zuweilen sogar in Haufen aufgetürmt: orangefarbene, gelbe, blaue, grüne Mietfahrräder. Nicht zu Hunderttausenden, sondern zu Millionen.

Die Idee entstand 2015 an der Universität Peking. Einfache, günstige Mietfahrräder erlaubten es Studenten, auf dem weitläufigen Gelände von einem Gebäude zum nächsten zu gelangen.

Aus dem Projekt wurde ein Unternehmen namens Ofo. Seine Geschäftsidee: in ganz Peking günstige Mietfahrräder bereitzustellen. Einnahmen sollte Ofo aus drei Quellen erzielen. Erstens bezahlen neue Nutzer ein einmaliges Depot, zweitens verlangt Ofo für die Velos pro halbe Stunde einige Rappen Miete, und drittens generieren die Benutzer der Fahrräder Unmengen an Daten. Weil die Velos per Mobiltelefon ent- und verriegelt werden und mit einem GPS-Sender ausgestattet sind, lernt Ofo immer mehr über die Mobilitätsgewohnheiten der einzelnen Mieter. Und diese Daten, da waren die Unternehmensgründer überzeugt, lassen sich irgendwann zu Geld machen.

So viel zur Idee. Diese funktionierte aber nur, wenn genügend viele Menschen die entsprechende App auf ihr Mobiltelefon herunterladen und die Fahrräder auch aktiv benutzen würden. Und wie konnte dieses Ziel erreicht werden? Indem die Velos allgegenwärtig und stets verfügbar sein mussten.

Also wählte Ofo eine auffällige Farbe: Gelb. Und eine aggressive Wachstumsstrategie: Nicht einige hundert Fahrräder sollten es sein, sondern rund hunderttausend in der ersten Phase. Und nicht nur in Peking, sondern auch in anderen Städten, in Shanghai, Guangzhou, Chengdu und vielen mehr. Eben: allgegenwärtig.

Alles für den Sieger

Dann kam die Konkurrenz. Fast zeitgleich mit Ofo startete ein anderes Bikesharing-Unternehmen namens Mobike. Seine Farbe: Orange. Dann kam ein rundes Dutzend weitere Anbieter mit Namen wie Bluegogo oder Xiaoming Bike hinzu. Mit den Farben Blau, Grün, Hellblau, Silber und allen möglichen Kombinationen.

Alle Anbieter wussten: Sie haben nur eine Chance, wenn sie allgegenwärtig sind. Kein Mensch lädt sich die App von zehn verschiedenen Mietvelo-Anbietern auf sein Mobiltelefon, und niemand will mehrere einmalige Depotzahlungen leisten. Die Qualität der Fahrräder und die Benutzerfreundlichkeit des Mietsystems sind vergleichbar, also kann nur gewinnen, wer seine Präsenz den Konsumentinnen am sichtbarsten vor Augen hält. Es kann nur einen geben. Oder maximal zwei.

In der Ökonomie wird in diesem Zusammenhang vom «Winner takes it all»-Prinzip gesprochen: Der Marktführer dominiert dermassen, dass die Herausforderer keine Chance mehr haben. Und Marktführer wird nur, wer am schnellsten die grösste, präsenteste Flotte anbieten kann.

Ordnung muss sein: Velos von unterschiedlichen Sharing-Anbietern in Hangzhou. Reuters

So begann das Wettrüsten. Mehrere Milliarden Dollar sind im Verlauf der letzten achtzehn Monate in den Aufbau der Mietvelo-Flotten in China geflossen. Mobike sicherte sich die Unterstützung von Tencent, einem der Giganten unter Chinas Internetkonzernen. Der Rivale Ofo erhielt Geld von Alibaba und von Didi Chuxing, Chinas Version des Taxidienstes Uber.

Mit je mehr als einer Milliarde Dollar im Rücken haben sich Mobike und Ofo als Marktführer etabliert. Beide besitzen eine Flotte von jeweils mehr als sieben Millionen Fahrrädern und sind mittlerweile weltweit auf Expansionskurs.

Hinter sich haben sie eine Schneise der Verwüstung gelassen. Die meisten anderen Bikesharing-Anbieter in China mussten Konkurs anmelden. Die Nummer drei im Markt, Bluegogo, gab im November 2017 auf.

Das Resultat sind horrende Überinvestitionen und mehrere Millionen Fahrräder von konkursiten Anbietern, die niemand mehr braucht. Sie liegen zu Tausenden auf verlassenen Grundstücken, an Strassenrändern, in Pärken, allmählich von Gebüsch überwuchert: die Überbleibsel einer geplatzten Spekulationsblase.

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