Am Gericht

Poststempel im Zwielicht

Es beginnt damit, dass einer Familie die Betreuungsbeiträge gestrichen werden. Doch als sie den Fall ans Bundesgericht zieht, steht plötzlich eine ganz andere Frage im Raum – und die Post in arg schiefem Licht da.

Von Markus Felber, 14.03.2018

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Ort: Bundesgericht Luzern
Zeit: 4. Oktober 2017
Urteilsreferenz: 8C_237/2017
Thema: Sozialhilfe

Eine Familie erhielt bis im März 2016 Betreuungsbeiträge für Kleinkinder. Dann stellte der Sozialvorstand der zürcherischen Stadt Dietikon die Zahlung ein und verlangte, dass die aus seiner Sicht zu Unrecht bezogene Summe von 14’100 Franken zurückerstattet wird. Die betroffene Familie wollte sich dagegen wehren und rief das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich an. Dieses trat jedoch auf die Sache nicht ein, weil die Beschwerdefrist am 15. Februar 2017 abgelaufen war. Das matchentscheidende Couvert mit der Eingabe an das Gericht aber trug den Poststempel vom 16. Februar.

Stephan Nüesch, der Anwalt der Familie, zog den Nichteintretensentscheid ans Bundesgericht weiter und machte geltend, die Beschwerde sei rechtzeitig am 15. Februar ungefähr um 19 Uhr in der Postagentur in Baden Rütihof aufgegeben worden. Dass sowohl auf dem Couvert wie auch im gelben Empfangsbüchlein der Stempel vom 16. Februar prangt, führte der Anwalt in seiner Beschwerde auf eine eigentümliche Praxis am Schalter zurück: Weil andernfalls die für A-Post zugesicherte Zustellung am Folgetag nicht gewährleistet wäre, würde das Stempeldatum gegen Abend um einen Tag vorgestellt.

Seine auf den ersten Blick wagemutig erscheinende Behauptung versuchte der Anwalt mit zwei Schreiben der Post zu belegen. Eines davon durfte das Bundesgericht aus prozessrechtlichen Gründen nicht beachten. Doch genügte offensichtlich das andere Schreiben, um die Bundesrichter Marcel Maillard und Jean-Maurice Frésard sowie Richterin Daniela Viscione zu irritieren.

Die Auskunft der Post, dass ab 18 Uhr der Folgetag als Aufgabetag gelte, wirke befremdlich. Wörtlich heisst es im Urteil aus Luzern: «Hat die Post tatsächlich die Praxis, Postaufgabesendungen ab einer bestimmten Zeit am Abend schon mit dem Stempeldatum des nächsten Tages zu versehen, nur um die ‹Zustellung am nächsten Tag› zu gewährleisten, so eröffnet dies nämlich erhebliche Beweisschwierigkeiten für die Beschwerde führenden Personen, welche zur Fristwahrung unbedingt auf eine zeitgenaue Stempelung angewiesen sind.» Postkunden wie Gerichte müssten sich ohne weiteres darauf verlassen können, dass Sendungen bei der Aufgabe am Postschalter wahrheitsgetreu gestempelt werden.

Stille Zweifel höchstrichterlich bestätigt

Genau daran aber bestehen im beurteilten Fall grosse Zweifel. Das Bundesgericht vermutet, dass der Angestellte am Postschalter tatsächlich am Abend des 15. Februar den Stempel auf den 16. Februar vordatiert hat. Und da das alles aus einem Schreiben des zentralen Kundendiensts in Bern hervorgehe, befürchten die drei Richter in Luzern, dass es sich nicht bloss um die «irrigen Gewohnheiten einer einzelnen Postagentur» handelt.

Wie es sich genau verhält, bleibt im Urteil des Bundesgerichts allerdings offen. Es hat die Sache an das Zürcher Verwaltungsgericht zurückgewiesen, das nun Licht ins Dunkel bringen soll.

Zum eigentlichen Streit um die Rückerstattung der erwähnten Kleinkinderbetreuungsbeiträge enthält das Urteil kein Wort, dafür umso mehr Klartext zu einem Thema, über das bisher nur in verklausulierten Erwägungen oder hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde. Es geht um den Poststempel als Siegel und Garant für Rechtzeitigkeit – beispielsweise bei der Kündigung eines Vertrags oder der Teilnahme an einer Ausschreibung. Von besonderer Bedeutung ist der Stempel bei Eingaben an ein Gericht, die nur rechtzeitig erfolgt sind, wenn sie am letzten Tag der Frist der Post übergeben werden. Dabei ist egal, ob sie einfach in einen Briefkasten geworfen oder am Postschalter abgegeben werden. Massgeblich für den Zeitpunkt, an dem das geschah, ist grundsätzlich der ominöse Poststempel.

Daher ist für einen geordneten Ablauf des Rechtsmittelverkehrs von eminenter Bedeutung, dass der Poststempel exakt den Tag verbrieft, an dem die Rechtsschrift der Post übergeben wurde. Das ist selbstverständlich nicht der Fall, wenn die Sendung in einen Briefkasten geworfen wird, der erst am folgenden Tag geleert wird. Unter solchen Umständen akzeptiert indes das Bundesgericht, dass ein Zeuge auf dem Couvert schriftlich bestätigt, dass dieses bereits am Vortag eingeworfen und damit rechtzeitig der Post übergeben wurde.

Bei der Präsentation am Schalter ging man bisher allgemein davon aus, dass der Stempel das Datum des Abgabetages vermerkt, auch wenn es schon nach 18 Uhr abends ist. Das umso mehr, als eine Vorausdatierung auf den Folgetag auch unter strafrechtlichen Gesichtspunkten Fragen aufwirft. Seit geraumer Zeit schwelen allerdings stille Zweifel an der Verlässlichkeit des guten alten Poststempels, die nun durch das Urteil des Bundesgerichts gewissermassen höchstrichterlich bekräftigt werden.

Ob das Zürcher Verwaltungsgericht mit seinem Urteil in der Sache diese Zweifel ausräumen wird, bleibt abzuwarten. Seine Aufgabe ist es, primär zu klären, ob die fragliche Beschwerde gegen die Rückforderungsverfügung der Stadt Dietikon am 15. oder am 16. Februar 2017 der Postagentur in Baden Rütihof übergeben wurde.

Wie weit das kantonale Gericht darüber hinaus die internen Regeln der Post beim Schalterverkehr nach 18 Uhr ausleuchten will und kann, ist offen. Kommt es zu keiner gerichtlichen Klärung, bleibt die Möglichkeit, dass die Kontrollinstanz der Verwaltung oder des Parlaments im Interesse der Rechtssicherheit prüft, ob und wie regelmässig die Post ihren Stempel abends vordatiert, um bei der Zustellung von A-Post keine Minuspunkte verzeichnen zu müssen.

Und das sagt die Post

Angesichts der Schummeleien im Zusammenhang mit den Postauto-Subventionen könnte die Politik durchaus motiviert sein, vertieftere Abklärungen zu treffen. Die Post selber ist augenscheinlich bereits auf dem mehr oder weniger geordneten Rückzug. Noch im März 2017 wurde dem Anwalt in der Sache schriftlich beschieden, es sei «keineswegs so, dass die Angabe des Poststempels in jedem Fall mit dem Datum der effektiven Sendungsaufgabe übereinstimmen muss».

Auf eine Anfrage der Republik im Februar 2018 räumte dann Mediensprecherin Jacqueline Bühlmann ein, dass die fragliche Eingabe eigentlich mit Datum vom 15. Februar hätte abgestempelt werden müssen: «Bei der Schweizerischen Post gilt die Vorgabe, dass am effektiven Datum der Sendungsaufgabe die Sendung gestempelt werden muss.» Unbeantwortet blieben die Fragen, ob die Post bereits vor der Anfrage der Republik Kenntnis von dem Bundesgerichtsurteil hatte und ob die Praxis bei der Stempelung von Briefen gegen Schalterschluss angepasst wurde: «Die beiden Fragen zielen auf organisationsinterne Sachverhalte ab, die wir öffentlich generell nicht kommentieren.»

Illustration Friederike Hantel

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