Illustration von einem Riesenbaby, das durch die Stadt Zürich geht wie King Kong

Die neuen Stadtkinder

Der Babyboom ist zurück. In der Stadt Zürich werden so viele Kinder geboren wie seit den Sechzigerjahren nicht mehr. Warum ausgerechnet Zürcher Frauen zu den fruchtbarsten Europas gehören. Und welche Folgen der rege Nachwuchs für die Stadt hat.

Von Michael Rüegg, (Text) und Chrigel Farner (Illustration), 13.03.2018

Die neuen Stadtkinder
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Leander sitzt in seinem Tripp Trapp. Das ist ein Holzstuhl, der mit dem Kind mitwächst. Den haben alle, sagen Mama und Papa. Wenn der Kleine grösser wird, baut man das Möbel mit einigen Handgriffen um, schon passt es. Wenn nur alles so einfach wäre.

Das Kind in seinem Stuhl blickt den Fremden mit grossen Augen an, dann will es einen Cracker.

Sechzehn Monate ist Leander nun schon auf der Welt. Geboren, drei Tage bevor die Welt schockiert die Wahl des neuen amerikanischen Präsidenten zur Kenntnis nahm. Im Gegensatz zu Donald Trump hat sich Leander prächtig entwickelt. Er kann nun alleine aufstehen, geht ein paar Schritte. Und er hat sein erstes Wort gesprochen. Leander steht für die Zukunft. Trump für die Vergangenheit.

«Darf man das sagen?», fragt Mama etwas beschämt. Sie meint Leanders erstes Wort, es ist «nein». Er weiss es bereits richtig einzusetzen. Seine Eltern hoffen, dass es nicht schon als Ausdruck des herrschenden politischen Zeitgeistes gedeutet werden muss.

In vielerlei Hinsicht ist Leander das durchschnittlichste Kind Zürichs. Das ist nicht einfach eine Behauptung, Leanders Durchschnittlichkeit lässt sich mit allerlei Statistiken belegen.

5176 Kinder sind 2016, in Leanders Geburtsjahr, in der Stadt Zürich auf die Welt gekommen – wie immer etwas mehr Knaben als Mädchen. Ein Jahr später waren es 5240. Letztmals kamen 1966 mehr kleine Stadtzürcherinnen auf die Welt als heute. Danach sanken die Geburtenzahlen rapide. Pillenknick, Stadtflucht. Ende der Siebzigerjahre waren es weniger als 3000 Neugeborene pro Jahr. Mitte der Nullerjahre begann die Geburtenrate anzusteigen. Seit 2014 bleibt sie fast unverändert hoch.

Unter den Neugeborenen ist der Anteil kleiner Schweizer Bürgerinnen stark angestiegen. Bei den Kindern von Ausländerinnen schwingt eine Nation obenauf: Jedes zehnte in Zürich geborene Kind hat heute die deutsche Staatsbürgerschaft – Doppelbürgerinnen nicht mitgerechnet. Der Anteil kleiner Südeuropäer – Italiener, Serbinnen, Türken, Portugiesinnen – nahm um die Hälfte ab.

Leander ist männlich, Schweizer Bürger, ein Produkt der geburtenstärksten Jahrgänge. Und seine Eltern waren bei seiner Geburt nicht mehr die allerjüngsten. Mama zählte 35 Jahre, Papa 38. Damit lag Mama ganz leicht über dem Durchschnitt, denn eine Zürcher Mutter ist heute bei der Geburt 33,6 Jahre alt. Überhaupt werden die Mütter immer älter: Die 35- bis 39-Jährigen gebären im Mittel doppelt so viele Kinder wie noch zur Jahrtausendwende.

Statistik Stadt Zürich hat errechnet, dass Zürcher Frauen nicht nur die fruchtbarsten aus allen grösseren Schweizer Städten sind. Zürich liegt punkto Fertilität auch im europäischen Vergleich weit vorne.

Nur Frauen in den Städten Oslo, Stockholm und Amsterdam gebären mehr Kinder als Zürcherinnen. Zürich ist jetzt eine Babyboom-Town.

Aus einer kinderfeindlichen ist eine kinderfreundliche Stadt geworden. Denn zogen Eltern früher gerne vor der Einschulung ihres Nachwuchses aufs Land, bleiben sie heute meist in der Stadt. Das kommt nicht von ungefähr.

Leander liebt es, mit Mama und Papa zusammen Türmchen zu bauen. Das Vorbild dafür liegt gleich neben seinem Zuhause: der 126 Meter hohe Prime Tower. Dahinter ist ein Neubauquartier entstanden. Als Mama und Papa 2014 ihre Dreieinhalbzimmer-Wohnung bezogen, war Leander erst in Planung.

Neubauten und Kinder wie Leander stehen in der Stadt Zürich in einer direkten Beziehung. Nirgendwo leben so viele Kinder wie in neu erstellten Wohnbauten. In stadteigenen Liegenschaften sowie Genossenschaftsbauten liegt die Rate noch höher als in Gebäuden, die Privaten gehören. Grund dafür sind meist die Mieten, die ab vier Zimmer das Budget einer Durchschnittsfamilie sprengen können.

Die Stadt Zürich baut seit Jahren. Knapp 30’000 Wohnung sind seit dem Jahr 2000 entstanden, über 12’000 davon mit vier oder mehr Zimmern. Sie deckten die enorme Nachfrage, die aus der Zuwanderung entstand. Nicht nur der Zuwanderung aus dem Ausland, auch derjenigen aus anderen Gemeinden und Kantonen.

Seit dem Jahr 2000 wuchs die Bevölkerung der Stadt um über 60’000 Personen. Die meisten davon jung, berufstätig, gut ausgebildet. Tausende junge Frauen machten Zürich zu ihrer neuen Heimat. Erst die Arbeit, dann die Fortpflanzung. In jeder vierten Wohnung eines neu erstellten Wohnersatzbaus lebt heute eine Familie mit Kindern. Die von der Politik gepushte Wohnbautätigkeit erwies sich als Katalysator der Geburtenrate. Doch sie ist nicht der einzige Faktor.

Der unfreiwillige Vaterschaftsurlaub

Papa hatte Glück im Unglück. Als Leander das Licht der Welt erblickte, war er gerade ohne Stelle. Kaum war der Kleine auf der Welt, lernte der Vater von der Hebamme, wie man ihn badet und wickelt. Leander lag einen Stock höher auf der Brust seines Vaters, während die Mutter sich in ihrem Zimmer von der schwierigen Geburt erholte. Es war Papa, der Mama beibrachte, wie man einen Säugling wickelt.

Normalerweise hätte Papa einen freien Tag für die Geburt seines Kindes erhalten. Gleich viel wie für die Beerdigung eines nahen Verwandten. Ziehen sich die Wehen dahin, müssen Väter einen zusätzlichen halben Tag freinehmen. Dann gehts zurück an die Arbeit. Männer, die mehr Zeit mit dem Kind verbringen wollen, müssen Ferien beziehen.

Papa blieb hingegen noch einige Monate ohne Stelle, und so konnten Mama und er sich gemeinsam um Leander kümmern. Ein riesiges Glück sei das gewesen, sind sie sich heute einig. Leander und sein Vater hätten kaum eine so innige Beziehung, wären sie nicht von Beginn weg unzertrennlich gewesen, sagt Mama.

«Wir hatten natürlich keine Ahnung, wie man das mit einem Kind so macht», gibt Papa zu Protokoll. «Als ich das erste Mal mit dem Kinderwagen draussen war, dachte ich: Gleich nehmen sie dir deinen Sohn weg, wenn sie sehen, wie unfähig du bist.»

Mama und Papa sind nicht aus Zürich. Auch das haben sie mit den meisten anderen jungen Eltern gemeinsam. Aufgewachsen sind beide in der Region St. Gallen. Wie viele der heute 30- bis 45-jährigen Zürcherinnen und Zürcher stammen sie anderswoher.

Leander war geboren, ein paar Monaten später ging Mama zurück zur Arbeit. Die Juristin arbeitete 50 Prozent, eine Zugstunde ausserhalb von Zürich. Auch Papa hat heute wieder eine Stelle, Vollzeit. Der Betriebsökonom FH ist in der Geschäftsleitung eines KMU für Finanzen und kaufmännische Prozesse zuständig.

Dass beide einen tertiären Abschluss haben, ist typisch. Zürcher Eltern sind heute so gut ausgebildet wie nie zuvor. Gerade in Neubauten ziehen vor allem Paare mit hohem Bildungsniveau und entsprechendem Einkommen ein. Je höher das Familieneinkommen, desto mehr Kinder, sagt die Statistik. Die Einkünfte dürften durchaus etwas höher sein, finden Mama und Papa. Und vor allem besser verteilt.

Denn Papa würde anstelle der 100 lieber 80 Prozent arbeiten, Mama 60 statt 50. Diese Formel wird von vielen Zürcher Paaren mit Kindern als vernünftig betrachtet.

Ein Mehrheit der Stadtzürcher Kinder wachsen heute wie Leander in Familien auf, in denen beide Eltern berufstätig sind. Rund 70 Prozent der Kinder im Vorschulalter besuchen an mehreren Wochentagen eine Kita. Auch Leander verbringt zwei Tage pro Woche dort. Dass es nicht drei sind, liegt an der Oma. Sie reist jeweils am Montagabend aus St. Gallen an und hütet den Kleinen am Dienstag.

Leanders Kita liegt gleich in seiner Nachbarschaft. Er beansprucht einen subventionierten Betreuungsplatz. Rund 80 Prozent des Normaltarifs bezahlen seine Eltern, den Rest übernimmt die Stadt. Selbst das vergleichsweise ordentliche Einkommen der Familie erlaubt den Bezug von Subventionen. Das hat die Stadt so gewollt.

Noch vor einigen Jahren hätten Mama und Papa wohl Mühe gehabt, einen Kita-Platz in der Nähe zu finden. Lange herrschte ein Mangel. Erst in den vergangenen zwei, drei Jahren haben sich Angebot und Nachfrage gefunden.

Gegen 240 Millionen Franken Umsatz erzielen die Anbieter von ausserfamiliärer Kinderbetreuung pro Jahr. Fast 75 Millionen budgetiert die Stadt fürs Jahr 2018 an Subventionen.

Zürcher Kitas: Location, Location, Location!

Es ist nicht Leanders Kita, die dem Schreibenden ihre Türen öffnet, sondern eine andere. Auch sie liegt in einem Entwicklungsgebiet, Greencity Manegg, in Zürichs Süden, unweit des Einkaufstempels Sihlcity. Dort soll die 2000-Watt-Gesellschaft umgesetzt werden, zu der die Zürcherinnen vor zehn Jahren per Volksabstimmung Ja gesagt haben.

Noch ist das Quartier mehrheitlich eine Baustelle. Genosschaften und Private bauen hier, auch Eigentumswohnungen und schicke Lofts entstehen. Mittendrin liegt die neuste Kita der Stiftung GFZ. Vierzehn Tagesstätten betreibt die gemeinnützige Trägerschaft in allen Stadtkreisen Zürichs.

Vergangenen September ging die Kita am Maneggplatz auf. Von den insgesamt 50 Plätzen war innerhalb der ersten Monate bereits die Hälfte besetzt. Der Lärmpegel so kurz vor dem Nachmittagsspaziergang würde auf eine höhere Belegung hindeuten. Wer Kinderscharen nicht gewohnt ist, könnte meinen, der Umgang mit den kleinen Wichten brauche Nerven wie Stahlseile. Doch die Betreuerinnen bleiben gelassen.

Leiterin Jessica Passalacqua ist mit der Entwicklung in ihrer neuen Einrichtung zufrieden. Auch ihre Vorgesetzte, Corina Elmer, für mehrere Kitas der Stiftung zuständig, ist zuversichtlich, dass die vier Gruppen bis zum Sommer voll sein werden.

Denn nicht mehr jede Zürcher Kita schafft das. Die für Kita-Betreiber goldenen Nullerjahre mit ihren teils langen Wartelisten gehören der Vergangenheit an. Die Besitzerin mehrerer privater Tagesstätten, die nicht mit Namen genannt werden möchte, bestätigt: «Mir werden immer wieder Kitas zum Kauf angeboten.» Doch sie greift nicht zu, lieber ist ihr, wenn einige davon zumachen.

Das Angebot bereinigt sich langsam. Die Anschubfinanzierungen des Bundes, mit Hilfe derer man einen Grossteil der Einrichtungskosten finanzieren konnte, sind für städtische Krippen Vergangenheit. Kitas schiessen nicht mehr wie Pilze aus dem Boden. 300 gibt es heute, mit knapp 10000 Plätzen – noch etwas ungleich über die Stadt verteilt.

Gerade wegen der ungleichen geografischen Verteilung setzen Kita-Anbieter gezielt auf Quartiere, in denen eine Unterversorgung herrscht. Wie Greencity. Location, Location, Location! Was in der Immobilienbranche gilt, stimmt mittlerweile auch für den Kita-Markt.

Zu schaffen macht Kita-Leiterinnen wie Jessica Passalacqua der herrschende Fachkräftemangel. Die Fluktuation beim Betreuungspersonal ist hoch. Die meisten sind junge Frauen, viele bilden sich weiter oder wollen selber eine Familie, bleiben damit ihrem Beruf nicht lange voll erhalten. Andere wandern zu den Horten ab, wo die Löhne höher sind.

Die Mehrheit der Eltern sei sehr mit ihren Kitas zufrieden, bestätigen Jessica Passalacqua und Corina Elmer. Und auch Leanders Mama und Papa sind des Lobes voll über die eigene Kita. Gerade weil dort auch zwei junge Männer arbeiten – in diesem Beruf noch immer spärlich gesät. Vor allem einer der Männer habe einen super Draht zu ihrem Sohn, erzählen Mama und Papa.

Bei der Baustelle handelt es sich um Leanders Schule

Mama sagt, sie sei nicht so der Typ, um mit anderen Müttern und ihren Kindern auf Spielplätzen abzuhängen. Lieber geht sie mit Leander spazieren. Manchmal durch den neuen Park, den die Stadt nebenan gebaut hat. Früher standen hier Schrebergärten. Jetzt ist dort eine grosse Baustelle: die des Schulhauses Pfingstweid. Ab 2019 werden hier maximal 200 Kinder ein- und ausgehen.

Auch Leander wird wohl hier die Schule besuchen, einen Nuggiwurf von seinem Balkon entfernt. Pfingstweid ist eine der neuen Tagesschulen, die nun überall in Zürich entstehen. Einige seiner Mittagspausen sowie unterrichtsfreie Zeit wird Leander hier verbringen. Den Rest vermutlich im Hort. Das Zürcher Schulamt rechnet mit total 8100 neuen Hortbetreuungsplätzen, die geschaffen werden müssen.

Knapp 30 Millionen Franken kostet der Bau des neuen Schulhauses Pfingstweid. Die Stadtzürcherinnen haben dem Projekt im Februar 2017 zugestimmt. Es ist nur eines von vielen Bauvorhaben. Und nicht das einzige, an dessen Stelle früher Schrebergärten standen – oder Landreserven, wie sie auch heissen. Vierzehn weitere Schulhäuser werden in den kommenden neun Jahren über die Stadt verstreut neu gebaut oder erweitert.

Soziales und Schule. Keine anderen zwei Bereiche fressen so viele Steuereinnahmen der Stadt Zürich weg. 1,9 Milliarden Franken jährlich, wie der Stadtrat Ende 2016 anlässlich der Präsentation des letztjährigen Budgets vorrechnete. 64 Prozent der städtischen Nettoausgaben. Tendenz steigend.

Die Kinderbetreuung und der Schulbereich sind nicht das Einzige, was zu Buche schlägt: Über 24 Millionen Franken jährlich gibt die Stadt für achtzehn Gemeinschaftszentren, acht Standorte der offenen Jugendarbeit, diverse Quartiertreffs, Spielplätze, Spielbaracken, Spielinseln etc. aus.

Die Stadt Zürich lässt sich ihre Familienfreundlichkeit etwas kosten. Auch wenn Leander und seine Eltern die meisten dieser Angebote derzeit nicht nutzen – das wöchentliche Babyschwimmen im Wärmebad bezahlt Papa aus eigener Tasche. Manchmal besucht die Familie die Ziegen im nahen Gemeinschaftszentrum Wipkingen. Aber Leander mag derzeit Züge lieber als Ziegen. Wenn er von seinem Fenster einen vorbeifahren sieht, macht er einen Zischlaut, der ein bisschen an «Zug» erinnert.

Wird er eines Tages Robotikberater?

Berufstätige Eltern stehen häufig im Verdacht, ihr Kind als Projekt zu betrachten. Sie planen die Zeit mit der Familie in ihren Google-Kalendern. Und jeder Papi sieht in seinem Nachwuchs bereits ein Genie. «Natürlich wird er mal Balletttänzer. Oder Pianist», findet Leanders Mama. Das wäre praktisch, die für diese Berufe zuständige Hochschule der Künste liegt nur 200 Meter entfernt.

«Nein, nein, nein», wiegelt Mama ab, sie habe keinerlei Pläne für ihren Jungen. Er soll später einmal etwas tun, was ihm wirklich Spass macht. Mama weiss, wovon sie spricht. Juristerei war nicht ihr eigentlicher Berufswunsch. Lieber wäre sie Maskenbildnerin geworden. Oder Pharmazeutin. Aber die Vernunft trieb sie zu den Rechtswissenschaften.

Früher galt der Grundsatz, dass es die Kinder mal besser haben sollen als ihre Eltern. Leanders Eltern sind nicht reich. Aber sie haben alles, was man sich im Mittelstand wünschen würde. Ausser vielleicht ein Auto. Aber wer braucht mitten in Zürich schon ein Auto? Leander muss es nicht weiter bringen als seine Eltern. Es reicht, wenn er einen Beruf findet, den er wirklich liebt.

Mama ist es egal, ob Leander später ins Gymnasium geht oder eine Lehre macht. Nicht egal ist diese Frage Niklaus Schatzmann. Der Historiker leitet das Mittelschul- und Berufsbildungsamt des Kantons Zürich. In seinem Büro steht eine gerahmte Urkunde, die ihm der französische Staat verliehen hat. Als Dank für Schatzmanns Verdienste um die Frankophonie.

Die hat Niklaus Schatzmann sich als Rektor der Kantonsschule Freudenberg erworben, die seit einigen Jahren als eine der wenigen Deutschschweizer Schulen eine zweisprachige Matura anbietet – nicht mit Englisch, sondern mit Französisch.

Der Amtschef rechnet vor, was in Sachen Gymnasien auf seinen Kanton zukommen wird: Bis 2030 werden rund 17’000 Jugendliche mehr als heute in der Sekundarstufe II sein. Davon besuchen gemäss Prognose 5800 ein Gymnasium. Ein Drittel mehr als die 16’431, die 2016 eine öffentliche Mittelschule besuchten.

Die Gymnasialquote, eine Art heilige Kuh in Zürich, soll die heutigen 20 Prozent nicht übersteigen. Stattdessen wird der Konkurrenzkampf zunehmen. Vor allem gut ausgebildeten ausländischen Eltern muss man die Vorzüge einer Berufslehre nicht erklären wollen. Sie haben schlicht kein Interesse daran. Ihre Kinder gehören an die Uni, basta.

Damit der Kanton die 5800 zusätzlichen Maturanden verkraftet, baut er neue Gymnasien auf und bestehende aus. In Uetikon, am rechten Seeufer, wird in Kürze eine neue Kanti eröffnet. Ebenso in Wädenswil, am gegenüberliegenden Ufer. Uster wird ausgebaut, genauso wie Urdorf im Limmattal. Und auch die Stadtzürcher Gymnasien sollen 1600 Schülerinnen mehr als heute aufnehmen. Rund 1000 zusätzliche Lehrkräfte sind dafür nötig. Und diese müssen in eher geburtenschwachen Jahrgängen rekrutiert werden. Für einen Beruf – Gymnasiallehrer –, dessen Prestige früher mal höher war.

Sollte Leander also ums Jahr 2030 herum in die Fussstapfen seiner Mutter treten und die Gymi-Prüfung bestehen, wird vieles anders sein. Dann werden viele der Stadtzürcher Gymnasiastinnen nicht mehr aus der Agglomeration stammen. Mit dem Bau neuer Schulen auf dem Land, werden Zürcher Gymnasien städtischer geprägt sein. Leander und seine Kameraden werden dann stärker unter sich sein, dafür können die Pendlerinnen in den bislang überfüllten S-Bahnen nach Zürich aufatmen. Die Teenies von der Pfnüselküste werden künftig in Wädenswil für ihre Matur büffeln.

Schlägt Leander hingegen den Weg seines Vaters ein und macht eine Berufslehre, vielleicht wie dieser mit Berufsmatura, steht noch vieles in den Sternen. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gibt es den Beruf noch nicht, den Leander lernen würde – vielleicht Robotikberater oder App-Architekt. Ebenso wenig wie die Lehrstelle dafür. 11’000 neue Ausbildungsplätze in Unternehmen müssen bis zum Jahr 2030 im Kanton Zürich geschaffen werden. Mit entsprechenden Berufsschulen und allem Drum und Dran.

Vielleicht, finden Mama und Papa, sei es gar nicht so wichtig, was ihr Sohn als Erstes lerne. Heutzutage, so Papa, könne man ja locker von einem in den anderen Beruf wechseln. Denken sie an ihre eigene Jugend zurück, sei dies noch nicht so klar gewesen.

Es ist irgendwie schon spannend

Während Mama und Papa bei einem Glas Pinot gris über die Zukunft ihres Kindes sinnieren, steht Leander auf einem Stuhl vor dem Backofen. Fasziniert drückt er auf alle Knöpfe. Ab und zu springt der Ofen an, dann stellt Mama ihn wieder aus. «Vielleicht wird er ja Beck», sagt Papa. «Oder Küchengeräte-Installateur», ergänzt Mama. Gut möglich auch, dass der Ofen bald Geschichte sein wird und dann das Handy Leanders Aufmerksamkeit auf sich zieht. (Das knapp zweijährige Patenkind des Schreibenden kann bereits drei verschiedene Smartphone-Modelle bedienen.)

Legt man das Gespräch mit den Eltern und alle Tabellen, Studien und Kuchendiagramme zusammen, wird klar, dass da etwas Interessantes heranwächst. Die Leanders von heute bilden eine Generation, die es so noch nie gegeben hat. Sie wachsen mit einem urbanen Selbstverständnis heran, verbringen ihre Kindheit zusammen mit anderen Kindern in Kitas. Werden als Primarschüler Punkt zwölf nicht hungrig bei Muttern in der Küche stehen, sondern sich in Kantinen und an Mittagstischen verpflegen.

Man fragt sie nicht mehr nach dem Beruf des Vaters, sondern, ob sie den Nachnamen von Mama oder Papa tragen. Für die Louis’, Emmas, Julians, Ellas und Leanders werden Einelternfamilien genauso normal sein wie solche mit zwei Mamas und zwei Papas – schon bald wird Leander vielleicht mit dem Nachwuchs des schwulen Paars in der Nachbarschaft spielen.

Die Stadtzürcher Bevölkerungsspyramide von heute ist längst keine Pyramide mehr. Sie sieht aus wie ein Tannenbaum, dessen Fuss immer breiter wird. Weil die Gruppe der Kleinsten stetig weiterwächst. Der dicke Stamm schiebt sich unentwegt nach oben. Derzeit leben in Zürich so viele Null- bis Vierjährige, wie Aarau Einwohner hat.

In 25 Jahren werden die Leanders als urbane Twens den Ton angeben. Während ihre einst zugezogenen Eltern in grosser Zahl an der Schwelle zum Rentnerdasein stehen werden.

Leander und seine Generationsgenossinnen in Basel, Bern, Lausanne werden eine neue demografische Grösse bilden, die der neuen Stadtkinder.

Es sei denn, Leanders Papa macht seine Drohung wahr und sucht tatsächlich einen Bauernhof, den er kaufen will. Allerdings sollte der – da sind sich beide Elternteile einig – wenn möglich mitten in der Stadt liegen.

Doch in der Stadt wird nichts mehr gepflanzt. Dort, wo früher Schrebergärten standen, wachsen heute Kinder heran.

Debatte: Wie kinderfreundlich sind unsere Städte?

Staatlich subventionierte Kita-Plätze für alle, soziokulturelle Angebote für Eltern und Kinder, bezahlbarer Wohnraum für Familien und Tagesschulen die steigenden Geburtenzahlen zeigen, dass nicht nur Zürich, sondern auch andere grosse Städte attraktiv für Familien sind. Aber stimmt das? Sind Städte tatsächlich der bessere Ort, um Kinder grosszuziehen? Haben es Eltern heute einfacher als früher, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen? – Hier geht es zur Debatte.

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