Auf lange Sicht

Die Dominanz linker Parteien in den Städten

In den letzten 25 Jahren hat ein dramatischer Wandel stattgefunden. Immer mehr Städter wählen links. Und zwar nicht nur in Zürich und Bern, sondern auch in mittelgrossen Städten wie Aarau, Freiburg oder St. Gallen. Wie kam es dazu?

Von Simon Schmid, 12.03.2018

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Die meistdiskutierte Veränderung, welche die Schweizer Politik über die letzten Jahrzehnte geprägt hat, war der Aufstieg der SVP. Die Partei von Christoph Blocher wurde in den Neunziger- und den Nullerjahren von der viertstärksten zur stärksten Kraft im Parlament. Der Durchmarsch der SVP hat eine ganze Generation von Stimmbürgerinnen geprägt: Seit sie wählen dürfen, haben sie nichts anderes als den permanenten Rechtsrutsch erlebt.

Im Schatten davon hat sich in den letzten 25 Jahren jedoch noch eine zweite Veränderung abgespielt. Von den Medien wurde sie weniger diskutiert, in den Köpfen ist sie weniger präsent. Doch in ihrem Ausmass ist sie nicht minder dramatisch als der Aufstieg der Rechtskonservativen in der Bundespolitik: die Siegesserie von linken Parteien in Schweizer Städten.

Seit den Neunzigerjahren gewinnt Rot-Grün-Alternativ in den grossen Zentren eine Wahl nach der anderen. Die jüngsten Erfolgsmeldungen kommen aus Zürich und Winterthur. An den Wahlen vom vergangenen Wochenende gewann das linke Lager in der Limmatstadt 7 Sitze hinzu. Es stellt mit 69 Politikern im 125-köpfigen Gemeinderat erstmals die absolute Mehrheit. In Winterthur gewann die SP zuletzt 3 Sitze, die versammelte Linke ist mit 25 von 60 Sitzen nicht mehr weit von einer Mehrheit entfernt.

Rund die Hälfte des Stadtparlaments in Zürich und Winterthur ist links. Dies ist im Vergleich mit anderen urbanen Zentren nicht aussergewöhnlich. Linke Parteien haben vielerorts ihre Macht ausgebaut. In 8 der 10 grössten Schweizer Städte bilden sie heute den grössten parlamentarischen Block. Dies zeigen Wahldaten der schweizerischen Städtestatistik, die das Bundesamt für Statistik der Republik zur Verfügung gestellt hat.

Das linke Lager dominiert in den Grossstädten

Anteile der politischen Lager im Gemeindeparlament, in Prozent

Links
Mitte
Rechts
Übrige
LausanneZürichBernBaselBielLuzernGenfWinterthurSt. GallenLugano0 50 100

Quelle: BFS, «Statistik der Schweizer Städte». Links = SP, Grüne, AL, PDA, Piraten; Mitte = FDP, CVP, BDP, GLP, LP; Rechts = SVP, MCG, Lega.

SP, Grüne, Alternative Listen und weitere linke Kleinparteien dominieren also die Schweizer Stadtparlamente. Spiegelbildlich dazu fristet die SVP in vielen Zentren ein Mauerblümchendasein. Am geringsten ist ihre Vertretung im Parlament von Lausanne. Sie ist dort praktisch inexistent.

Etwas ausgewogener sind die Stadtparlamente von Basel* und Genf. Die Linke kommt hier nicht auf ein absolutes Mehr. Das dürfte an der Nähe zur Grenze liegen: Die Wählermobilisierung mit Grenzgänger- und Ausländerthemen fällt der SVP an den Rändern der Schweiz leichter als im Landesinnern. Stark ist die Rechte auch in Lugano: Hier erhält sie zusätzlichen Sukkurs von der Lega dei Ticinesi. Die Linke ist in der Tessiner Metropole deutlich schwächer.

Die Südschweiz ist allerdings die Ausnahme. Die Regel sind Städte wie Biel, mit einer vergleichbaren Einwohnerzahl wie Lugano. Im Berner Seeland kommen SP und Co. auf einen Anteil von über 40 Prozent. Ebenso starke Positionen haben die linken Parteien in Luzern und St. Gallen aufgebaut. Was umso erstaunlicher ist, als die Gegenden im Umland dieser Städte traditionell konservativ geprägt sind und bürgerlich wählen.

Die Daten

Der Schweizerische Städteverband führt eine Statistik zur Politik in den Städten. Die Daten werden beim Bundesamt für Statistik (BFS) eingespeist und aufbereitet. Auf der Website des BFS sind summarische Angaben über die Gemeindewahlen in der Schweiz verfügbar. Für diesen Artikel wurde ein Auszug aus der Datenbank verwendet, der die Wahlergebnisse aus 110 Städten beinhaltet. Für 77 von ihnen sind durchgängige Daten von 1993 bis 2017 verfügbar. Die Daten wurden als Excel geliefert (bis 2016: öffentlich, ab 2017: nur aggregiert publizierbar) und von der Republik ausgewertet, unter anderem nach der Grösse der Gemeinden. Es ist nach unserem Wissen die erste Auswertung dieser Art.

Wie kam es zum Siegeszug der Linksparteien in den Städten? Laut dem Politologen Claude Longchamp lässt sich der Wandel anhand von zwei Faktoren erklären: politische Polarisierung und soziale Umschichtung.

Der erste Trend – die Polarisierung – meint das Erstarken der Polparteien zulasten der Mitte. Die politische Auseinandersetzung ist härter geworden: Konsenspolitiker haben Mühe, sich Gehör zu schaffen, Extrempositionen erhalten Zuspruch. Hintergrund dieser Entwicklung sind Globalisierung und technischer Fortschritt. Sie haben in den letzten Jahrzehnten zu einem politischen Wandel auf allen Ebenen geführt – vom Lokalen bis ins Nationale. Zentrale Charakteristik dieses Wandels ist: Die Mitte verliert an Wählern.

Die Frage ist, welche Polparteien davon profitieren. Hier kommt der zweite Trend ins Spiel: die soziologische Umschichtung. Ob rechte oder linke Parteien die Polarisierung zu ihren Gunsten nutzen, hängt wesentlich von der Demografie in einer Gemeinde ab. Also von Dingen wie dem Alter und den Berufen der Einwohner, von der Einwohnerzahl einer Gemeinde und vom Bevölkerungswachstum einer Agglomeration über die letzten Jahrzehnte.

Kleinstädte wählen bürgerlich

Anteile in Stadtparlamenten (bis 20’000 Einwohner)

199320002009201728 Links44 Mitte20 Rechts8 Übrige03060 % der Parlamentssitze

Quelle: BFS, «Statistik der Schweizer Städte». Total 37 Städte: Adliswil, Baden, Bellinzona, Binningen, Bülach, Burgdorf, Davos, Delsberg, Herisau, Horw, Illnau-Effretikon, Kloten, La Tour-de-Peilz, Langenthal, Le Locle, Liestal, Locarno, Martigny, Monthey, Morges, Muri bei Bern, Neuhausen am Rheinfall, Olten, Onex, Opfikon, Ostermundigen, Pratteln, Prilly, Pully, Reinach BL, Schlieren, Sierre, Spiez, Steffisburg, Thônex, Vevey, Wohlen AG.

Das Zusammenspiel der zwei Trends lässt sich veranschaulichen, indem man die Schweizer Städte nach ihrer Einwohnerzahl gruppiert. Und dann für die einzelnen Städtegruppen die mittleren Wähleranteile der Parteien berechnet. Die Daten des BFS erlauben dies rückgehend bis 1993 für insgesamt 77 Städte.

Die Auswertung zeigt, dass die Linke in kleinen Städten mit weniger als 20’000 Einwohnern nicht vorwärtsgemacht hat. Dies zum einen, weil die politische Polarisierung in diesen Orten weniger ausgeprägt ist als in den grösseren Städten: Die Mitte hat bis 2010 zwar an Anteilen verloren, feierte danach aber ein Comeback. Sie bleibt heute das stärkste Lager. Zum anderen haben die rechten Parteien stärker von der Polarisierung profitiert als die Linken.

Ortschaften, welche die Entwicklung der Kleinstädte einigermassen gut repräsentieren, sind Baden, Pully oder Reinach. Eine einzelne Stadt, die exakt mit dem Trend übereinstimmt, gibt es aber nicht: Die 37 Gemeinden in dieser Grössenkategorie sind untereinander recht heterogen.

Bereits eine Kategorie weiter oben zeigt sich ein anderes Bild. In den Städten zwischen 20’000 und 50’000 Einwohnern hat das linke Lager den Abstand zur Mitte deutlich verringert. Der Grossteil der Verschiebungen fand in den Neunziger- und den Nullerjahren statt; seit 7 Jahren ist die Lage stabil.

Linkes Lager schliesst zur Mitte auf

Anteile in Stadtparlamenten (20’000 bis 50’000 Einwohner)

199320002009201736 Links40 Mitte21 Rechts4 Übrige03060 % der Parlamentssitze

Quelle: BFS, «Statistik der Schweizer Städte». Total 30 Städte: Aarau, Allschwil, Carouge GE, Chur, Dietikon, Dübendorf, Emmen, Frauenfeld, Freiburg, Köniz, Kreuzlingen, Kriens, La Chaux-de-Fonds, Lancy, Meyrin, Montreux, Neuenburg, Nyon, Renens VD, Riehen, Schaffhausen, Sitten, Thun, Uster, Vernier, Wädenswil, Wettingen, Wil SG, Yverdon-les-Bains, Zug.

Auch die SVP hat in diesen Städten vorwärtsgemacht – sogar noch stärker als die Linke. Doch ihr Anteil an den Parlamentssitzen stagniert sei einiger Zeit bei etwa 20 Prozent. Es scheint, als habe das rechte Lager sein Potenzial in den mittelgrossen Städten bereits ausgeschöpft.

Die Entwicklung der einzelnen Städte fällt teils sehr unterschiedlich aus. In Aarau hat etwa die Linke auf Kosten der Mitte zugelegt, während die Rechte an Ort tritt. In Zug ist es genau umgekehrt. Hier fiel der Sitzanteil der Linken über die letzten 25 Jahre, während die Rechte ins Parlament einzog und sich dort etablierte. Die Mitte hält weiter die Mehrheit.

Woher kommen die Unterschiede? Eine Theorie geht davon aus, dass sogenannte Lock-in-Effekte eine Rolle spielen. Linke Parteien wuchsen in den Gemeinden, die aus historischen Gründen stärker auf den öffentlichen Verkehr ausgerichtet waren. Dies zog Angestellte und Wissensarbeiter mit Affinität zu linker Politik an – was dem Ausbau der öffentlichen Dienste zugutekam und so wiederum neue Angestellte und Wissensarbeiter anzog.

Andere Städte vollzogen derweil ein bürgerliches Lock-in: mit eher privat-individuell ausgerichtetem Konsum, reichen Zuzügern und tiefen Steuern.

GLP bringt die Parlamente durcheinander

Anteile in Stadtparlamenten (50’000 bis 120’000 Einwohner)

199320002009201738 Links39 Mitte21 Rechts3 Übrige03060 % der Parlamentssitze

Quelle: BFS, «Statistik der Schweizer Städte». Total 5 Städte: Biel/Bienne, Lugano, Luzern, St. Gallen, Winterthur.

Die Lock-in-Theorie hilft, die Unterschiede bei mittelgrossen Städten zu erklären. Bei der nächstgrösseren Kategorie stösst sie aber an Grenzen. Sie umfasst Städte mit 50’000 bis 120’000 Einwohnern.

Hier ist das Bild ziemlich homogen: 4 der 5 Städte – Biel, Luzern, St. Gallen und Winterthur – sind heute linkslastiger als vor 25 Jahren. SP, Grüne und Alternative haben in den grösseren Städten stärker vom Abstieg der Mitte profitiert als in mittleren Städten. Und auch stärker profitiert als die SVP. Die Ausnahme ist Lugano, wo die Linke das schwächste Lager bildet.

Der Knick in der Grafik ums Jahr 2010 ist übrigens ein GLP-Phänomen. Die grünliberale Partei, die hier dem Mittelager zugerechnet wird, gewann in Biel, Luzern und Winterthur um diese Zeit 6 bis 7 Prozentpunkte an Sitzanteilen hinzu. Dies auf Kosten der SVP und der Freiheitspartei. Würde man die Grünliberalen dem linken Lager zurechnen, was städtepolitisch nicht ganz abwegig ist, läge links in dieser Städtekategorie sogar vor der Mitte.

Linke Parteien haben die Mehrheit

Anteile in Stadtparlamenten (über 120’000 Einwohner)

199320002009201750 Links31 Mitte14 Rechts4 Übrige03060 % der Parlamentssitze

Quelle: BFS, «Statistik der Schweizer Städte». Total 5 Städte: Basel, Bern, Genf, Lausanne, Zürich.

Definitiv an der Macht sind die Linksparteien in der grössten Städtekategorie: in Basel, Bern, Genf, Lausanne und Zürich. Ihr Anteil an den Parlamentssitzen liegt hier im Schnitt bei 50 Prozent. Der Anteil ist also fast doppelt so hoch wie derjenige ihrer Sitze im Nationalrat.

Derweil kommen rechte Parteien wie die SVP und der Mouvement Citoyens Genevois (MCG) nur auf 14 Prozent der grossstädtischen Parlamentssitze – und damit auf nicht einmal den halb so grossen Sitzanteil wie in der grossen Kammer in Bundesbern. Auch die Mitte ist in den Grossstädten etwas schwächer vertreten als im nationalen Parlament.

Für die linke Dominanz in den Städten gibt es diverse Gründe. Neben der Demografie hilft den linken Parteien die Wahlbeteiligung: Sie ist bei städtischen Wahlen typischerweise höher als etwa bei kantonalen Wahlen. Zudem ist sie steigend. Was das ausmacht, wurde am letzten Wochenende offensichtlich: Viele Wähler gingen aus Anlass der gleichzeitig stattfindenden No-Billag-Abstimmung zur Urne. Dies verhalf vermutlich dem linken Lager in Zürich und Winterthur zu einem unerwartet deutlichen Sieg.

Ein weiterer Faktor ist der Themenmix. Die drei grossen Themen der SVP – Migration, Europa, Strafrecht – werden vorwiegend in der nationalen Politik verhandelt. In den Stadtparlamenten geht es derweil um Verkehrsgestaltung und öffentliche Infrastrukturen und Familienbetreuung: also um Themen, die zum Kernprogramm der linken Parteien gehören. So gesehen ist es nur logisch, dass die FDP sich mit einer neuen «Urban»-Initiative anschickt, diese Themenfelder ihrerseits stärker zu beackern. Um so einen Teil der Verluste, die sie in den Schweizer Städten erlitten hat, wieder aufzufangen.

* Eine Präzisierung: Klammert man die Gemeinden Riehen und Bettingen aus der Rechnung aus (die zwar im Grossen Rat vertreten sind, aber streng genommen nicht zur Stadt gehören), klettert der Sitzanteil von linken Parteien in Basel von 48 auf 51 Prozent. Im Gegenzug sinkt der Anteil der Mitteparteien leicht, jener der rechten Parteien bleibt praktisch unverändert.

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