Mit GPS in die Grauzone

Dürfen Sozialdetektive bald mehr als die Polizei? Politik und Behörden wollen IV-Empfängerinnen und Sozialhilfebezüger mit GPS-Peilsendern überwachen. Wie konnte es so weit kommen?

Von Elia Blülle, Carlos Hanimann (Text) und Till Lauer (Illustrationen) 09.03.2018

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Stefanie Müller* wuchs in der DDR auf, im sozialistischen Ostberlin der 1980er-Jahre. Aber erst in der Schweiz erlebte sie, was es heisst, überwacht zu werden.

Müller ahnt nichts, als sich an einem Samstagmorgen im September 2016 Ermittler 204 und Ermittler 206 in aller Früh an ihre Fersen heften. Die zwei Privatdetektive parkieren vor ihrer Wohnung – und warten. Der Himmel ist bedeckt, und das Thermometer zeigt angenehme 14 Grad, erst später wird die Sonne strahlen und die Temperatur auf 27 Grad steigen lassen.

Losgeschickt hat die Privatdetektive die lokale Sozialbehörde. Der Auftrag: die Beschattung von Stefanie Müller. Der Verdacht: Sie verschweige der Sozialbehörde, dass ihr Mitbewohner in Wahrheit ihr Lebenspartner sei. Stimmt der Verdacht, hätte sie das der Behörde melden müssen.

Gewissenhaft protokollieren die Detektive: «Bei der vermuteten Wohnung von Stefanie Müller, 2. Stock oben rechts, sind die Rollläden der zwei Fenster geschlossen und in horizontaler Position. Hinter einem dieser Fenster sitzt eine Katze.»

10.00 Uhr: «Auf der gegenüberliegenden Hausseite ist die Balkontüre zur Wohnung von Müller geöffnet.»

14.20 Uhr: «Seite Hauseingang ist ein Fenster der Wohnung von Müller geöffnet.»

16.00 Uhr: Die Ermittler brechen die Übung ab. «Überwachung beendet», schreiben sie in ihren Bericht. «Müller ist nicht in Erscheinung getreten.»

Dienstag, 6. März 2018, eineinhalb Jahre später: Die 52-jährige Stefanie Müller sitzt an ihrem Küchentisch einer anderen Wohnung. Nach der Observation durch die Sozialbehörde ist sie umgezogen. Sie war 2006 aus beruflichen Gründen in die Schweiz gekommen, 2013 verlor sie ihre Stelle als Kauffrau und schrieb danach Hunderte Bewerbungen. Erfolglos. Eine Ausländerin in ihrem Alter ohne Fremdsprachenkenntnisse – keine Chance auf eine Festanstellung. Seit fünf Jahren lebt sie von der Sozialhilfe. Stefanie Müller rührt ihren Kaffee um, lacht und sagt: «Diese Detektive waren eine Verschwendung von Steuergeldern. Ich hatte nichts zu verbergen.»

Die SVP lanciert Missbrauchsdebatte

Nächste Woche berät der Nationalrat in Bern die Revision des Sozialversicherungsgesetzes. Künftig sollen Sozialinspektoren Verdächtige mit Kameras, Aufnahmegeräten und GPS-Trackern überwachen können, um missbräuchliche Bezüge aufzudecken. Der Ständerat, der die Vorlage als Erstrat behandelte, hat im Eilzugstempo eine problematische Vorlage geschaffen, die in eine rechtliche Grauzone vorprescht: Im Namen der Missbrauchsbekämpfung wurden Grundrechte beiseitegeschoben, sodass Privatdetektive demnächst mehr und schärfere Mittel zur Verfügung haben könnten als die Polizei.

Wie konnte es so weit kommen? Wer trieb die Entwicklung voran? Und welche Probleme sind dabei entstanden?

Die Geschichte der Überwachungen im Sozialwesen ist jung. Sie handelt von gross angelegten Politkampagnen, eifrigen Gesetzgebern, einem Unfall und einem brennenden BMW. Ihren Anfang aber nahm sie, als vor fünfzehn Jahren ein neues Wort die Schweizer Politik eroberte: «Scheininvalide».

Es war an einem Freitag, dem 13. Juni 2003, als Christoph Blocher den Brunnen für immer vergiftete. In einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» wetterte er gegen die Erhöhung des Rentenalters, wehrte sich gegen die Einführung einer Mutterschaftsversicherung – und blies zum Angriff auf die Invalidenversicherung. «Ein Grossteil der Invalidität ist Scheininvalidität», sagte Blocher. «Manche wollen gar nicht mehr gesund werden. Für sie ist es einfacher, den Lohn durch die IV-Rente zu ersetzen.»

Simulanten in der IV. Die Jagd war eröffnet.

Die SVP schaltete wenige Tage später ganzseitige Inserate in allen grossen Zeitungen. Die Überschrift: «Schluss mit den Scheininvaliden». Die Partei sah die Ausgaben der IV in die Höhe schnellen: Im Jahr 2020 würden die IV-Kosten 40 Milliarden Franken betragen. Da verlässliche Zahlen fehlten, übte sich die SVP im freien Assoziieren. Heute ist klar: Die SVP lag falsch. Die jährlichen Kosten der IV liegen mit 9 Milliarden Franken weit unter den Horrorszenarien der SVP.

Doch die Stimmungsmache zahlte sich aus. Keine Partei war nach den Wahlen 2003 stärker als die SVP. Das Parlament hievte Christoph Blocher in den Bundesrat. Und die Partei entdeckte ein neues Lieblingsthema: den Sozialmissbrauch.

Die Fronten verhärteten sich: Die Polemik der SVP traf auf Tabuisierung bei der Linken. Während diese das Problem verneinte, weiteten die Nationalkonservativen den Angriff aus und zielten als Nächstes auf die Sozialhilfe. Das machte die Lage unübersichtlich: Die Sozialhilfe ist – anders als die Sozialversicherungen wie die IV oder die AHV – auf Gemeindeebene geregelt. Sich einen Gesamtüberblick zu verschaffen, ist schwer. Also ersetzten medial ausgewalzte Skandale und gefühlte Wahrheiten gesicherte Fakten; einzelne Betrugsfälle befeuerten die sogenannte Missbrauchsdebatte.

Sozialinspektoren gegen Betrüger

Um zu verstehen, warum heute selbst Sozialdemokraten in einer linken Stadt wie Zürich wollen, dass Sozialdetektive GPS-Tracker an Fahrzeuge von Sozialhilfeempfängerinnen anbringen, muss man nochmals ein paar Jahre zurückblicken. Genauer: auf den 1. Mai 2007.

An diesem Tag zündeten Autonome an einer Demonstration einen Luxuswagen vor dem Gebäude der Wirtschaftsberatungsfirma KPMG an. Der brennende schwarze BMW 320d loderte daraufhin durch die Schweizer Presse. Im Nachgang wurde bekannt: Das Auto gehörte einer tunesischen Sozialhilfebezügerin.

In Zürich geriet das Sozialdepartement unter der grünen Stadträtin Monika Stocker unter Druck. Das Amt führte im Sommer 2007 als erste grosse Schweizer Stadt ein Sozialinspektorat ein: Städtische Angestellte ermittelten bei begründetem Verdacht auf Schwarzarbeit, Nebeneinkünfte oder Falschangaben zum Vermögen – und observierten auch verdeckt.

Das Rezept war erfolgreich: Sozialinspektoren überführten Betrüger und besänftigten so die SVP. Nach Jahren der Schmähung von Presse und bürgerlichen Parteien erhielten die Sozialdienste plötzlich Applaus. In der Pilotphase von 2007 bis 2009 deckte die Stadt Zürich eine Schadenssumme von 7,9 Millionen Franken auf, 2,5 Millionen pro Jahr. Seither hat sich die Schadenssumme auf jährlich etwa eine Million eingependelt – gleich viel, wie die Kosten für das städtische Sozialinspektorat betragen.

Das Zürcher Modell machte schweizweit Schule. Bald darauf folgte die Stadt Bern. Gemäss einer Umfrage der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) aus dem Jahr 2014 setzen die Sozialdienste in der Hälfte aller Kantone regelmässig Sozialinspektoren ein.

Der allererste Sozialinspektor der Schweiz aber stammt nicht aus Zürich, sondern aus dem Luzerner Vorort Emmen. Das war bereits im Jahr 2005, und die Gemeinde ernannte dazu den ehemaligen Polizisten Christoph Odermatt.

Als Odermatt die Stelle antrat, war der Aufschrei gross: «Sozialschnüffler», schrieben die Medien. Eine Beleidigung für die 97 Prozent der Sozialhilfebezüger, die berechtigterweise Leistungen in Anspruch nehmen, riefen linke Politiker. Der Anfang war harzig, heute spricht Odermatt rückblickend von einer Erfolgsgeschichte und breiter Akzeptanz: «In der Sozialhilfe wird nun mal Missbrauch betrieben. Wir waren die Ersten, die konsequent hinschauten. Heute dürfte die Abschreckung für Personen, die missbräuchlich Sozialhilfe beziehen, viel grösser sein.»

Seit der 5. IV-Revision im Jahr 2008 beauftragt auch die Invalidenversicherung regelmässig Privatdetektive mit der Überprüfung von verdächtigen Klienten. Im Jahr 2016 vergab die IV 16’000 Neurenten. Insgesamt bezogen 220’600 Personen eine Rente. Die jährlichen Gesamtausgaben der IV belaufen sich auf rund 9 Milliarden Franken.

In 1860 Fällen vermutete das Bundesamt für Sozialversicherungen einen Missbrauch. 270 Mal ordnete es eine Observation an, in zwei Dritteln der Fälle bestätigte sich der Anfangsverdacht. Insgesamt deckte das Bundesamt 650 Missbrauchsfälle auf, die hochgerechnete Schadenssumme betrug 178 Millionen Franken.

Ob bei der Sozialhilfe, der Invalidenversicherung oder den Ergänzungsleistungen – die Überwachung von Bezügerinnen von Sozialleistungen wurde zum Standard.

Doch dann kam das Urteil aus Strassburg. Und das stellte alles auf den Kopf.

Das Ende der Überwachungen

1995 war eine Schweizerin auf einem Fussgängerstreifen von einem Motorrad angefahren worden. Sie fiel auf den Hinterkopf und wurde arbeitsunfähig. Die private Versicherung aber wollte die Leistungen nur in eingeschränktem Mass zahlen und schliesslich ganz einstellen. Sie stützte sich dabei auf den Überwachungsbericht einer Privatdetektei und entschied, die Frau sei nur zu zehn Prozent arbeitsunfähig.

Alle Instanzen in der Schweiz stützten die Beurteilung der Versicherung. Erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg korrigierte über zwanzig Jahre nach dem Unfall: Am 18. Oktober 2016 entschied es, dass die verdeckte Überwachung der Schweizerin unrechtmässig gewesen sei. Ihre Privatsphäre sei in unzulässiger Weise verletzt worden. Es fehle eine gesetzliche Grundlage.

Der Fall Vukota-Bojic hat die Regeln grundsätzlich verändert. Doch IV-Stellen, Sozialbehörden und Privatversicherer in der ganzen Schweiz zögerten: Untersagte das Urteil alle verdeckten Überwachungen?

Die Stadt Zürich ging voran. Nach anfänglichem Zögern stoppte der sozialdemokratische Stadtrat Raphael Golta widerwillig die verdeckten Observationen seines Sozialinspektorats. Auch auf Bundesebene geriet einiges in Bewegung: Nach einem Urteil des Bundesgerichts wies das Bundesamt für Sozialversicherungen alle IV-Stellen an, auf verdeckte Observationen zu verzichten.

Allen war nun klar: Es brauchte ein neues Gesetz. Und zwar schnell.

In Zürich hat sich Sozialdemokrat Golta daran gemacht, eine neue gesetzliche Grundlage auf städtischer Ebene auszuarbeiten, die den Einsatz von GPS-Trackern erlaubt – auch ohne richterliche Genehmigung. (Der Gemeinderat berät die Vorlage nächsten Mittwoch, 14. März. Die SP hat sich in der vorberatenden Kommission der Stimme enthalten, um der Vorlage zum Durchbruch zu verhelfen.)

Der Sozialkommission des Ständerats war das Vorgehen des Bundesrates zu langsam. Einen Monat nach dem Strassburger Urteil reichte sie eine parlamentarische Initiative ein, um den Gesetzgebungsprozess zu beschleunigen – mit dem Nebeneffekt, dass sie die Vorlage stärker beeinflussen konnte. Mit Erfolg. Die Kommission sprach den Versicherungen noch mehr Kompetenzen zu, als der Bundesrat vorgesehen hatte. Neben Bild- und Tonaufnahmen sollte auch der Einsatz von GPS-Trackern erlaubt werden – alles ohne richterlichen Beschluss.

Der Ständerat akzeptierte den Vorschlag der vorberatenden Kommission. Mit nur einer Einschränkung: Sozialdetektive dürfen GPS-Tracker nur mit einer richterlichen Anordnung verwenden.

Die linke Minderheit gab sich entsetzt darüber, wie schnell und scharf das Gesetz im Ständerat behandelt wurde. SP-Ständerat Hans Stöckli sagte letzte Woche zur WOZ: «Die rechte Mehrheit der Ständeratskommission hat das Geschäft an sich gerissen – und dann wurde sehr schnell und sehr einseitig gearbeitet. In den Beratungen wurden nur die Partikularinteressen von kantonalen und eidgenössischen Behörden berücksichtigt. Wir wollten die Grundrechtsproblematik in die Debatte einbringen, fanden aber kein Gehör.»

Das schlechte Gesetz

Frühlingssession in Bern. Thomas Gächter und Philip Stolkin sitzen im Café Galerie des Alpes im Bundeshaus und machen eine kurze Pause. Die beiden Juristen haben eine Mission: Den ganzen Nachmittag über treffen sie sich mit Parlamentarierinnen, um sie vor den Mängeln des geplanten Gesetzes zu warnen.

Stolkin, Rechtsanwalt in Zürich, hatte vor Jahren den Fall Vukota-Bojic nach Strassburg gebracht, jenen Fall, in dem der Menschenrechtsgerichtshof 2016 die Schweiz rügte und so einen vorläufigen Stopp von verdeckten Observationen erwirkte. Stolkin gab also letztlich, wenn auch komplett gegen seine Intention, den Startschuss für das neue Gesetz – und jetzt will er es auf den letzten Metern aufhalten.

Der Erfolg in Strassburg war so gesehen ein kurzer Triumph: Das neue Gesetz will verdeckte Überwachungen nicht einschränken, sondern viel eher ausweiten. «Das Grundrecht auf Privatsphäre wird neutralisiert», sagt Stolkin. «Wenn so ein Gesetz ohne Widerstand durchs Parlament geht, macht mir das Angst.»

Sein Kollege Thomas Gächter, Rechtsprofessor an der Universität Zürich und spezialisiert auf Staats- und Sozialversicherungsrecht, pflichtet ihm bei. Die Vorlage sei völlig aus dem Ruder gelaufen: «Sie ist unverhältnismässig und rechtlich nicht durchdacht.» Er hält im Wesentlichen vier Punkte für problematisch:

  • Die Mittel: Das neue Gesetz soll Überwachungen mit Bild, Ton und Peilsendern ermöglichen. Polizisten und Staatsanwältinnen brauchen dafür richterliche Genehmigungen, wenn sie an Orten stattfindet, die nicht allgemein zugänglich sind. Die Gesetzesvorlage sieht das nur bei GPS-Überwachungen vor. Sozialdetektive hätten künftig mehr Kompetenzen als die Polizei.

  • Die Privatsphäre: Neu dürften frei einsehbare Orte observiert werden. So könnten Sozialdetektive Balkons, Gärten oder nicht verdeckte Wohnzimmer überwachen. Das Gesetz ginge weiter als die Strafprozessordnung, die die Überwachung in privaten Räumen klar untersagt.

  • Der Anfangsverdacht: Die Hürden für eine Überwachung wären äusserst tief angesetzt. Nach jetzigem Gesetzesentwurf könnte ein Versicherungsmitarbeiter, der in der Fallbearbeitung oder im Leistungsbereich verantwortlich ist, nach Gutdünken Überwachungen anordnen.

  • Das fehlende Verwertungsverbot: Häufig würden schon heute Beweise angeführt, die illegal erhoben wurden. Weil im neuen Gesetz – anders als in der Strafprozessordnung – ein Verwertungsverbot fehle, hätten Gerichte freie Hand, auch illegale Beweise zuzulassen. Das Gesetz setze dem keine ausdrücklichen Schranken.

Rechtsprofessor Gächter sagt, viele würden übersehen, dass das neue Gesetz für alle Sozialversicherungen gelte: für die AHV, die IV, die Arbeitslosenversicherung und die Krankenversicherungen. Fast die ganze Schweizer Bevölkerung beziehe auf die eine oder andere Art Sozialversicherungsleistungen. Deshalb könnten auch fast alle von einer Überwachung betroffen sein. «Und zwar in einer Art und Weise, wie sie nicht einmal der Polizei zusteht.»

Ohnehin stelle sich die Frage, warum Gemeindeverwaltungen verdeckte Überwachungen anordneten. Schliesslich sei Sozialhilfemissbrauch strafrechtlich relevant, sagt Philip Stolkin. Die Zuständigkeit liege bei den Strafverfolgern. Dass nun Sozialbehörden ermittelten statt der Polizei, sei nicht nur sinnlos, sondern eine Verletzung der Gewaltenteilung: «Wird ein Missbrauch festgestellt, kann man die Staatsanwaltschaft um Abklärung bitten. Dann führen ausgebildete Polizisten die Observationen durch und nicht Privatdetektive, über die man keine Kontrolle hat.»

Der Auftrag aus Strassburg an die Schweiz war eine ausgewogene juristische Grundlage für die Überwachung von Sozialversicherten. Die beiden Juristen Gächter und Stolkin sind sich einig: Der Auftrag wurde nicht erfüllt. Entstanden sei eine Vorlage, die allein im Interesse der Versicherungen geschrieben wurde. Philip Stolkin: «Das Gesetz ist eine Blamage, reinstes Lobbyistenrecht.»

Vergessen und Misstrauen

Ermittler 204 und Ermittler 206 geben nicht auf. Nach der ersten, erfolglosen Beschattung setzen die Privatdetektive die Überwachung von Stefanie Müller an zwei Tagen fort. Am letzten Tag beobachten sie, wie Müller mit ihrem Mitbewohner ein Einkaufszentrum besucht. Das wird ihr zum Verhängnis. Die Sozialbehörde glaubt, sie hätte Müller überführt: Sie streicht ihr die Sozialhilfe.

Müller erfährt erst zwei Monate nach der Observation, dass sie von Privatdetektiven überwacht wurde. Als sie die Akten einsieht, entdeckt sie den Abschlussbericht der Ermittler: alltägliche Banalitäten auf zehn Seiten Protokoll, fotografisch festgehalten.

Stefanie Müller und ihr Mitbewohner im Baugeschäft. Müller und ihr Mitbewohner im Beratungsgespräch. Müller und ihr Mitbewohner vor einem Regal mit Bodenbelägen. Müller und ihr Mitbewohner im roten Toyota.

Der Anwalt von Müller wird später in einer Stellungnahme erklären, die arbeitslose Sozialhilfebezügerin habe ihren Mitbewohner beim Ausbau seines Hobbyraumes unterstützt. Sie sei handwerklich begabt. Das Sozialamt aber interpretiert die Überwachungsergebnisse anders. Die Einkaufstour ist der Gemeinde Beweis genug: Müller lebt mit ihrem Mitbewohner in einem «stabilen Konkubinat» und hat deshalb keinen Anspruch auf Unterstützung. Es sei genug Geld da. Die Behörde streicht Müller die Sozialleistungen. Stefanie Müller verliert ihre Lebensgrundlage.

Auf den ersten Schock folgt Unverständnis. Es hält bis heute an. Müller findet den Bericht absurd: «Die Detektive fanden keinen einzigen Beweis, dass mein Mitbewohner und ich eine Beziehung führten. Wir spazierten nicht Arm in Arm durch die Gegend, ich habe ihm bloss beim Einkaufen geholfen. Nicht mehr und nicht weniger.»

Müller ficht den Entscheid der Gemeinde beim Bezirksrat an – und bekommt recht: Die erhobenen Beweise genügen nicht, um ihr die Leistungen zu streichen. Die Sozialhilfe muss sie weiter unterstützen.

«Ich fühlte mich behandelt wie eine Schwerverbrecherin», sagt Müller. Nach der Observation hat sie die Schnauze voll. Sie zieht in eine andere Gemeinde. Bis heute versteht sie das Vorgehen des Sozialamtes nicht. «Warum haben sie uns nicht einfach nach unserem Beziehungsstatus gefragt, bevor sie die Überwachung anordneten?» Stefanie Müller hätte gerne geantwortet.

* Name geändert

Suva lobbyiert für neuen Observationsartikel

Letzte Woche berichtete die «Wochenzeitung» (WOZ), dass die staatliche Unfallversicherung Suva und der Schweizerische Versicherungsverband massiven Einfluss auf die nationalrätliche Sozialkommission ausgeübt hätten. Anders als der Ständerat hatte sich die Kommission des Nationalrats in einer ersten Beratung dafür ausgesprochen, dass sämtliche Observationsmittel eine richterliche Genehmigung erforderten. Der Suva passte das nicht. Sie bat nach diesem Entscheid alle Kommissionsmitglieder per Mail, aus Kostengründen auf eine richterlichen Genehmigung zu verzichten – ausser bei GPS-Trackern. Mit Erfolg: Die Kommissionsmehrheit folgte dem Wunsch der Suva. In der zweiten Beratung änderte die Kommission ihre Meinung. Sie empfiehlt nun dem Nationalrat, nur für GPS-Tracking eine richterliche Genehmigung zu verlangen – nicht aber bei Überwachungen mit Bild und Ton.

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