Binswanger

Frontstaat der Medienpolitik

Es wird ein geschichtsträchtiger Sonntag: mit der potenziellen Abwahl Merkels und der Rückkehr Berlusconis – und dem gebannten Blick auf das medienpolitische Avantgarde-Projekt im Herzen Europas.

Von Daniel Binswanger, 03.03.2018

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In letzter Zeit fällt mir häufiger eine Vokabel aus der Schulzeit wieder ein, aus dem Lateinunterricht: das Adynaton. Erinnern Sie sich? Ein Adynaton ist eine rhetorische Figur, mit besonderer Virtuosität von Vergil verwendet. Es bedeutet «unmöglich» und ist ein Stilmittel, um mit rhetorischer Übertreibung eine Unmöglichkeit zum Ausdruck zu bringen. Vergil sagt also nicht: «Wir werden ihn nie vergessen.» Sondern: «Eher werden leicht in den Lüften die Hirsche weiden, und die Brandung nackt die Fische auf dem Strand verlassen (…), als dass aus unserem Herzen sein Antlitz entschwindet.»

Wir erleben gerade einen grossen, beinahe poetisch zu nennenden Karneval der politischen Adynata – von Unmöglichkeiten, die aber ganz plötzlich zu Realitäten werden. Wenn Ihnen vor einem Jahr Ihr Liebster geschworen hätte, eher werde der Sonntag kommen, an dem Silvio Berlusconi an die Macht zurückkehrt und Angela Merkel alle Macht verliert, als dass er Sie verlässt, dann hätten Sie das für einen etwas exzentrischen Schwur ewiger Liebe gehalten. Denn dieser Sonntag würde unmöglich jemals kommen. Jetzt steht er vor der Tür.

Sicher: Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob sich dieses Worst-Case-Szenario tatsächlich realisieren wird. Die Chancen stehen nicht so schlecht, dass die SPD-Basis die GroKo durchwinkt und Merkel noch einmal zur Kanzlerschaft verhilft. Auch die Wiederkehr des Silvio Berlusconi ist noch nicht gewiss, obschon die (in Italien allerdings notorisch ungenauen) Umfragen voraussagen, dass das Politfossil allen Ernstes als Königsmacher aus dem italienischen Urnengang hervorgehen wird. Spannender ist schon eher die Frage, ob der Lega-Führer Matteo Salvini (der Mann, der dafür plädiert, das Migrationsproblem durch eine «Massensäuberung von Strasse zu Strasse» zu lösen) am Ende zum Premierminister wird. Auch diese Ungeheuerlichkeit ist keine Unmöglichkeit mehr.

Berlusconi droht nicht nur zurückzukehren. Der Bunga-Bunga-Greis erscheint de facto als realistischste Option, um den Anti-Europäer und Putin-Gefolgsmann Salvini zu verhindern. Europa muss hoffen, dass Berlusconi zurückkehrt. Wer hätte es je für möglich gehalten?

Und im Herzen dieses Europas, in dem nichts mehr gewiss ist und nichts mehr unmöglich erscheint, im beschaulichen Auge des Orkans liegt die Schweiz – und erweist sich mit ihren eigenen Abstimmungen auch an diesem aussergewöhnlichen Sonntag als ideologisches Kraftzentrum des Kontinents. Ein No-Billag-Nein ist zwar mittlerweile sehr wahrscheinlich (aber auch Schweizer Umfragen können falsch liegen), und der eigentliche Kampf wird nicht mehr um No Billag, sondern darum geführt, was am Tag nach der Abstimmung geschieht. Wenn das Nein-Lager auf 60 Prozent kommt, geht der Service public gestärkt und als Sieger vom Platz. Wenn das Nein bei 55 Prozent verharrt, werden die Bemühungen, die SRG zu vernichten, sofort mit doppelter Intensität fortgesetzt werden. Deshalb kommt es mehr denn je auf jede Stimme an.

Am bemerkenswertesten am No-Billag-Kampf dürfte aber sein, welchen ungeheuren Platz er in der öffentlichen Debatte eingenommen hat – nicht nur in der Schweiz, sondern auch im europäischen Umland. Die Kontrolle über die Medien und die Information wird zum zentralen Kampffeld um die Zukunft der Demokratie. Das gilt nicht nur für die USA, wo der Präsident die Lüge zu seinem Hauptregierungsmittel erhoben hat (die «Washington Post» errechnete nach einem Jahr seiner Präsidentschaft, dass Trump pro Tag im Schnitt 5,9 Falschaussagen macht) und wo der Regierung nicht genehme Medien wie die «New York Times» vom Präsidenten als «Feinde des Volkes» bezeichnet werden. Es gilt auch für Europa, wo in Österreich FPÖ-Vizekanzler Strache den ORF als «Ort, wo Lügen zu Nachrichten werden» verhöhnt, wo in Polen der öffentliche Rundfunk von der nationalkonservativen Regierung vollständig gleichgeschaltet worden ist und wo in Deutschland nun ebenfalls eine intensive Debatte über die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geführt wird.

Von den deutschen Parteien spricht sich vorderhand nur die AfD für den extremistischen Kahlschlag aus. Die Forderung stösst aber auf so viel Resonanz, dass alle deutschen Medien gebannt den morgigen Abstimmungssonntag verfolgen. Kaum je dürfte es im deutschen Rundfunk so viele Live-Schaltungen aus der Schweiz gegeben haben, wie das am Sonntag der Fall sein wird. Schaut auf die heutige Schweiz: das medienpolitische Laboratrium, den Frontstaat, den Fackelträger der aggressivsten Formen des europäischen Rechtspopulismus.

Beeindruckend aus helvetischer Sicht war die Gebührendiskussion, die am Mittwoch in der ARD bei «Maischberger» geführt wurde. Für Eidgenossen ungewohnt war, wie zurückhaltend und gesittet das Gespräch verlief. Die stellvertretende AfD-Bundesvorsitzende Beatrix von Storch zeigte sich zwar als scharfe Kritikerin der Rundfunkgebühren, argumentierte aber hauptsächlich damit, dass sie Rentner mit tiefem Einkommen übermässig belasten würden. Gemessen an der Kampfrhetorik eines Hans-Ulrich Bigler, gemessen an den obszönen Unflätigkeiten, mit denen Roger Köppel unter dem Gegröle des SVP-Sonderparteitages über die Schweizer Medienministerin herzog, wirkte die AfD-Einpeitscherin von Storch wie eine überkorrekte Gouvernante. Wir sollten uns nicht darüber wundern, dass der Rechtsradikalismus in ganz Europa die politische Kultur der Schweiz mittlerweile als paradiesische Utopie betrachtet. Bei der regressiven Enthemmung sind wir ganz weit vorn.

Im 19. Jahrhundert war die Schweiz ein extrem armes Land, das aber progressiven Pioniergeist besass, dem die 48er-Revolution gelang, das den Konfessionsfrieden herstellte, das starke liberale Eliten hatte – und das als Hort des Liberalismus nach Europa ausstrahlte. Die Schweiz im 21. Jahrhundert ist ein extrem reiches Land, das vom Nationalkonservatismus dominiert wird, dem es nicht gelingt, seinen Platz in Europa zu definieren, das Minarette verbietet, dessen liberale Eliten sich in die Defensive drängen lassen – und das als Hort der verabsolutierten Volkssouveränität sämtliche nationalkonservativen Kräfte in Europa elektrisiert. Wer hätte eine solche Entwicklung je für möglich gehalten? Eigentlich ein Adynaton.

Illustration Alex Solman

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