«Die meisten Toten lebten in Armut»

Die Demokratieforscherin Nicole Curato über den Regierungsstil des philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte, seine Beliebtheit in der Bevölkerung und die mögliche Zukunft des Landes.

Von Olivia Kühni, 27.02.2018

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Er gibt die Richtung vor, und die grosse Mehrheit der Filipinas und Filipinos folgt ihm: Präsident Rodrigo Duterte beim Besuch in einem Randbezirk der Landeshauptstadt Manila. Aaron Favila/AP

Dieses Interview folgt auf die Reportage «Die Melancholie der Killercops».

Frau Curato, auf den Philippinen tobt seit Monaten ein «war on drugs», eine harte staatliche Kampagne gegen mutmassliche Drogenhändler, angeordnet von Präsident Rodrigo Duterte. Was bedeutet das für die Menschen?
Der Drogenkrieg ist brutal. Die Regierung spricht von über 4000 Menschen, die bei Polizeieinsätzen getötet wurden; Menschenrechtsorganisationen gehen jedoch eher von 14’000 Toten oder noch mehr aus. Es ist so drastisch, dass manche Kommentatoren eine Intervention des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag fordern.

Gegen wen richten sich die Aktionen?
Die meisten Toten sind Menschen, die in Armut leben. Kleine Drogenhändler und Süchtige, viele davon die Ernährer ihrer Familien. Ich habe im Rahmen meiner Forschung beobachten können, wie brutal sich der Drogenkrieg in den Gemeinschaften auswirkt: Den höchsten Preis bezahlen die hinterlassenen Angehörigen, meistens Mütter und Ehefrauen. Sie kämpfen darum, überhaupt die Beerdigung bezahlen zu können, und sie versuchen mit allerlei Gelegenheitsjobs, ihre Familien über Wasser zu halten. Auf den zweiten Blick jedoch entpuppt sich die Lage als vielschichtiger, als man meinen könnte. Denn Duterte hat noch immer – trotz dieser harten Realität – die Zustimmung von mehr als achtzig Prozent der Bevölkerung.

Weshalb?
Manche interpretieren dies als breite öffentliche Unterstützung des Drogenkrieges. Andere, darunter auch ich, sehen darin ein etwas vielschichtigeres Urteil der Filipinos dazu, was sie sich von Duterte erhoffen. Die Öffentlichkeit scheint bereit, die Tatsache, dass ihr Präsident Mord als politische Massnahme für legitim hält, zugunsten anderer Dinge zu übersehen. Seine Befürworter sehen stattdessen zum Beispiel, dass er Landsleute in einer Notsituation aus Saudiarabien heimgeholt hat oder dass er verwundete Soldaten besucht. Bemerkenswert ist, dass sich eine Mehrheit der Bürgerinnen dafür ausspricht, dass Verdächtige bei Drogendelikten gefasst und nicht getötet werden. Das kann ein Indiz sein, dass die Bevölkerung die Tötungen eigentlich nicht mitträgt. Wir haben es mit Bürgerinnen zu tun, die inmitten einer komplexen Realität zu komplexen Haltungen kommen. Wir sollten ihnen zuhören, bevor wir sie verurteilen.

Wenn ich in Europa lebende Filipinas auf Duterte anspreche, bezeichnen sie ihn jeweils als hart, aber kompetent. «Er tut wenigstens was» ist ein viel geäusserter Satz, wie so oft bei autoritären Regimes. Nehmen Sie das auf den Philippinen selber ähnlich wahr?
Ja, sehr. In Umfragen nennen Bürgerinnen immer wieder Tapferkeit und Mut als jene Eigenschaften, die den Präsidenten hauptsächlich auszeichneten. Das ist auch deshalb erstaunlich, weil Filipinos von einem Präsidenten traditionell vor allem Mitgefühl und Güte erwarten. Das wirft für mich die Frage auf: Wenn die Menschen ihn schätzen, weil er angeblich mutig sei – wen oder was empfinden sie dann als Feind?

Und, wen oder was empfinden sie als Feind?
Die dynamische Konstruktion eines Feindbildes ist meines Erachtens zentral für den populistischen Politstil. Bei Duterte waren es zuerst Drogensüchtige, dann manche Oligarchen, die als ihm gegenüber unfreundlich gesinnt wahrgenommen wurden, dann die politische Opposition. Seit ein angestrebtes Friedensabkommen mit den maoistischen Rebellen gescheitert ist, gehören diese ebenfalls zu den Feinden.

Ist es angezeigt, Duterte als autoritären Herrscher zu bezeichnen?
Es ist heute mehr denn je wichtig, genau zu definieren, was einen autoritären Herrscher ausmacht. Mein Kollege Lee Morgenbesser spricht beispielsweise von einem Typus des «sophisticated authoritarianism» («hoch entwickelter Autoritarismus», siehe auch Lesetipps am Ende des Textes, Anm. d. Red.). Das scheint mir ein passender Begriff für das, was wir auf den Philippinen beobachten. Duterte bedient sich der Herrschaft des Rechts und demokratischer Institutionen, um die Stimmen seiner Gegnerinnen – Medienschaffende, eine Senatorin, die Oberrichterin am obersten Gerichtshof – zum Schweigen zu bringen. Bemerkenswert übrigens: Viele der auf diese Weise verfolgten Persönlichkeiten sind Frauen.

Wie erklären Sie sich das?
Eine mögliche Erklärung liefert schon der Blick auf Dutertes Regierungskabinett. Es ist ein Club alter Männer mit alten Ideen, die einen Sexismus alter Schule befördern. Nun ist es eine Sache, ob man Frauen verfolgt – der frühere Präsident Benigno Aquino verfolgte Ex-Präsidentin Gloria Arroyo wegen Korruptionsvorwürfen, und sie ist zufällig eine Frau. Es ist aber eine ganz andere Sache, ob man wie Duterte etablierte misogyne Anwürfe benutzt. Er drohte einer offiziell gewählten Senatorin damit, (falsche) Sexvideos zu veröffentlichen, um ihre Untersuchung gegen ihn zu diskreditieren, und er brachte psychologische Bedenken gegen eine Oberrichterin auf: Hysterie, was typischerweise Frauen vorgeworfen wird.

«Dutertes Regierungskabinett ist ein Club alter Männer mit alten Ideen, die einen Sexismus alter Schule befördern.»

Er nutzt – bislang – also rhetorische Angriffe und etablierte Institutionen, um sich seine Macht zu sichern?
Ja. Er macht sich die Demokratie zunutze, um die Demokratie auszuhöhlen. Ich gehe zurzeit nicht davon aus, dass er eine Militärherrschaft aufbauen wird, wie wir das von klassischen Diktatoren kennen. Im Süden des Landes gilt das Kriegsrecht. Doch der Einfluss des Militärs bleibt selbst dort bislang auf Ordnungsaufgaben beschränkt und hat nicht auf die Regierung oder die Verwaltung übergegriffen. Allerdings ist auch der Blick des Soziologen und Politikwissenschaftlers Walden Bello auf die Situation wertvoll: Er bezeichnet Duterte in seiner Analyse klar als Faschisten.

Viele Beobachter beschreiben Duterte als sehr gewandt im Umgang mit Medien. Welche Strategien haben ihm geholfen, an die Macht zu kommen?
Wir sollten meines Erachtens nicht so viel Gewicht auf Duterte selbst und seinen Wahlkampf legen. Ich finde einen anderen Blick ebenso wichtig, nämlich: Welche Rolle hatten eigentlich die Bürger? Wie und warum haben sie seine Kampagnen so stark mitgetragen und unterstützt?

Wie ist Ihr Fazit?
Die Anhänger von populistischen Anführern werden gerne und oft in sehr negativem Licht gezeichnet. Das war in den USA mit Hillary Clintons «Deplorables»-Kommentar so, und das gilt auch für die Philippinen. Man nannte die Befürworter des heutigen Präsidenten «Dutertards» (in Anlehnung an «retards», «Zurückgebliebene», Anm. d. Red.). Wenn man sich aber die Mühe nimmt, darüber hinauszugehen, stellt man fest, dass es bei Duterte zwei Argumentationslinien gibt, die bei den Menschen verfangen: die Erzählung der Angst und die Erzählung der Hoffnung.

Sehr hoher Beliebtheitsgrad: Duterte beim Selfie mit einer Anhängerin während eines Besuchs bei der philippinischen Community in Singapur. Wong Maye-e/AP

Können Sie das bitte erklären?
Es ist die typische Kombination des «penal populism», also eines Populismus, der sich über ein hartes Vorgehen gegen Kriminalität definiert. Duterte sprach einerseits von Krise, Gefahr und Unsicherheit – die Erzählung der Angst. Andererseits beschwor er die demokratische Ermächtigung, das gemeinsame Aufstehen und Handeln von bislang marginalisierten Bürgerinnen – die Erzählung der Hoffnung. Damit hatte er vor allem dort überwältigenden Erfolg, wo die Menschen tatsächlich seit vielen Jahren unter den Folgen von illegalem Drogenhandel und Drogenkonsum leiden – in Gegenden mit Bettlern, Dealern und jungen Teenagern, die rekrutiert werden. Es waren an vielen Orten die Bürgerinnen selber, die Dutertes Kampagnen vorantrieben.

Auf welche Weise?
Das Drogenproblem war in den Strassen ein Alltagsthema, lange bevor Duterte es zum Kern seiner nationalen Politik machte. Es ist nie wirklich angegangen worden, sondern wurde ins Private verschoben. Duterte konnte mit seinem Anti-Drogen-Kreuzzug an ein längst verhärtetes Problem und an verbreitete latente Angst andocken. Eine Informantin, die ich für meine Forschung begleitete, warnte während des Wahlkampfs ihren Nachbarn, den sie als Dealer verdächtigte: «Du änderst besser bald dein Benehmen, Duterte wird gewinnen.» Als ich sie auf Dutertes gewalttätige Sprache und daraus möglicherweise erwachsende Gefahren ansprach, antwortete die sonst so sanfte vierfache Mutter nur: «Nun, recht hat er.»

Seit Jahrzehnten diagnostizieren Autoren auch in Asien selber regelmässig eine angeblich in «asiatischen Werten» verankerte Neigung zum Autoritarismus. Was soll das sein?
Ich bin solchen Aussagen gegenüber sehr skeptisch. Das Regime Duterte selbst beruft sich gerne auf diese «asiatischen Werte», die das Kollektive angeblich höher schätzten als individuelle Rechte. Das ist eine sehr praktische Erzählung, weil sich damit der Drogenkrieg rechtfertigen lässt. Mit ebenso viel Grund liesse sich aber darauf hinweisen, dass die Philippinen traditionell und lange Zeit Vorreiter im Einsatz für Menschenrechte gewesen sind – sei es nun im Befreiungskampf gegen die Kolonialherrschaft oder in der Unterstützung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Um die Regierung einmal ganz nüchtern an ihren Versprechen zu messen: Ist das Land denn tatsächlich sicherer geworden?
Das hängt sehr davon ab, wie man «sicher» definiert. Eigentumsdelikte haben tatsächlich abgenommen. Die Mordrate andererseits ist gestiegen – hauptsächlich wegen der vielen ungeklärten Todesfälle im Zusammenhang mit dem Drogenkrieg. (Hier die entsprechende Meldung auf CNN Philippines. Die Zahlen stammen aus Regierungsquellen und sind mit entsprechender Skepsis zu lesen. Anm. d. Red.)

Duterte ist seit 2016 im Amt. Wie wird seine Präsidentschaft das Land langfristig prägen und verändern?
Es gibt für die Zukunft eine Reihe von wichtigen Fragen. Eine ist, ob die demokratischen Institutionen dem Kriegsrecht im Süden des Landes standhalten. Eine andere, wie effektiv die anderen staatlichen Gewalten eingreifen, sollte die Exekutive ihre Macht missbrauchen. Interessant wird auch sein, wie die Bürger auf Dutertes nicht eingehaltene Versprechen reagieren: Über ein Jahr nach seiner Amtsübernahme sind beispielsweise Strassen, Züge und Flughäfen so überfüllt wie immer. Unterdrückende Arbeitsverhältnisse bleiben weit verbreitet. Wer eine Familie zu ernähren hat, muss sein Glück noch immer im Ausland versuchen, und terroristische Organisationen haben weiterhin Zulauf. Gleichzeitig werden die Toten inzwischen gleich paarweise in namenlosen Gräbern verscharrt. Das angebliche Ende aller Probleme mit Drogen, Korruption und Kriminalität – angekündigt auf drei bis sechs Monate nach Amtsübernahme Dutertes – ist längst auf unbestimmte Zeit verschoben. Und trotz allem haben die Menschen noch nicht aufgehört, ihre Hoffnungen auf den starken Mann an der Spitze zu setzen.

Lesetipps

«Politics of Anxiety, Politics of Hope: Penal Populism and Duterte’s Rise to Power»: eine erhellende Studie von Nicole Curato zum Aufstieg des philippinischen Präsidenten, aufgrund deren die Anfrage an sie als Interviewpartnerin ging.

«A Duterte Reader: Critical Essays on Rodrigo Duterte’s Early Presidency», ein von derselben Autorin editierter Band zur aktuellen Situation auf den Philippinen.

Dieser Text der Sozialwissenschaftlerin Anna Cristina Pertierra, der sich unter anderem mit der Medienpräsenz von Rodrigo Duterte befasst – einem «Macho», der sich im Stil von «Hollywood-Actionhelden» inszeniert.

«Behind the Façade: Elections under Authoritarianism in Southeast Asia» von Lee Morgenbesser, der unter anderem seit Jahren beobachtet, wann und wie autoritäre Herrscher demokratische Institutionen und Wahlen zur Machtsicherung einsetzen.

Wirtschafts-Nobelpreisträger Amartya Sen mit einer öffentlichen Kritik am Argument, «asiatische Werte» seien dem Autoritarismus zuträglich und nicht mit der Vorstellung individueller Freiheitsrechte zu vereinbaren.

Zur Person

Nicole Curato

Nicole Caruto forscht am Centre for Deliberative Democracy and Global Governance, das der Universität von Canberra angegliedert ist. Ihr Spezialgebiet ist die Forschung zu Demokratie und politischer Partizipation, insbesondere auch in ihrer Heimat, den Philippinen, wo sie regelmässig als politische Kommentatorin auftritt. Unter anderem von ihr erschienen: «A Duterte Reader: Critical Essays On Rodrigo Duterte's Early Presidency» (2017).

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