Gespräch mit Didier Eribon – Teil I

«Das Problem ist sicher nicht der Feminismus»

«Rückkehr nach Reims» des französischen Autors Didier Eribon ist eines der wichtigsten Bücher geworden, um den Rechtspopulismus zu erklären. Interviews gibt Eribon, der vom Rummel um seine Person verschluckt zu werden droht, fast keine mehr. Die Republik traf ihn zum Gespräch (Teil 1).

Von Daniel Binswanger und Stephanie Füssenich (Bilder), 19.02.2018

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In Montparnasse, nahe der Sorbonne: Didier Eribon vorgestern Samstag in Paris.

Das Gespräch findet in einem Café am Boulevard Montparnasse statt. Didier Eribon ist zu spät. Er hat die Reise zur Theaterpremiere von «Rückkehr nach Reims» in New York abgesagt. Dort wird nun die Bühnenfassung von Thomas Ostermeier, Intendant der Berliner Schaubühne, aufgeführt. Auch die Lesereisen in den Niederlanden und in Italien, wo gerade wieder Übersetzungen erschienen sind, wurden ausgesetzt. Eribon sitzt an einem neuen Buch. «Ich komme seit zwei Jahren nicht mehr richtig zum Arbeiten», meint er entschuldigend. «Jetzt musste ich einfach Massnahmen treffen.»

«Rückkehr nach Reims» wurde 2016 in Deutschland zu einem riesigen Erfolg, weil das Buch, das halb aus einer autobiografischen Erzählung von Eribons Kindheit in einer Arbeiterfamilie und halb aus einer soziologischen Selbstanalyse besteht, einige Erklärungsansätze liefert für den plötzlichen Triumph des Rechtspopulismus. Doch lange bevor «Rückkehr nach Reims» in Deutschland die Bestsellerlisten stürmte (in Frankreich erschien das Buch schon im Jahr 2009), war Eribon in Paris eine wichtige Stimme. Er ist nicht nur der wichtigste Biograf von Michel Foucault, sondern war auch während zwanzig Jahren ein enger Freund und politischer Kampfgefährte des Soziologen Pierre Bourdieu. Eribon ist einer der Vordenker der französischen Homosexuellen-Bewegung und hat sich schon sehr früh mit philosophischen Essays gegen die neokonservative Wende gestellt.

Ein Gespräch in zwei Teilen über die politische Weltlage, die Wurzeln des Trump-Phänomens – und weshalb Feministinnen nicht die Feinde der Arbeiterklasse sind.

Herr Eribon, in New York, der Heimatstadt von Donald Trump, wird eine Bühnenfassung von «Rückkehr nach Reims» gespielt. Was bedeutet das?
Dass diese Bühnenfassung heute überhaupt existiert, «verdanke» ich eigentlich Trump. Vielleicht hätte Thomas Ostermeier auch unabhängig von dessen Wahlsieg irgendwann eine Bühnenfassung gemacht, aber wohl erst später und nicht in dieser Form. Nina Hoss war zum Zeitpunkt des Siegs von Trump in New York und machte Dreharbeiten für «Homeland». Sie war so schockiert von Trumps Triumph, dass sie Thomas sagte: «Wir müssen jetzt etwas tun, wir müssen ein Projekt machen, das auf diese Ungeheuerlichkeit reagiert.» Eigentlich hatten sie und Thomas Ostermeier den Plan, gemeinsam «La voix humaine» von Cocteau zu inszenieren – einen Text, den ich übrigens über alles liebe –, aber Nina fand, es sei nicht der Moment, ein Stück zu machen, das daraus besteht, dass ein Frau eine Stunde lang mit ihrem Liebhaber telefoniert. Thomas empfahl ihr, sie solle «Rückkehr nach Reims» lesen, und sie beschlossen gemeinsam, eine Adaptation zu machen. Insofern ja: Das Bühnenstück hat viel mit Trump zu tun.

Also hilft es, das Trump-Phänomen zu verstehen?
Da wäre ich vorsichtig. Als «Rückkehr nach Reims» auf Deutsch erschienen ist, hat man mir dauernd die Frage gestellt: «Wie beurteilen Sie die Lage in Deutschland? Wie beurteilen Sie die AfD?» Aber ich konnte darauf keine Antwort geben. Ich habe immer geantwortet: «Ich lebe nicht in Deutschland, ihr müsst selber die Situation analysieren. Wenn mein Buch dabei eine Hilfe ist, dann bin ich darüber natürlich glücklich. Sofern es Beiträge zu einer Antwort gibt, sind sie in meinem Buch. Aber ich kann nicht an eurer Stelle eine politische Analyse der Bundesrepublik vorlegen.»

Und für die USA ist es genauso?
Ähnlich. Die USA kenne ich sehr viel besser als Deutschland. Ich habe in den USA gelebt, an einigen amerikanischen Universitäten gelehrt. Aber die Wahl von Trump war für mich eine völlige Überraschung, und ich kann keine Antwort darauf geben, was es für die amerikanische Politik genau bedeutet, einen solchen Präsidenten gewählt zu haben.

«Eine Kandidatin wie Clinton verkörpert für die amerikanische Arbeiterklasse kein Versprechen mehr.»
Eribon vorgestern Samstag, 17. Februar, in Paris.

Aber es gibt in verschiedenen westlichen Demokratien vergleichbare politische Entwicklungen.
Ja, es gibt Ähnlichkeiten. Was Amerika betrifft, sollte man vor allem eines nicht vergessen: Trump hat keine Mehrheit hinter sich. Er erzielte drei Millionen Stimmen weniger als Hillary Clinton. Seinen Sieg verdankt er der Tatsache, dass er in drei Staaten – Pennsylvania, Michigan und Wisconsin – insgesamt ein Mehr von 80’000 Stimmen erreichte. Im Schnitt waren es dreimal 27’000 Wähler, die den Ausschlag gegeben haben. Alle diese drei Staaten liegen im «Rust Belt», es sind ehemalige Industriezentren. Alle sind zum Opfer der Wirtschaftskrise, der Deindustrialisierung und der Arbeitslosigkeit geworden. Überall herrscht an diesen Orten der Eindruck, man werde von den Eliten ignoriert, insbesondere von den Eliten der Demokratischen Partei. Diese Wähler waren überzeugt, dass Hillary Clinton keinen Finger für sie rühren werde. Eine Kandidatin wie Clinton verkörpert für die amerikanische Arbeiterklasse kein Versprechen mehr – genauso wie die Elite der französischen Sozialisten für die französische Unterschicht kein Versprechen mehr darstellt.

Sie betonen die Klassenfrage. Der Rassismus hat also eine weniger wichtige Rolle gespielt?
So weit würde ich nicht gehen. Natürlich ist der Erfolg von Trump auch ein Backlash gegen die Obama-Präsidentschaft. Auf den schwarzen Präsidenten folgte der Rassist. Trump hat den weissen Suprematismus wiederbelebt – was man ja auf fürchterliche Weise bei den Nazi-Umzügen in Virginia gesehen hat. Aber dieser Suprematismus hat auch schon vorher existiert, er war immer eine wichtige Realität in der amerikanischen Politik. Er war jedoch eine Minderheitenposition. Deshalb glaube ich nicht, dass man mit Rassismus den Erfolg von Trump erklären kann. Womit wir es zu tun haben, ist weniger ein Sieg von Trump als eine Niederlage von Clinton. Die Unterschicht in den ehemaligen Industriezentren geht entweder gar nicht mehr abstimmen oder wählt zu guten Teilen Trump. Das ist der entscheidende Faktor.

Entscheidend ist das Versagen der Linken?
Wie hat es die amerikanische Linke zustande gebracht, die Leute derart verzweifeln zu lassen – aufgrund der Globalisierung, der Deindustrialisierung, der Arbeitslosigkeit –, dass sie sie nicht mehr mobilisieren kann? Das ist die zentrale Frage, und sie stellt sich nicht nur in Amerika.

Man macht der Linken den Vorwurf, dass sie heute die falschen Ziele verfolgt, sich zu sehr um Minderheitenrechte und Genderfragen kümmert.
Das halte ich für Unsinn. So wurde ja auch mein Buch von Vielen gelesen, ganz besonders in Deutschland. Es wurde so getan, als wäre meine Botschaft: «Hört auf von Feminismus, LGBT-Rechten und Einwanderern zu reden. Wir müssen uns wieder auf linke Werte und die Arbeiterklasse besinnen.»

«Wie hat es die Linke zustande gebracht, die Leute derart verzweifeln zu lassen?»

Das ist nicht Ihre Botschaft? Andere Intellektuelle wie zum Beispiel der Politologe Mark Lilla vertreten auch diese These.
Ach ja, Mark Lilla entdeckt heute ganz plötzlich die Tugenden des Klassenkampfes, dabei führt er schon seit Jahrzehnten einen erbitterten Krieg gegen das 68er-Erbe. Er hat eine lange Karriere des konservativen Kampfes gegen alle Emanzipationsbewegungen hinter sich, ob es sich nun um den Feminismus, die Schwulenbewegung, den Antirassismus oder kritische französische Philosophen wie Foucault, Derrida, Deleuze, Bourdieu handelt. Lilla ist ein reaktionärer Ideologe, und er hat gerade grossen Erfolg, weil er sagt, was die Leute hören wollen. Leute, die denken, sagen aber Dinge, die man nicht erwartet.

Aus Ihrer Sicht ist also der linke Kampf für Minderheitenrechte richtig? Wenn Sie falsch verstanden wurden: Was ist Ihre Botschaft?
Ich sage nicht, dass wir mit dem Engagement für den Feminismus oder für die LGBT-Rechte oder für die Transsexuellen oder für Einwanderer und Flüchtlinge aufhören sollten. Im Gegenteil: Alle diese sozialen Bewegungen gehören zum 68er-Erbe, und das 68er-Erbe ist für mich das allerwichtigste. 68 erlangte der Feminismus eine absolut zentrale Bedeutung, es war die Geburtsstunde der Homosexuellen-Bewegung, die Frage der Einwanderung wurde zum ersten Mal gestellt, es entstand eine Kritik des Justizsystems, der Repressionsapparate, des Gesundheitssystems. Es entstand ein ökologisches Bewusstsein. Und zusätzlich haben zehn Millionen Arbeiter in Frankreich gestreikt. 68 war eine sehr breite, gesamtgesellschaftliche Bewegung, die auf soziale Veränderung, auf soziale Gerechtigkeit ausgerichtet war. Es ging nicht darum, eine Bevölkerungsgruppe gegen eine andere auszuspielen. Im Gegenteil: Alles war miteinander verbunden.

Und wie bestimmt das Ihre heutige politische Haltung?
Wenn es eine politische Botschaft meines Buches gibt, dann diejenige, dass man die sozialen Fragen, das heisst die Arbeiterklasse und die Probleme der Unterschicht im Allgemeinen, den Fragen des Feminismus, der Minderheitenrechte, des Umweltschutzes nicht entgegensetzen darf. Denn alles ist auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Natürlich haben verschiedene Emanzipationsbewegungen ihre eigene Entwicklungsgeschichte, ihre eigenen Abgrenzungen, ihre spezifischen Problemfelder, aber es ist unsinnig zu sagen, entscheidend sei die Arbeiterfrage und die Fragen des Feminismus seien sekundär. Oder umgekehrt.

Sie haben nie die Wichtigkeit der sozialen Bewegungen infrage gestellt. Aber in «Gesellschaft als Urteil» sagen Sie doch ganz klar, dass der Fokus sehr stark auf einer Bewegung wie zum Beispiel den Rechten der Homosexuellen gelegen ist und dass jetzt das Pendel wieder in eine andere Richtung ausschlagen muss.
Das ist richtig.

Es werden also zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich viel politische Energien von bestimmten Fragen absorbiert?
Sehen Sie, als junger Gymnasiast war ich Trotzkist. Ich redete den ganzen Tag von der proletarischen Revolution, von der Arbeiterklasse, vom Klassenkampf. Dann entdeckte ich, dass ich schwul bin. Im damaligen Marxismus gab es aber keinen Platz für mich als jungen Homosexuellen. Also musste ich mir die Frage nach meiner homosexuellen Identität in Absetzung vom Marxismus und von seinen begrenzten politischen Perspektiven stellen. Und dasselbe Problem hatten damals die Feministinnen oder die Umweltaktivisten. Man hatte gar keine andere Wahl, als sich von bestimmten Dingen abzuwenden.

Also bestehen zwischen diesen politischen Orientierungen doch Gegensätze?
Zu bestimmten Zeiten stehen bestimmte politische Ziele im Vordergrund. Aber das heisst nicht, dass alle anderen politischen Kämpfe plötzlich unwichtig oder illegitim sind. Es hängen zwar alle Konfliktfelder zusammen, sie überschneiden sich, aber sie decken sich nicht. Ein Beispiel: der Feminismus und die Arbeiterbewegung. Beide überschneiden sich zwar, aber nur teilweise. Wenn eine Bewegung entstehen soll, muss ein «Wir» konstituiert werden. Simone de Beauvoir hat das im «Anderen Geschlecht» sehr gut analysiert. Der Feminismus musste ein «Wir» einführen gegen kollektive Identitäten, die schon existierten, das «Wir» der Arbeiter, das «Wir» der Schwarzen. Eine politische Bewegung führt immer zu einer Neueinteilung der sozialen Welt.

Und die eine Identität kann auf Kosten der anderen gehen?
Natürlich. Es ist eine Tatsache, dass die Probleme der Unterschicht in den Hintergrund gedrängt wurden. Sie sind nicht aus der Realität, aber bis zu einem gewissen Grad aus dem Diskurs verschwunden, besonders aus dem Diskurs der Linken. Aber daran ist weder der Feminismus noch die Homosexuellen-Bewegung schuld. Der Grund dafür ist die Annäherung zwischen den sozialdemokratischen Parteien und der neokonservativen Rechten. Es wäre doch absurd zu behaupten, das Problem der SPD oder des französischen Parti Socialiste sei der Feminismus. Das Problem ist der Neoliberalismus der heutigen Linken, die Tatsache, dass die Linke nicht mehr links ist.

Die neoliberale Wende der europäischen Linksparteien ist ein Thema, das Sie schon sehr lange umtreibt. Im Jahr 2007 haben Sie «Über eine konservative Revolution und ihre Wirkung auf die französische Linke» veröffentlicht, ein Schlüsselwerk für Ihre intellektuelle Biografie. Sie verarbeiten darin den Schock über Jean-Marie Le Pens Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2002, wo er es in den zweiten Wahlgang schaffte. Schon damals analysierten Sie den Zusammenbruch der Linken und den Triumph des Rechtspopulismus – zehn Jahre bevor dieses Phänomen urplötzlich auf der ganzen Welt die Debatte beherrschte.
2002 war ein Trauma. Als mir klar wurde, dass meine ganze Familie, meine eigene Mutter für Jean-Marie Le Pen gestimmt hatte, entschloss ich mich «Über eine konservative Revolution» zu schreiben. Allerdings ist es mir nicht leichtgefallen, ich brauchte fünf Jahre dafür. Es handelt sich um ein theoretisches Werk, das sich mit den philosophischen – oder pseudophilosophischen – Diskursen der neuen Rechten auseinandersetzt, aber eigentlich arbeitet es sich an derselben Frage ab wie «Rückkehr nach Reims»: Wie lässt sich erklären, dass die Wähler der Kommunistischen Partei und des Parti Socialiste zu guten Teilen angefangen haben, für den Front National zu stimmen?

«Das Problem ist der Neoliberalismus der heutigen Linken, die Tatsache, dass die Linke nicht mehr links ist.»

Wie lässt es sich erklären?
Hauptverantwortlich sind aus meiner Sicht der Parti Socialiste und ein guter Teil der europäischen Linken: Tony Blair und Gerhard Schröder als Fackelträger des «Dritten Weges», François Mitterrand, Lionel Jospin und François Hollande als Führer der französischen Sozialisten. Das Desaster von Hollandes Präsidentschaft wird in meinem Buch von 2007 schon recht korrekt vorausgesagt. Ich habe damals geschrieben, dass der Front National 2017 auf 20 Prozent der Stimmen kommen wird, wenn François Hollande Parteisekretär der Sozialisten bleibt. Marine Le Pen ist nun auf 35 Prozent gekommen, aber Hollande war ja auch nicht mehr nur Parteisekretär, sondern Präsident.

Der entscheidende Faktor ist also das Versagen der Linken?
Die sozialistischen Parteieliten haben jeden Kontakt mit der Unterschicht verloren. Sie kommen auch nicht mehr aus der Arbeiterklasse. Sie wurden alle an den französischen Elite-Universitäten ausgebildet, am Institut d’études politiques und an der Ecole nationale d’administration. Das sind die Ausbildungsstätten mit der geringsten sozialen Durchlässigkeit auf der ganzen Welt. Es sind die Kaderschmieden der Bourgeoisie, der Pariser Bourgeoisie, um genau zu sein. Die Abgänger lernen, mit volkswirtschaftlichen Statistiken umzugehen, aber sie sind in ihrem ganzen Leben nie einem einzigen Arbeiter begegnete. Ausser vielleicht mal auf einer Wahlkampftour, wenn sie Hände schütteln müssen.

Und diese elitäre Parteiführung hat die falsche Agenda entwickelt?
Für soziale Probleme interessieren sie sich nicht. Sie kennen sie nicht. Deshalb sind sie zum Neoliberalismus konvertiert, allerdings nur zu einem ökonomischen Neoliberalismus. In gesellschaftlicher und politischer Hinsicht sind sie sehr konservativ geworden. Die Sozialisten waren extrem zögerlich, was die Schwulen-Ehe anbelangt. Auch bei der künstlichen Befruchtung für nicht verheiratete Frauen bremsen sie, wie sie können. Man könnte ja glauben, die Linke müsse gesellschaftspolitisch liberal und wirtschaftspolitisch progressiv sein. Man könnte glauben, die Linke wolle die Schwachen vor der Brutalität wirtschaftlicher Zwänge schützen und ihnen im Übrigen die Freiheit geben, so zu leben, wie sie wollen. Aber es ist das Gegenteil der Fall: Die heutige Linke ist gesellschaftspolitisch konservativ, autoritär und wirtschaftspolitisch liberal.

Woher kommt diese Selbstaufgabe der Linken?
In Frankreich beginnt es mit Mitterrand. Als er 1981 Präsident wurde, schien er alle Werte von 68 zu verkörpern. Er wurde an die Macht getragen von allen Emanzipationsbewegungen. Aber Mitterrand war ein Zyniker. Er hat angefangen, die sozialen Bewegungen zu bekämpfen. Jeder Streik wurde betrachtet wie ein Angriff auf die Regierung. Die sozialen Bewegungen wurden zum Feind. Natürlich kann sozialistisches Regieren nicht darin bestehen, dass man einfach alle Forderungen der Gewerkschaften erfüllt. Aber es bräuchte eine Zusammenarbeit mit allen Kräften der Zivilgesellschaft, allen sozialen Bewegungen. Sie hat nicht stattgefunden. Heute ist der Parti Socialiste am Ende. Inexistent.

Sie sagen, die Linke hat versagt. Und das ist deshalb fatal, weil der Rassismus jetzt wieder eine politische Macht wird. Ein Rassismus, der nichts Neues ist, sondern immer latent vorhanden war.
Natürlich, er war immer da. Die unheiligen Dämonen, die zerstörerischen Leidenschaften, die Gewalt gegenüber Fremden: Das hat immer existiert in der weissen Arbeiterschicht. Ich kenne es gut, ich war dem während meiner ganzen Kindheit ausgesetzt. Es existierte auch früher, und wie! Aber der Rassismus spielte politisch keine Rolle, weil die Arbeiter das Gefühl hatten, dass die Linksparteien sie repräsentieren. Sie waren vielleicht in manchen Dingen nicht einverstanden, wollten schon damals weniger Gastarbeiter, hatten schon damals den Kopf voller xenophober Vorurteile, aber man konnte nicht an rassistische Affekte appellieren, um politische Entscheidungen zu bestimmen. Heute gibt es keine politische Vertretung der Arbeiterklasse mehr. Also stimmen die Arbeiter für den Front National oder die AfD, die ihnen versprechen, sie würden sie gegen die Einwanderer schützen.

Auf verschärfte Ablehnung stossen nicht nur die Ausländer, sondern auch Europa.
Wenn man sieht, wie die EU sich gegenüber Griechenland verhalten hat, ist es kein Wunder, dass die Menschen sich vor Europa fürchten. Vor einem Europa, das die Griechen in die absolute Misere gezwungen hat, das dem Land brutalste soziale Not auferlegt, die Rentner in die Suppenküchen und die Jungen in die Emigration treibt. Ist das ein Europa, von dem die Unterschichten träumen können? Die Arbeiter lehnen Europa ab, weil es ihnen wie eine existenzielle Bedrohung erscheint. Nicht unberechtigterweise. Ich habe volles Verständnis für die nordenglischen Arbeitslosen, die für den Brexit gestimmt haben. Natürlich ist das ein katastrophaler Fehlentscheid. Aber er ist absolut nachvollziehbar. Die Situation der Europäischen Union ist wirklich verzweifelt.

Und Sie glauben nicht, dass Macron Europa auf einen besseren Pfad führen kann?
Macron wird gar nichts ändern. Seine Politik besteht in Sozialabbau. Die Steuerreform zielt darauf ab, die obersten Einkommensklassen zu entlasten, in der Hoffnung, dass dann mehr investiert wird. Deshalb wird auch der Kündigungsschutz gelockert, werden die Leistungen der Arbeitslosenversicherung gesenkt, werden die Renten gesenkt usw. Die ökonomischen Reformen sind von grosser sozialer Brutalität. Ich halte das für inakzeptabel. Es ist mir ein Rätsel, weshalb Macron im Ausland ein so hohes Prestige geniesst.

Es besteht die Hoffnung, dass diese Reformen eine Konzession an die deutsche Regierung darstellen – und dass sie die Voraussetzung schaffen für eine Stärkung der EU durch eine deutsch-französische Initiative.
Das Europa, das Macron konstruieren will, ist bürgerlich und neoliberal. Es wird nicht den Interessen der Unterschicht dienen, und ich zweifle sehr daran, dass man es den Völkern Europas wird schmackhaft machen können. Wollen wir wirklich ein Europa mit einer erneuerten deutsch-französischen Achse, die ihre Hegemonie verstärkt und Südeuropa seiner Misere überlässt? Das ist nicht erstrebenswert, und es wird auch nicht funktionieren. Nach fünf Jahren Macron-Präsidentschaft wird Marine Le Pen stärker sein denn je. Und Europa noch bedrohter als heute.


Lesen Sie morgen Dienstag den zweiten Teil des Gesprächs.

Gespräch mit Didier Eribon

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