Modell des Tunnelprojektes
Nach jahrelangem Kampf: Ein Tunnel soll die Blechlawine an der Rosengartenstrasse unsichtbar machen. zvg

Das Milliardenloch

Es ist das letzte Reparaturvorhaben an einer Zürcher Verkehrssünde aus den 70er-Jahren: Einst belächelt, steht der Tunnel an der Rosengartenstrasse kurz davor, Gesetz zu werden. Aber warum fällt über das Milliardenprojekt im derzeitigen Wahlkampf in Zürich kein Wort?

Von Michael Rüegg, 06.02.2018

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Das Milliardenloch
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Erster Akt: Die Frau mit dem Tunnel

Das Zürcher Quartier Wipkingen ist zweigeteilt. Die eine Hälfte liegt diesseits der Autobahn, die andere jenseits. Die Autobahn selber ist eigentlich keine Autobahn, sondern eine vierspurige Quartierstrasse, auf der täglich gegen 56’000 Fahrzeuge verkehren. Die Autobahn, die keine ist, kommt von Osten, von der A 1, und führt hinunter auf die Hardbrücke, vorbei am hippen Züri-West bis zum Albisriederplatz. Anfang der Siebzigerjahre wurde sie als Teil der Westtangente eröffnet. Und als Provisorium. Doch seit bald einem halben Jahrhundert donnert die Verkehrslawine den Hügel hinunter.

Berlin ist seit dem Mauerfall 1989 wieder vereint. Wipkingen könnte im Jahr 2030 wieder eins werden. Wenn die trennende Strasse verschwindet.

Als wolle sie ihre eklatante Hässlichkeit kompensieren, trägt sie den Namen Rosengartenstrasse. Fussgängerstreifen gibt es keine. Wer sie überqueren will, muss einen langen Weg via Überführung nehmen. Oder eine Unterführung, in der es nach Urin riecht.

Die Nullerjahre, Auftritt Carmen Walker Späh. Quartierbewohnerin, Rechtsanwältin, FDP-Politikerin. Sie bewohnt unweit der Rosengartenstrasse mit ihrer Familie ein stattliches Haus. Erst wird sie Verfassungsrätin, 2004 wählen die Zürcherinnen und Zürcher sie in den Kantonsrat.

Durch Walker Spähs politische Laufbahn zieht sich das eine Thema: Der Verkehr vor der Haustür muss weg. Man soll ihn weder hören, noch sehen, noch riechen. Die FDP-Frau adoptiert eine bestehende Idee und nimmt sie unter ihre Fittiche: die eines Tunnels, der aus der Autobahn wieder eine Quartierstrasse macht. Unter dem Namen Waidhaldetunnel wird die Idee zwar langsam bekannt, aber nicht sonderlich beliebt.

Die Jahre ziehen dahin, Walker Späh arbeitet an ihrer politischen Karriere. Nur wird über ihre auffällige Frisur mehr gesprochen als über ihren Tunnel. Dann geraten die Dinge in Bewegung: Die Stadtregierung – die grosse Verkehrsprojekte in der Regel nur dann gut findet, wenn dadurch Autos aus der Stadt verbannt werden – einigt sich mit der Kantonsregierung.

Der ungeliebte Tunnel wird plötzlich zum Ermöglicher einer anderen Idee, die vor allem im linken Lager Freunde hat: des Rosengartentrams. Es soll gewisse Buslinien ersetzen und Zürich-Nord mit Zürich-West verbinden. 2010 stimmte Zürich über eine Volksinitiative ab, die den Bau dieser Tramverbindung zum Ziel hatte. Doch das Vorhaben scheiterte, weil das Tram gegen die Autos ausgespielt wurde. In angrenzenden Quartieren befürchten die Leute, dass die Blechlawine statt an der Rosengartenstrasse künftig vor ihren eigenen Türen niedergehen würde.

Seit ihrer Eröffnung 1972 zieht die Rosengartenachse den Zorn der Anwohnerinnen auf sich. Im Bild eine Demonstration gegen den Autoverkehr auf der Rosengartenstrasse vom 19. April 1986. Keystone

Das war 2010. Heute ist es anders: Die Tunnelbefürworterinnen fanden im Tram das Argument, das ihnen zu einer Mehrheit verhelfen könnte. Der Waidhaldetunnel wird in Rosengartentunnel umgetauft, um einen zweiten Abschnitt ergänzt und mit der Tramidee verheiratet. Die Stadt, die eigentlich die Planungshoheit besitzt, tritt diese an den Kanton ab, der am Ende so oder so bezahlen muss. Das perfekte Paket ist geschnürt.

Es ist fast so, als ob die Schicksale des Tunnels und der Wipkinger Politikerin aneinandergekoppelt wären: Denn 2015 wird Carmen Walker Späh in die Kantonsregierung gewählt und übernimmt dort mit der Volkswirtschaftsdirektion just jenes Ministerium, das fürs Rosengartenprojekt zuständig ist. Jetzt hält sie ihr eigenes Baby in den Armen. Walker Späh und ihr Tunnel haben Karriere gemacht.

Nun besteht das Projekt aus vier Hauptelementen:

  • einem vierspurigen Tunnelabschnitt zwischen dem Wipkingerplatz und dem Bucheggplatz anstelle der Rosengartenstrasse;

  • einem daran anschliessenden zweispurigen Tunnelabschnitt zwischen Bucheggplatz und Milchbuck, der heute schon streckenweise unterirdisch verläuft;

  • einer neuen Tramverbindung vom Albisriederplatz über die Hardbrücke hoch zum Bucheggplatz;

  • flankierenden Massnahmen, die sicherstellen sollen, dass der Durchgangsverkehr nicht mehr durchs Quartier fliesst.

Am 9. Februar 2017 stellt Walker Späh ein Spezialgesetz für den Bau von Tunnel und Tram vor. Damit beginnt die nächste Phase des politischen Prozesses: Die Legislative kommt zum Zug.

Zweiter Akt: Der Vater des Gedankens

Hätte die kombinierte Tram-Tunnel-Idee neben der Mutter auch einen Vater, wäre das wohl Martin Waser. Der ehemalige Zürcher SP-Stadtrat präsidiert heute den Spitalrat des Zürcher Universitätsspitals. Ein grosser, schlanker Mann, der mit ruhiger Stimme spricht.

Sechs Jahre stand Waser dem Tiefbaudepartement vor. Während dieser Zeit peitschte er die flankierenden Massnahmen für den Uetlibergtunnel durch, Zürichs letztes grosses Strassenbauvorhaben. Dieser Tunnel, kombiniert mit der Westumfahrung, hält einen Grossteil des Durchgangsverkehrs Richtung Chur und Luzern vom Stadtboden fern.

Waser wusste damals: Wenn die Westumfahrung aufgeht, muss jede einzelne der flankierenden Massnahmen umgesetzt sein. Nur so wird der Verkehr gezähmt. Und der Plan ging auf. Nach Inbetriebnahme der Westumfahrung und des Uetlibergtunnels nahm der Verkehr in der Stadt gesamthaft um zehn Prozent ab.

Auch für den Rosengartentunnel stellte Martin Waser damals im Stadtrat die Weichen. Und nun steht er bereit, dafür zu kämpfen.

«Stadtreparatur» nennt er den Begriff, mit dem er seine Verkehrspolitik begründet. Waser ist der Typ Mensch, der komplexe Probleme mit dem Filzstift auf der Serviette erklären kann. Stadtreparatur soll die Wunden kitten, die der Verkehr einst in die Quartiere geschnitten hat. Eine solche Wunde ist für ihn auch die Rosengartenachse.

Was mit einem Quartier geschieht, wenn es erst einmal vom Durchgangsverkehr befreit ist, verdeutlicht Zürich-Wiedikon. Einige seiner Strassen standen der Rosengartenstrasse punkto Lärm und Verschmutzung in nichts nach. Mittlerweile sind neun Zehntel des Verkehrs weg, das Quartier ist aufgeblüht, die Wohnungspreise sind gestiegen, putzige Cafés sind entstanden, alte Gebäude wurden durch modernes Stockwerkeigentum ersetzt.

Mit den Wohnungspreisen stieg das Durchschnittseinkommen. Ein Lehrbuchbeispiel für Gentrifizierung.

Zumindest in den einen Quartierteilen. Dort, wo Genossenschaftsbauten stehen, blieben die Wohnungspreise moderat.

Dritter Akt: Unheilige Allianz

Es fällt nicht schwer, die Vorteile der Tram-Tunnel-Kombination aufzuzählen: Das zerschnittene Quartier kann wieder zusammenwachsen. Der Verkehr wird unsichtbar, fliesst aber im selben Ausmass wie zuvor, ohne in andere Quartiere auszuweichen. Eine neue Tramtangentiale kann entstehen, die den Westen mit dem Norden verbindet und so den notorisch verstopften Knoten am Hauptbahnhof entlasten wird. Für alle ist etwas dabei.

Damit scheint der politische Weg frei zu sein. Nicht das autoskeptische Zürcher Stadtparlament muss dem Projekt nun seinen Segen geben, sondern der bürgerlich dominierte, autofreundliche Kantonsrat. Und nicht die als linksgrün abgestempelte Stadtzürcher Stimmbevölkerung wird das letzte Wort zu Tunnel und Tram haben, sondern die Stimmberechtigten des ganzen Kantons, die eher bürgerlichen Parolen Folge leisten.

Doch es gibt ein Problem: die SVP. Sie, die mit 55 Parlamentariern fast ein Drittel des 180-köpfigen Kantonsrats stellt, lehnt die Gesetzesvorlage und damit den Tunnel mehrheitlich ab. Die Partei stört sich an den horrenden Kosten von 1,078 Milliarden Franken, wovon 1,03 Milliarden der Kanton bezahlen würde, den Rest die Stadt.

So viel Geld. Und trotzdem kommt damit kein einziges Auto mehr durch als heute. Das ist für die Volkspartei inakzeptabel. Zudem will sie beide Tunnelabschnitte vierspurig haben, nicht nur den eigentlichen Rosengartentunnel.

Und es gibt noch ein Problem: Auf der Seite der Gegnerinnen haben sich zu diesem Zeitpunkt nicht nur die Grünen und die Grünliberalen bereits festgelegt. Auch die städtische SP ist dagegen. Sie stützt sich dabei auf ihre langjährige Verkehrsdoktrin, die sagt: Das bisherige Verkehrsaufkommen darf nicht plafoniert werden. Nur einer Senkung würde sie zustimmen.

Zusammen mit der SVP stellen diese Parteien im Kantonsrat eine satte Mehrheit. Eine unheilige Allianz aus links und rechts.

Wenn das Projekt die Legiferierung überleben soll, muss also eine der Gegnerparteien kippen.

Vierter Akt: Die Autolobbyistin

Eine Vorlage vor dem Volk zu bekämpfen, ist ein Vielfaches kostspieliger und arbeitsintensiver, als sie bereits im Parlament zu killen. Das wissen die Gegnerinnen.

Aber auch die Befürworterinnen. Sie müssen das Gesetzesvorhaben unbedingt durch den Kantonsrat bringen.

Ruth Enzler sieht nicht aus wie eine Autolobbyistin. Sie präsidiert die Zürcher Sektion des Automobil-Clubs Schweiz (ACS). Die Psychologin nimmt auf der Sitzgruppe in ihrer Praxis im ruhigen Zollikon Platz und erzählt, wie sie den Rosengartentunnel zur Chefinnensache gemacht hat.

Da kein anderer der Verbände mit bürgerlicher Prägung sich zum Fenster hinauslehnen will, wird Enzler aktiv. Sie sichert Carmen Walker Späh ihre Unterstützung zu und spricht sich mit den SVP-Politikern in ihrem Verbandsvorstand ab. Etwa Roland Scheck, einst glückloser Stadtratskandidat der Volkspartei und Kantonsrat. Scheck wirbt nun innerhalb der Stadtpartei fürs Tunnelprojekt.

Noch kämpfen Ruth Enzler und ihre Kollegen etwas einsam für Walker Spähs Tunnel. Andere Verbände warten ab.

Fünfter Akt: Prophetin der Zerstörung

Das drohende Nein schafft selbst bei den Befürworterinnen eine pessimistische Grundstimmung. Sind die Mikrofone ausgeschaltet und die Notizbüchlein verstaut, hört man Sätze wie «Das wird keine Chance haben» oder «Ich fürchte, der Tunnel wird nie gebaut».

So sprechen Kaderleute aus der Verwaltung und Stadträte, also Personen, deren Namen in der Projektorganisation weit oben stehen. Manche davon sind mit Foto und Statements auf der Website vertreten, die der Kanton extra für das Projekt erstellen liess.

Sie glauben nicht so recht an die Idee, die sie propagieren. Die Fraktionsarithmetik gibt ihnen recht: Die für ein Ja nötigen 90 Stimmen kommen mit FDP, CVP, BDP, EVP und EDU nicht zusammen.

Doch warum ist die SP so vehement gegen die Lösung eines uralten Verkehrsproblems, das Anwohnerinnen belastet, ein neues Tram verhindert und ein Quartier in zwei Teile zerschneidet? Ein Mitglied der SP-Kantonsratsfraktion sagt es so: «Die Verkehrspolitiker bei der Stadt sitzen so tief in ihren Schützengräben, dass sie unter sich glühendes Magma spüren.»

Denn längst nicht alle SP-Parlamentarier im Kantonsrat sind gegen das Rosengartenprojekt. Doch die meisten trauen sich nicht recht, öffentlich dafür zu sein. Die Ideologen haben das Thema gepachtet, die Pragmatikerinnen sprechen nur im Flüsterton. Fragt man Letztere, wo denn genau das Problem liege, hört man immer wieder denselben Namen: Simone Brander.

Brander ist SP-Gemeinderätin und Präsidentin der Verkehrskommission im Stadtparlament. Dass alle sich vor ihr fürchten sollen, mag sie nicht glauben. Auch zum Vorwurf der ideologischen Starre schüttelt sie den Kopf: «Wir finden viele Kompromisse, auch mit der SVP», hält Simone Brander nüchtern fest.

Doch in Sachen Rosengartentunnel bleibt sie kompromisslos. Brander gehört der Interessengemeinschaft Westtangente Plus an. Soeben hat der Verein einen Kalender herausgegeben. «So geht Stadtzerstörung» steht darüber geschrieben. Er listet auf zwölf Blättern die wichtigsten Punkte auf, die gegen das Projekt sprechen sollen. Von «Häusermord» ist dort die Rede. Von «umgepflügten» Plätzen und «zerstörter Quartieridylle».

Was Martin Waser Stadtreparatur nennt, ist für Simone Brander Stadtzerstörung.

Doch ihr wichtigstes Argument ist das Tunnelportal, das am Fusse des Hügels entstehen soll: «Das Verkehrsproblem wird einfach einige hundert Meter nach unten verlagert.»

Ein hässliches Portal sei ein zu hoher Preis für ein paar hundert Meter entlastete Strasse, finden Brander und ihre Mitstreiterinnen. Der Tunneleingang zerstöre den Wipkingerplatz, der eigentlich als Quartierzentrum im kommunalen Richtplan eingetragen sei. Dass der Platz auch heute abgesehen von einer vierspurigen Autobrücke nicht viel zu bieten hat, lässt Brander als Argument nicht gelten.

Brander weiss: Will sie das Tunnelprojekt beerdigen, ist ihre beste Chance, es bereits im Kantonsrat bachab schicken zu lassen. Den Tunnel später in der Volksabstimmung zu bekämpfen, wird schwieriger.

Sechster Akt: Der Konvertit

Mauro Tuenas Stimme hat bei der Zürcher SVP Gewicht. Und das, obwohl der Nationalrat die lokale Bühne eigentlich verlassen hat. Einst, vor zwanzig Jahren, hatte Tuena im Zürcher Gemeinderat den Ruf eines jungen Blocher-Polteris. Nach und nach füllte er seine Politikerrolle immer mehr aus, gewann über die Parteigrenzen an Einfluss und perfektionierte das politische Handwerk.

Tuena ist Autofahrer mit Leib und Seele. Als Gemeinderat hatte er in der Altstadt jeweils für Mittwoch einen Tiefgaragenplatz gemietet. Damit er nicht mit dem Tram vors Rathaus fahren musste.

Der heutige Präsident der Stadtzürcher SVP war ein entschiedener Gegner des Tunnelprojekts. Doch nun ist seine Lust aufs Opponieren verflogen. Ob es das Lobbying der ACS-Leute in der eigenen Partei oder der SVP-Vertreter aus den Landgemeinden war – Tuena ist von seinem Nein abgerückt. Zwar findet er den Tunnel noch immer zu teuer, aber bekämpfen will er ihn nicht.

Stattdessen gehört er jetzt zu denjenigen in der SVP, die die Bedingungen für ein Ja diktieren dürfen.

Dafür musste seine Partei dem Vernehmen nach darauf verzichten, das Thema Rosengartentunnel im aktuellen städtischen Wahlkampf zu verwenden.

So wichtig wie Tuena in dieser Frage gerne wäre, ist er zu seinem Leidwesen gar nicht. Seine Partei hat ihre Wählerschaft vor allem in den Landgemeinden. In der Stadt stellt sie zwar die zweitgrösste Fraktion, aber selbst wenn sie die anderen bürgerlichen Parteien überzeugen kann, gewinnt sie selten gegen Rot-Grün.

Mit anderen Worten: Der kantonalen SVP könnte im Gegensatz zur urbanen SP eigentlich wurst sein, was ihre Stadtpartei denkt.

Von einigen ihrer ursprünglichen Forderungen ist die Volkspartei mittlerweile abgerückt. Sie pocht nun doch nicht auf eine Kapazitätserhöhung. Wohl auch, weil die nachgelagerte Hardbrücke gar nicht mehr Verkehr aufnehmen kann.

Und statt der einst geforderten vier Spuren auf dem oberen Tunnelabschnitt zwischen Bucheggplatz und Milchbuck will die Partei nun deren drei. Eine davon als unbenutzte «Sicherheitsspur». Die Mehrkosten dafür dürften sich gemäss kantonalem Amt für Verkehr in der Grössenordnung von rund 70 Millionen Franken bewegen.

Steigt Volkswirtschaftsdirektorin Carmen Walker Späh auf den Deal ein, hat sie ihre nötigen Stimmen.

Siebter Akt: Zwei auf dem Glatteis

Bessere Luft, weniger Lärm, mehr Langsamverkehr und ein Tram. Das waren die Forderungen der IG Westtangente, als die Stadtzürcherinnen 2010 ein Tram auf der Rosengartenstrecke auf Kosten des Autoverkehrs ablehnten.

Das heute vorliegende Projekt erfüllt die meisten dieser Forderungen. Trotzdem bekämpft die IG Westtangente es mit allen Mitteln.

Marco Denoth und Gabriela Rothenfluh sitzen im Gemeinderat und bilden gemeinsam das Co-Präsidium der städtischen SP. Und sie haben einen Gedanken: Wieso nicht das Rosengartenprojekt konstruktiv bekämpfen? Mit einer viel besseren Idee für Zürich!

Nach den Sommerferien 2017 heben Denoth und Rothenfluh den sogenannten Seetunnel aus seinem Grab und stellen ihn als Alternative vor: eine lange Röhre, die weit im Osten, im Glattal beginnt, unter dem Zürichberg und dem Seebecken hindurchführt und an der Stadtgrenze bei Wollishofen wieder aus dem Erdreich lugt.

Statt Applaus ernten die zwei Kopfschütteln und hämisches Lachen – auch aus den eigenen Reihen. So löse man keine Verkehrsprobleme, wird ihnen vorgeworfen.

Denn nur die wenigsten Autos möchten die Stadt umfahren. Viele wollen hinein. Nämlich diejenigen, die Zürich als Start- oder Zielort haben. Im Falle der Rosengartenstrasse sind das immerhin rund 94 Prozent. Nur sechs von hundert Autos zählen zum Transitverkehr.

Und dann sind da noch all die anderen Ideen: Mit gewisser Regelmässigkeit fordert irgendwer eine U-Bahn. Oder man zuckt mit den Schultern, wie die Grünen: «Das ist nicht unser Problem, wir sind einfach gegen den Tunnel», heisst es aus der Kantonsratsfraktion. Was könnte denn die Alternative sein? Keine Ahnung, sollen andere sich etwas ausdenken.

Der Plan bis 2032: Die neuen Tramstrecken (orange und blau) führen vom Albisriederplatz über die Hardbrücke in Richtung Zürich-Nord. Der vierspurige Tunnelabschnitt (zwei Röhren in Grün) vom Wipkinger- zum Bucheggplatz, ein zweispuriger Tunnel von dort weiter Richtung Autobahnanschluss Ost. zvg

Manche Politikerinnen und Quartierbewohner, die jahrelang die Zustände an der Rosengartenstrasse beklagt haben, finden nun alles gar nicht mehr so schlimm. Eine hässliche Strasse habe ja auch ihre Vorteile. Günstige Mieten, zum Beispiel.

Allerdings will das Argument der steigenden Wohnungspreise entlang der Rosengartenachse nicht so richtig greifen. Der Anteil Liegenschaften in privater Hand hält sich in Grenzen. Auf dem gesamten Streckenabschnitt dominieren die Genossenschaften.

Und überhaupt hat der Markt längst angezogen, Verkehr hin oder her. Bereits in der zweiten Reihe, hinter den teils verlottert wirkenden Bauten entlang der vierspurigen Strasse, sind Dreieinhalbzimmerwohnungen für 3500 Franken keine Seltenheit.

Achter Akt: Ein kurzer Showdown

An einem Montagnachmittag, dem 22. Januar 2018, sitzen sich die Kontrahenten innerhalb der SP gegenüber. Die Kantonsratsfraktion der Partei hört ihnen eine gute Stunde zum Rosengartenprojekt zu.

Anwesend sind Simone Brander und ihr Mitstreiter Alt-Kantonsrat Ueli Keller, die für ein Nein werben. Aber auch der SP-Stadtrat André Odermatt, der vom einstigen Skeptiker zum Befürworter mutierte. Auch Ex-Stadtrat Martin Waser ist gekommen und Peter Anderegg, ehemaliger sozialdemokratischer Kantonsrat.

Anderegg ist Präsident des VÖV Zürich, des Vereins zur Förderung des öffentlichen Verkehrs. Vor einigen Monaten hatte er sich mit der ACS-Präsidentin Ruth Enzler zusammengetan. Auto- und ÖV-Verbände ziehen seither am selben Strick, die bürgerliche Auto- und die eher linke ÖV-Lobby in holder Zweisamkeit.

Simone Brander und ihre Mitstreiter stehen nun parteiintern gewichtigen Befürwortern gegenüber.

Es hat sich bereits abgezeichnet. Bei der SP könnte es nun doch für ein Ja reichen. Zu verlockend ist die Tramtangentiale, die zwei Entwicklungsgebiete verbinden würde, noch dazu als Geschenk des Kantons an die Stadt. Und so richtig für Lärm und schlechte Luft mögen die Sozialdemokratinnen sowieso nicht sein.

Allerdings beginnt jetzt in der vorberatenden Kommission die Phase der Anträge.

Die SP will am Projekt schrauben. Sie will sicherstellen, dass umliegende Quartierstrassen keinen Mehrverkehr hinnehmen müssen. Sie will den Zugang auf die Hardbrücke auf die Fahrzeuge beschränken, die aus dem Tunnel kommen. Und sie hätte am liebsten alle Tunnelabschnitte nur zweispurig. Und Tempo 30 auf der gesamten künftigen Rosengartenstrasse.

Mit ihrem Vorgehen, solche Details in Kommissionsanträge zu packen, nimmt die SP Risiken in Kauf. Schliesslich geht es nicht um eine Planungsvorlage, sondern um ein Gesetz, das eine Planung überhaupt möglich macht.

Die SVP hat noch nicht definitiv entschieden, sie wird wohl auf ihrer dritten «Sicherheitsspur» beharren. In den nächsten Wochen wird sich herausstellen, ob sie oder die SP mit ihren Änderungsanträgen mehr Gehör finden. Volkswirtschaftsdirektorin Walker Späh und der Rest der Parteien werden sich genau überlegen müssen, welche der Änderungen bei einer späteren Volksabstimmung die besseren Voraussetzungen schaffen.

Die Vorlage wird wohl eine Mehrheit finden. Vielleicht mit der SP, vielleicht mit der SVP. Je nachdem, auf wen Carmen Walker Späh und die restlichen Parteien einen Schritt zugehen. Und wenn Walker Spähs Sterne besonders günstig stehen, treffen sich alle in der Mitte. Das wäre die ideale Voraussetzung für ein Volks-Ja.

Doch eigentlich ist das egal. Denn der Tunnel wird kommen.

Was lernen wir daraus?

Die Zutaten für ein erfolgreiches Verkehrsprojekt beliebiger Grösse sind: ein paar wenige, dafür glühende Befürworterinnen, die sich über alle politischen Lager verteilen. Eine Partnerschaft zwischen Auto- und ÖV-Fans. Einen gewissen Leidensdruck der Anwohnerschaft. Und einen Zeithorizont, der so weit in der Zukunft liegt, dass die Gegnerinnen erst erwachen, wenn es für sie zu spät ist. Vor allem aber wissen die Beteiligten: Werden sie hier nicht einig, wird es in absehbarer Zeit keine grossen Verkehrsprojekte mehr in der Stadt Zürich geben.

Und so wird im städtischen Wahlkampf über Velowege und Hausbesetzungen gestritten. Während der Kanton hinter verschlossenen Türen an Kommissions- und Fraktionssitzungen die Stadt weiterbaut.

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