Nahaufnahme eines Bluttransfusionsbeutels
In präparierten Blutbeuteln liegt oft der Unterschied zwischen Gold und Niederlage.Maurizio di Iorio

Geheimsache Doping: Schmutzige Medaillen im Skilanglauf

Im Skilanglauf läuft der Dopingverdacht mit. Seit vielen Jahren. Das zeigt die Analyse von rund 10’000 Bluttests, die ein Whistleblower Journalisten zugespielt hat. Auch Dutzende Schweizer Langläufer sind dabei – jeder fünfte hat auffällige Blutwerte.

Von Sylke Gruhnwald, Carlos Hanimann, Grit Hartmann, Hajo Seppelt, Florian Wicki und Edmund Willison, 04.02.2018

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Im Herbst 2017 schickt ein Whistleblower der ARD-Dopingredaktion einen Umschlag. Darin: Die Bluttests von knapp 2000 Skilangläufern, gesammelt in den Jahren 2001 bis 2010. Viele von ihnen wurden mehrfach getestet, einige Blutprofile sind hochverdächtig. Etliche der Langläufer und Langläuferinnen gehören bis heute zur Weltspitze.

Der Whistleblower fügt hinzu: Er sei ernsthaft besorgt, was die Olympischen Spiele in Südkorea betreffe – und die Resultate im Skilanglauf. Sein Verdacht: Der Skilanglauf hat ein grosses Dopingproblem. Tatsächlich sind alle Ausdauersportarten besonders anfällig für Betrug. Wer sein Blut mit verbotenen Substanzen manipuliert und damit den Sauerstofftransport steigert, ist gerade auf Langstrecken deutlich schneller als die Konkurrenz.

Der Verdacht des Whistleblowers – er ist mehr als begründet.

Der Rechercheverbund aus der ARD-Dopingredaktion, der «Sunday Times», dem schwedischen Fernsehen SVT und der Republik hat die Daten ausgewertet – und konnte nachweisen, dass Doping im Skilanglauf weit verbreitet ist: Etwa jeder sechste Skilangläufer und -langläuferin war auffällig. Gesammelt wurden die Blutproben im Auftrag der FIS, des Skiweltverbands mit Sitz in Oberhofen am Thunersee.

Auch die Schweiz ist dabei

Federführend bei der Auswertung war die «Sunday Times». Ihre Datenanalyse zog sich über Monate hin. Analysiert wurden Auffälligkeiten im Blutbild. Solche Auffälligkeiten können ein Indiz für Doping sein – mit EPO oder Eigenbluttransfusion zum Beispiel. Letztere ist kaum nachweisbar und daher beliebt bei Spitzensportlern.

Dabei lässt sich eine Sportlerin erst Blut abzapfen, das dann zentrifugiert wird, sodass sich die roten Blutkörperchen vom Blutplasma trennen. Die roten Blutkörperchen kommen bei bis zu minus 78 Grad ins Tiefkühlfach, werden kurz vor dem Wettkampf aufgetaut und dem Athleten gespritzt. Auch hier der Effekt: Mehr rote Blutkörperchen gleich mehr Sauerstoff im Blut gleich mehr Ausdauer.

Zusätzlich bat die ARD-Dopingredaktion zwei anerkannte Dopingexperten, die Ergebnisse zu analysieren. Einer von ihnen ist der Sportmediziner James Stray-Gundersen aus Salt Lake City; er hat schon im Auftrag der FIS das Blut von Athletinnen untersucht. Der andere stammt aus Europa und wollte anonym bleiben, weil er bei einer Antidopingorganisation arbeitet. Die ARD-Dopingredaktion wollte ganz sicher gehen: Sie anonymisierte die Namen und Nationalitäten der Sportler – und bat die beiden Experten, die Daten unabhängig voneinander zu analysieren.

Das Ergebnis ist erschreckend: Zwischen 2001 und 2010 wurden bei Olympischen Spielen und Skilanglauf-Weltmeisterschaften 46 Prozent der Medaillen von Athleten und Athletinnen gewonnen, die einmal oder mehrfach mit auffälligen Blutwerten in der Liste auftauchen. Anders gesagt: 313 Medaillengewinne stehen damit unter Betrugsverdacht.

Russlands Athleten fielen erneut auf, bei ihnen sind die meisten Werte abnorm: 70 Medaillen wurden von Athletinnen aus Russland gewonnen, deren Blutwerte auf Doping hindeuten können. Ebenfalls auffällig, wenn auch in weit geringerer Zahl: Medaillengewinner aus Norwegen, Schweden, Deutschland und Italien.

Und auch für die Schweiz gibt es eine Zahl: Von Dutzenden Schweizer Skilangläuferinnen und -langläufern, die im Datensatz auftauchen, haben 18 Prozent einmal oder mehrfach auffällige Blutwerte. Also jede und jeder fünfte.

Und die letzte erschreckende Zahl: Viele dieser Athleten stehen bald wieder an der Startlinie. Rund fünfzig der Langläuferinnen und Langläufer, die nach den uns vorliegenden Daten bis 2010 auffällige Blutwerte hatten, sind für die Olympischen Winterspiele in Pyeongchang qualifiziert.

Das Fazit von Stray-Gundersen: «Es gibt eine beachtliche Verbreitung von Doping im Skilanglauf.» Darunter auch Medaillengewinner, denen der Experte «ungewöhnliche oder höchst ungewöhnliche Blutprofile» attestiert.

Auch das Fazit des anonymen Experten ist ein Armutszeugnis für den sauberen Sport: Weil bei so vielen Medaillengewinnern Dopingverdacht bestehe, «ist das stärkste Indiz für Doping, dass ein Sportler einen Wettkampf gewinnt».

Unter Verschluss

Ungewöhnliche Blutwerte sind noch kein Beweis für Doping, Indizien sind es aber allemal. Nicht die einzigen: Vor einigen Jahren gab die Wada, die Weltantidopingagentur mit Sitz in Montreal, eine Studie in Auftrag. Forscher der Universität Tübingen und der Harvard Medical School befragten 2167 Athleten, die an der Leichtathletik-WM 2011 in Südkorea und an den Panarabischen Spielen in Katar teilnahmen, ob sie dopten. Die Umfrage war anonym. Und die Antworten waren deshalb wohl ehrlich. Das Ergebnis: In Südkorea gaben 30 Prozent der Teilnehmenden an, gedopt zu haben, in Katar 45 Prozent. «Mit zeitgleich durchgeführten biologischen Testverfahren wurde nur ein Bruchteil der Dopingfälle erkannt: 0,5 Prozent der Tests bei den Weltmeisterschaften waren positiv; bei den Panarabischen Spielen waren es 3,6 Prozent.»

Das Ergebnis war so desaströs, dass es niemand sehen sollte. Jahrelang hatten weder die Wada noch der Weltleichtathletikverband IAAF ein Interesse daran, dass die Studie öffentlich wird. Es habe wohl ein «Publikationsembargo seitens der Verbände» gegeben, sagt der deutsche Studienleiter Rolf Ulrich der «Süddeutschen Zeitung». Erst im Sommer 2017, gut sechs Jahre nach der Erhebung, werden die Ergebnisse publik.

«Es gibt viele Gewinner, die sauber sind»

Kurz nach der Datenanalyse haben wir James Stray-Gundersen in Salt Lake City getroffen.

Herr Stray-Gundersen, gab es Zeiten, in denen die Blutwerte besonders hoch waren?
In den Blutprofilen war deutlich zu erkennen, dass es rund um die grossen Meisterschaften herum eine Menge Veränderungen gab. Ein Hinweis darauf, dass die Athleten ihr Blut für diese Meisterschaften manipuliert haben.

Kann man sagen, dass manche Athleten Doping als reguläre Wettkampfvorbereitung ansehen?
Ja. Und das sage ich als jemand, der seit über drei Jahrzehnten den internationalen Sport beobachtet. Verschiedene Nationen haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was Fairplay ist. Ich denke, dass insbesondere die Russen das Gefühl haben, dass Doping Teil der Vorbereitung auf den internationalen Wettbewerb ist. Und dass es Pech ist, wenn jemand erwischt wird. Während die Öffentlichkeit im Westen zunehmend das Gefühl hat, dass Doping ungerecht und ungerechtfertigt ist. Dass Athleten bestraft werden müssen, wenn sie erwischt werden.

Obwohl erdrückende Beweise auf systematisches Doping vorliegen, dürfen russische Athletinnen zu den Olympischen Spielen nach Südkorea reisen. Was halten Sie davon?
Ich empfinde es als Farce. Wenn eine Nation staatlich orchestriertes Doping betreibt, sollte sie für eine lange Zeit aus dem Sport verbannt werden – lange genug, damit die hohen Funktionäre ausgetauscht werden und ihnen Leute folgen, die eine andere Einstellung haben.

Wie lange, glauben Sie, würde das dauern?
Vielleicht ein Jahrzehnt.

Sind Sie enttäuscht von dem, was Sie unter den Medaillengewinnern gesehen haben?
Ja, natürlich. Gleichzeitig gibt es viele Medaillengewinnerinnen, die sauber sind. Meines Erachtens wird damit nur der Gedanke bekräftigt, dass wir mehr Zeit und Geld für ein wirksames Antidopingsystem aufwenden müssen.

Wenn es dramatische Veränderungen im Blutbild gibt – muss es dann zwangsläufig Doping sein? Oder kann das auch andere Gründe haben?
Wenn jemand kürzlich einen Autounfall hatte, dann gibt es eine Erklärung. Aber ansonsten? Wohl kaum.

Die Mitarbeit an «Geheimsache Doping» wurde aus dem Etat für grosse Recherchen, grosse Geschichten und grosse Ideen der Project R Genossenschaft realisiert.

Debatte: Wie viel Spass machen dopingverseuchte Winterspiele?

Am 9. Februar beginnen die Olympischen Winterspiele in Südkorea. Im Vorfeld sorgen spektakuläre Enthüllungen beim Doping für Aufsehen. Die Recherchen führen bis tief in die Schweiz hinein. Diskutieren Sie mit der Autorin Sylke Gruhnwald und dem Autor Carlos Hanimann – hier gehts zur Debatte.

Die Kooperation

Zur «Geheimsache Doping» recherchieren Reporterinnen und Reporter der ARD-Dopingredaktion, des schwedischen Fernsehens SVT, der britischen Zeitung «Sunday Times» und der Republik. Die ARD zeigt den zweiteiligen Film «Geheimsache Doping: Das Olympia-Komplott. Der scheinheilige Kampf gegen den Sportbetrug» (Teil 1, Teil 2). Gemacht haben den Film Hajo Seppelt, Grit Hartmann, Edmund Willison und Jürgen Kleinschnitger. Die Republik berichtet zeitgleich mit den Partnern in mehreren Teilen über das russische Staatsdoping – und die Verbindungen in die Schweiz
Teil 1: Der «Plan Sotschi»

Teil 2: Die Akte Bern
Teil 3: Falsche Flaschen

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