Binswanger

Einmal Kahlschlag, bitte!

Nach dem Rentenkompromiss und der SRG ist nun auch die Sozialpartnerschaft das Ziel von heftigen Angriffen. Soll das Schweizer Erfolgsmodell gleich in Gänze abgewrackt werden?

Von Daniel Binswanger, 03.02.2018

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Es kann unangenehme Folgen haben, wenn man Kinder zu sehr verwöhnt. Sie werden böse. Sie verwüsten das Kinderzimmer, weil sie die schönsten Spielsachen haben. Mit etwas Glück beruhigt sich das zwar, und die Zerstörungsanfälle gehen vorbei. Aber es gibt auch schwere Fälle.

Wirtschafts- und sozialpolitisch betrachtet ist die Schweiz im grossen Ganzen sehr erfolgreich: ein wunderbares Kinderzimmer. Das Pro-Kopf-BIP liegt weit über demjenigen des europäischen Umlandes. Die Einkommensungleichheit ist nicht so mässig wie in Skandinavien, aber wir befinden uns im vorderen Mittelfeld – und das obwohl durch Steuern, Abgaben und Transfers nur sehr wenig umverteilt wird. Natürlich gibt es Schattenseiten: Die niederen Einkommen werden durch Krankenkassenprämien und Mietkosten stark belastet. Die Vermögensverteilung ist massiv ungleich. Insgesamt aber ist klar: Halbwegs vernünftige Mitspieler würden dieses wirtschafts- und sozialpolitische Ausgleichssystem nicht zerstören wollen. Höchstens die schweren Fälle.

Besonders beeindruckend ist: Einerseits liegt die Arbeitslosigkeit sehr tief, andererseits haben sich die Einkommen im Niedriglohnsektor sehr gut entwickelt. Den meisten anderen Ländern in Europa gelingt es nicht, gleichzeitig diese beiden Ziele zu erreichen. Deutschland hat eine sehr niedrige Arbeitslosigkeit – aber eine katastrophale Lohnentwicklung am unteren Ende der Einkommensverteilung. Wer sich fragt, weshalb die AfD im Bundestag sitzt, der muss nur einmal einen Blick auf die deutsche Armutsquote und die Ausweitung des Niedriglohnsektors werfen. Frankreich hingegen hat eine ausgeglichene Lohnentwicklung, aber eine katastrophal hohe Arbeitslosigkeit. Wer sich fragt, weshalb Marine Le Pen einen Drittel der Stimmen holen kann, der muss nur einmal einen Blick auf die Statistiken zur Jugendarbeitslosigkeit werfen. Im Vergleich dazu sind die Schweizer Zustände paradiesisch.

Genau deshalb wohl haben regressive Anfälle von Zerstörungswut schon immer zur Schweizer Politik gehört. Sie kommen schubweise. Sie konzentrieren sich nicht auf bestimmte Themen, sondern nehmen die Form von Rundumschlägen an. Sie fordern trotzig das helvetische System heraus. Man denke zum Beispiel an das «Weissbuch» Mitte der Neunzigerjahre. Renten, Universitäten, Medien: Alles sollte dem anti-etatistischen Kahlschlag unterzogen werden. Und obwohl die Konjunkturentwicklung heute gut ist, werden Teile des rechtsbürgerlichen Establishments erneut vom grossen Furor gepackt. Der Rentenkompromiss, die SRG: Alles soll zertrampelt werden. Und jetzt hat sich die SVP noch ein weiteres Element des Schweizer Erfolgsmodells vorgenommen, das ganz plötzlich um jeden Preis liquidiert werden soll: die Sozialpartnerschaft.

Angefangen hat es mit den bizarren Auslassungen von Alt-Bundesrat Blocher zum Schweizer Landesstreik. Es ist bemerkenswert, wenn ein so viel beschäftigter Medienunternehmer und Politiker die Energie aufbringt, sich als Hobbyhistoriker zu betätigen. Aber ist die Interpretation des Klassenkampfes vor hundert Jahren wirklich aussagekräftig dafür, wie heute Sozialdemokratie und Gewerkschaften beurteilt werden sollen? Und warum hat sich Herr Blocher kaum je über das für die spezifisch schweizerische Entwicklung so viel bedeutendere Friedensabkommen von 1937 geäussert? Wo war die Rede zu dessen 75-Jahre-Jubiläum?

Am Dienstag nun haben die SVP und eine Reihe von Wirtschaftsvertretern in einer speziell anberaumten Pressekonferenz zum Generalangriff auf die Schweizer Gewerkschaften geblasen. Besonders skandalös soll die Zunahme der Gesamtarbeitsverträge (GAV) und der Mindestlohnregelungen sein, welche die Gewerkschaften aufgrund der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit heute durchsetzen können. Die GAV-Abdeckung liegt aktuell bei fünfzig Prozent, was jedoch weder im internationalen Vergleich noch im Vergleich zu früheren Phasen der Schweizer Sozialpartnerschaft ausnehmend hoch ist. Die Arbeitslosigkeit liegt trotz der Mindestlöhne weiterhin sehr tief. In einzelnen Branchen, wo sie gestiegen ist, sind fast ausschliesslich zugewanderte Ausländerinnen davon betroffen. Das ist ein Problem, das gelöst werden muss, doch Schweizer Arbeitnehmer leiden kaum darunter. Völliger Humbug ist das Argument, die hohen Mindestlöhne würden die Schweiz attraktiver machen und seien deshalb verantwortlich für die hohe Zuwanderung. Die Zuwanderung ist nicht nachfrage-, sondern angebotsgetrieben. Rumänische Kellnerinnen kommen auch dann in die Schweiz, wenn ihr Lohn nicht bei 4000, sondern bei 3000 Franken liegt. Um zuwandern zu können, müssen sie aber eine Stelle finden. Wenn die Löhne unbegrenzt sinken können, werden im Niedriglohnsektor viel mehr Stellen geschaffen und grossmehrheitlich mit Ausländerinnen besetzt. Nicht hohe, sondern tiefe Löhne beschleunigen die Migration.

Wo also liegt das Problem? Es gibt keines. Ohne die flankierenden Massnahmen wäre die Lohnentwicklung in der Schweiz ein Desaster geworden. Die bilateralen Abkommen hätten zu viel stärkeren Verwerfungen geführt, die Zuwanderung schlecht qualifizierter Arbeitnehmer wäre viel höher. Einzig die SVP, die die Bilateralen kündigen will, hat ein Interesse, die flankierenden Massnahmen zu verteufeln.

Die Unternehmerinnen hingegen sind in aller Regel an Gesamtarbeitsverträgen interessiert. Sie schützen vor Konkurrenz durch Lohn-Dumping. Sie bringen Stabilität und Planbarkeit. Sie verbilligen die Mitarbeiterweiterbildung. Es geschieht jedoch dasselbe wie bei der No-Billag-Initiative: Statt Sachpolitik betreibt der Gewerbeverband Propaganda. So missbraucht Direktor Hans-Ulrich Bigler, obwohl die Mitglieder teilweise gegen die Initiative sind, seinen Verband als Anti-SRG-Kampfmaschine. Und obschon die Schwächung der Sozialpartnerschaft ganz bestimmt nicht das Ziel der Schweizer Gewerblerinnen sein kann, bläst Verbandspräsident Jean-François Rime jetzt ungehemmt ins SVP-Kampagnenhorn: Die Sozialpartnerschaft muss weg, dann sind auch die Bilateralen erledigt. Was das für die Wirtschaft konkret bedeuten würde, scheint nicht zu zählen.

Interessenpolitik, wie sie die Wirtschaftsverbände normalerweise betreiben, ist nie eine schöne, in der Regel aber eine rationale Angelegenheit. Man rechnet kühl, man holt das Maximum heraus für seine Klientel. Im Moment aber hat das keine Gültigkeit mehr. Die bösen Kinder sind wieder einmal unterwegs: Es wäre eine Tragödie, wenn wir sie das Spielzimmer kaputt schlagen liessen.

Illustration Alex Solman

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