Die Flaschen für die Dopingproben: Links jeweils das Original von Berlinger, rechts die Kopie. Laborname, Barcode und Athletinnen-Nummer sind zum Schutz der Quellen abgedeckt. Laurent Burst/Republik

Geheimsache Doping: Falsche Flaschen

Herzstück des Antidopingkampfs: Hightechflaschen aus der Schweiz. Wir haben sie getestet – kopiert, geöffnet. Und das gleich mehrfach.

Von Sylke Gruhnwald, Carlos Hanimann, Grit Hartmann, Jürgen Kleinschnitger, Hajo Seppelt, Florian Wicki und Edmund Willison, 29.01.2018

Synthetische Stimme
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Als alles aufflog, als klar war, dass die Schweizer Antidopingkits dem russischen Geheimdienst nicht standgehalten hatten – da sagte Andrea Berlinger der «New York Times»: «Wir sind alle ein bisschen sprachlos.»

Und weiter: «Niemand hat es für möglich gehalten.»

Andrea Berlinger leitet die Firma Berlinger in sechster Generation. Gegründet als Baumwollweberei, ist man heute spezialisiert auf «Temperaturkontrollgeräte und manipulationssichere Verschlusssysteme». Auf Flaschen und Deckel für Urinproben beispielsweise, Behälter im Antidopingkampf, die unter keinen Umständen geöffnet werden dürfen, geht es doch um Beweise, die eine Athletin ihre Goldmedaille kosten können.

Viele Jahre hat niemand gezweifelt an den Hightechflaschen aus Ganterschwil im Toggenburg. Berlinger lieferte die Antidopingkits für die Urinproben bei der Fussball-WM in Frankreich 1998 und rüstet seit den Spielen von Sydney im Jahr 2000 die Kontrolleure bei Olympia mit Testkits aus.

Doch dann kam Sotschi. Dann flog auf, dass Grigori Rodschenkow, offiziell Leiter des dortigen Antidopinglabors, tatsächlich einer der Architekten des russischen Staatsdopings war. Nachts schlich Rodschenkow in eine verborgene Kammer neben dem offiziellen Dopinglabor und tauschte die Urinproben der russischen Athletinnen aus. Unterstützt vom russischen Geheimdienst, dem es gelang, die Hochsicherheitsflaschen von Berlinger zu öffnen. Bis heute ist nicht klar, wie genau die Agenten das anstellten.

Ohne sichere Flaschen ist der Kampf gegen den Sportbetrug unmöglich. Sie sind der Kern des Antidopingsystems, und alles entscheidend ist der Verschluss. Er muss so konstruiert sein, dass man ihn nur ein einziges Mal zudrehen kann – und dann auch mit grösster List oder Kraftanstrengung nicht wieder aufbekommt. Nur mit einem Spezialgerät von Berlinger soll die Flasche dann noch zu öffnen sein, und dabei wird der Deckel in zwei Teile gespalten und ist danach unbrauchbar. Das ist die Theorie.

Berlinger besserte nach, entwickelte in «rund 12 bis 18 Monaten» das BEREG-Kit® Geneva und stellte es vor im Juni 2017. Zuvor war der Verschlussring aus Metall. Nun ist er aus grünem Plastik. Jeder Deckel enthält neu ein Hologramm mit dem Firmenlogo, ähnlich wie ein Geldschein – hält man es ans Licht, reflektiert das Hologramm die Farben des Regenbogens.

Kurz: Das Bereg-Kit «dient mit seinen manipulationssicheren Flaschen zum sicheren Transport und zur sicheren Aufbewahrung der Urinproben, vom Ort der Probenentnahme bis ins Labor», versprach die Firma. Und warb: «Vertrauen Sie einem weltweit erprobten System.» Und lockte: «Feel safe.»

Im September 2017 wurden die Testkits ausgeliefert, an die mehr als 30 offiziellen Kontrolllabore weltweit, akkreditiert von der Wada, der Weltantidopingagentur mit Sitz in Montreal. Rund 60’000 Testkits sind bereits im Einsatz.

Die schlechte Nachricht: Die Flaschen sind nicht fälschungssicher.

Wir haben sie zersägt und kopiert, nachgebaut und kühl gelagert und die Deckel auf- und wieder zugedreht. Wir, das sind Journalisten der ARD-Dopingredaktion, der britischen «Sunday Times», des schwedischen Fernsehens SVT und der Republik.

Und das ist eine sehr schlechte Nachricht für die Olympischen Spiele, die in wenigen Tagen beginnen, am 9. Februar 2018 in Pyeongchang. Wie sollen nun faire Spiele garantiert werden?

«Ich bin sprachlos», sagt der Heidelberger Sportrechtsexperte Michael Lehner. Er hat über 200 DDR-Dopingopfer und mehrere unter Dopingverdacht stehende Profiradfahrer vor Gericht vertreten. «So einen Maximalfehler kann man sich gar nicht vorstellen.» Dabei sei der Wechsel auf das neue Berlinger-System doch als sicher angepriesen worden. Athleten, die nun bei einem Urintest erwischt werden, könnten ihre Sperre juristisch anfechten, ihre Probe könnte ja von einem Dritten manipuliert worden sein. Sie würden damit durchkommen. Lehner: «Aus und vorbei. Die Urinkontrollen können eingestellt werden. Das Dopingkontrollsystem ist ruiniert.»

Und wie kopiert man ein BEREG-Kit® Geneva so detailgetreu, dass selbst erfahrene Kontrolleure keinen Unterschied erkennen? Man nehme drei Dinge: den Deckel, die Flasche, das Etikett.

1. Versuch: Flasche nachgekauft, Deckel original

In einer Stadt im Ruhrgebiet, in einem Familienbetrieb für Glasapparatebau, nimmt der Chef eine Glassäge zur Hand, wie sie in jeder einschlägigen Glaswerkstatt an der Wand hängt – und schneidet die Berlinger-Flasche damit auf, kurz unterhalb des Deckels. «So, das wars schon», kommentiert er trocken. Der Verschluss ist unversehrt.

«So, wie ich es sehe, ist der Mechanismus wiederverwendbar», sagt der Mann. Man müsse nur noch die Glasreste aus dem Deckel herauslösen. Für ihn kein Problem. Dann könne man ihn auf eine andere Flasche schrauben. Und das stimmt.

Eine Flasche zu besorgen, die dem Glasbehälter von Berlinger täuschend ähnlich sieht, ist dann überhaupt kein Problem: Man bestelle einfach Vierkant-Laborflaschen, wie sie Apotheker benutzen, um Flüssigkeiten, Pulver und Granulate zu lagern. Es gibt sie im Internet, sie kosten nur ein paar Franken. Nach wenigen Tagen sind die Blankoflaschen in der Post.

Es fehlen: die Etiketten. Bei den Originalen von Berlinger wirken sie wie Siebdruck, sie sind hart und lassen sich aber zerkratzen. Jeder Athlet gibt zwei Flaschen ab, für die A- und die B-Probe, mit orangefarbenem beziehungsweise blauem Etikett. Auf beiden steht die gleiche siebenstellige Prüfnummer und der Name des jeweiligen Kontrolllabors. Darüber klebt ein weisser Aufkleber mit einem Barcode.

Auch die Etiketten zu kopieren, ist nicht schwer. Wie, das kann hier nicht erklärt werden. Nur eines ist sicher: Sie sehen original aus. Und der Berlinger-Deckel, den wir anfangs abgesägt haben, passt auch. Der Barcode ist überhaupt kein Problem: handelsübliche Aufkleber mit Standardbarcode.

Was sagen die Experten? Kann ein Fachmann, eine Fachfrau unsere Kopie von einem Original unterscheiden? Würde unsere Flasche in einem Dopingkontrolllabor auffallen wie ein gefälschter Reisepass an der Grenze?

Wir finden einen Tester. Einen Mann in einem europäischen Dopingkontrolllabor, der Tausende solcher Flaschen in Händen gehabt und sie geöffnet hat. Der sich auskennt mit Berlinger-Kits. Der Mann will anonym bleiben. Kann er Original und Kopie unterscheiden?

«Ich habe das jetzt mehrere Minuten angeschaut und nicht erkennen können, was Original und was die Fälschung ist. Nur als ich die Flaschen aneinandergestossen habe, da war der Klang minimal anders. Im normalen Ablauf ist das aber nicht üblich, die Flaschen so exakt zu kontrollieren. Das würde nicht auffallen.»

Wir wollten ganz sichergehen und haben das Experiment wiederholt, in Dopingkontrolllaboren in mehreren Ländern. Alle Tester kommen zu dem gleichen Schluss: Sie würden im Laboralltag die von uns hergestellte Flasche nicht als Kopie erkennen.

2. Versuch: neu entwickelten Deckel kopiert

Vor einigen Wochen haben wir uns an eine Spezialistin gewandt. Auch sie möchte nicht erkannt werden. Sie hat das BEREG-Kit® Geneva untersucht – und war überrascht: Der neue Sicherheitsdeckel sei simpler konstruiert als gedacht. «Ich habe kein unüberwindbares Sicherheitsmerkmal gefunden», sagt die Frau. Ihn nachbauen? Kein Problem. «Ich sags mal so: Eine Banknote zu fälschen, das ist Schwierigkeitsgrad 10. Der Deckel hier, der ist gerade mal eine 0,3.»

Das schwarze Element schliesst die Flaschenöffnung so ab, dass keine Flüssigkeit auslaufen kann.
Als Verbesserung der Sotschi-Flaschen: Hologramm im Deckel als zusätzliches Sicherheitselement.
Der rote Ring muss zum Verschliessen der Flaschen entfernt werden, der grüne Ring beim Verschliessen einrasten.
Als Verbesserung der Sotschi-Flaschen: Plastikring (links) statt des Metallrings. Laurent Burst/Republik

Zurück in ihrer Werkstatt baut sie den Verschluss, für den die Berlinger-Ingenieure viele Monate gebraucht haben, binnen weniger Tage. Komplett mit dem Hologramm. Wie? Das kann hier nicht verraten werden.

Und weil sie gerade dabei ist, nimmt sie sich eine der Blankoflaschen – und versieht sie mit einem Etikett, das sich vom Original auf den ersten Blick in nichts unterscheidet. «Ich bin in der Lage, ein Blankokit in zwölf Minuten mit jeder Nummer zu versehen – auf Deckel und Flasche.» Das sei für Expertinnen kein Problem. «Und Experten gibt es wie Sand am Meer.»

Das ist unser zweites nachgebautes Bereg-Kit. Dieses Mal haben wir alles kopiert: Flasche, Etikett, Deckel.

Wieder fragen wir Mitarbeiter der offiziellen Dopingkontrolllabore an. Wer merkt, dass der Deckel eine Kopie ist? Eine Expertin greift zur Lupe, ein anderer inspiziert den Deckel ganz genau. Beide können nicht sagen, was Original und was Kopie ist.

Was wir im Kleinen gemacht haben, wäre auch im Grossen möglich. Wir haben einen 3-D-Scan der Flasche an eine Firma in China geschickt. Und sogleich ein Angebot erhalten: 150’000 Flaschen könnten wir sofort bestellen, für 16 Rappen pro Stück. Dazu kämen Deckel und Etiketten. Pro kompletter Flasche würde eine Kopie am Ende wenige Franken kosten. Es wäre ein Leichtes gewesen, mehrere zehntausend Berlinger-Testkits der Generation Geneva zu produzieren. Dass die Flasche herstellergeschützt ist, hat in China niemanden interessiert.

3. Versuch: das Originalkit, in einem Kühlschrank gelagert

Im Sommer 2016, als Grigori Rodschenkow in der «New York Times» auspackt, sagt ein Sprecher von Berlinger: «Wir haben absolutes Vertrauen in die Flaschen, wenn man sie normal verwendet, nicht mit illegalen Methoden oder einem kriminellen System wie bei C.S.I. Miami.»

Stimmt nicht. Es reicht, wenn man die Flaschen in einen Kühlschrank legt.

Anfang 2018 erreichen uns mehrere Anrufe von Experten, die Dopingkontrollen durchführen. Sie sagen übereinstimmend: Dass man sich gar nicht gross anstrengen müsse, um die Berlinger-Kits zu öffnen. Einige liessen sich ganz einfach aufdrehen – wenn man sie drei Tage im Kühlschrank gelagert habe. Oder wenn man sie einfriere. Und das ist üblich bei der B-Probe, die für Gegentests aufbewahrt werden muss.

«Das ist doch das A und O des Dopingkontrollsystems!», echauffiert sich einer der Informanten. «Der Urin könnte ausgetauscht werden, wie in Sotschi!»

Und der nächste: «Das ist Wahnsinn! Und das kurz vor den Olympischen Spielen!»

Wir besorgen uns 24 Original-Berlinger-Kits, geben eine Flüssigkeit hinein und verschliessen jede sorgfältig so, wie es die Firma vorschreibt. Wir drehen den Deckel mit «moderatem Krafteinsatz bis zum Anschlag» zu und testen dann dreierlei. «Erstens: Versuchen Sie den Deckel in Gegenuhrzeigerrichtung zu drehen. Zweitens: Versuchen Sie den Deckel hochzuziehen. Drittens: Drehen Sie die Flasche kopfüber auf den Deckel.»

Danach legen wir die Flaschen in einen Kühlschrank. Und lassen sie dort drei Tage. 72 Stunden lang.

Keine der Flaschen dürfte sich öffnen lassen. Doch schon Flasche Nummer 15 lässt sich ohne Mühe aufdrehen, einfach so, ohne dass die Flasche beschädigt wird. Und es ist nicht die einzige. Zwei weitere Flaschen können wir von Hand öffnen, einfacher als ein Glas Babynahrung.

Sogar verschliessen lassen sich solche Flaschen danach wieder: Zwei der drei Flaschen gehen danach nicht wieder auf. Man hätte also getrost den Urin darin austauschen oder verunreinigen können. Niemandem wäre es aufgefallen.

Und jetzt?

In zehn Tagen beginnen die Olympischen Spiele in Pyeongchang. Zig Dopingkontrolleure stehen bereit, ausgerüstet mit Tausenden Flaschen. Sie sollen für saubere Spiele sorgen.

Wer hat den Schwarzen Peter? Das IOK verweist an die Wada, die Wada an Berlinger, und Berlinger auf die Gebrauchsanleitung.

Vor einigen Wochen haben wir das IOK nach den neuen Antidopingsets gefragt. Die Antwort: «Berlinger und ihre Kits werden seit ihrer Einführung 1994 von den meisten Antidopingorganisationen eingesetzt, einschliesslich des IOK.» Im Übrigen sei die Wada zuständig. «Bitte wenden Sie sich an die Wada, wenn Sie Fragen zu Berlinger und den Bereg-Kits haben.»

Also haben wir am 23. Januar 2018 bei der Wada nachgefragt, uns nach Abweichungen, nach Unregelmässigkeiten bei den neuen Flaschen erkundigt. Die Wada antwortet, sie wisse von nichts. Und bittet, man möge sich an den Hersteller wenden. An Berlinger also.

Berlinger wiederum verweist auf die Benutzeranleitung. Ja, schreibt ein Sprecher am 25. Januar 2018, ihr Produkt sei sehr bekannt, und man habe deshalb «seit kurzer Zeit eine leicht erhöhte Nervosität bei einigen Laboratorien» festgestellt. Was «vereinzelt zu Fehlmanipulationen an unseren Flaschen» geführt habe. Man gehe dem nach. Und gemahnt, man solle die Kits bitte nur ordnungsgemäss verwenden. «Wir weisen alle Benutzer der Bereg-Kits darauf hin, dass die Benutzeranleitung genau befolgt werden muss und mit einer korrekten, der Benutzeranleitung folgenden Handhabung der Flaschen keine Probleme vorkommen.»

Doch dann sickerte durch, dass die Flaschen nicht sicher sind. Das Dopingkontrolllabor in Köln informierte die Wada – und Berlinger. Berlinger verwies erneut auf die Gebrauchsanleitung. Die Wada veröffentlichte am Sonntagabend eine Pressemitteilung: «Die Weltantidopingagentur hat eine Untersuchung zu einem möglichen Integritätsproblem mit den Sicherheitsflaschen der neuen Generation BEREG-Kit® Geneva eingeleitet und wird bei Bedarf geeignete Massnahmen empfehlen, um die Integrität des Dopingkontrollprozesses aufrechtzuerhalten.»

Dafür bleibt nicht mehr viel Zeit: In Pyeongchang laufen derweil die vorolympischen Dopingtests.

Als nach Sotschi alles aufflog, als klar war, dass die Schweizer Antidopingkits dem Betrug nicht standgehalten hatten – da sagte Andrea Berlinger: «Wir sind alle ein bisschen sprachlos.»

Dann machten sich Kommissionen und Ingenieurinnen an die Arbeit. Sie hat wohl nicht ausgereicht.

Die Mitarbeit an «Geheimsache Doping» wurde aus dem Etat für grosse Recherchen, grosse Geschichten und grosse Ideen der Project R Genossenschaft realisiert.

Debatte: Wie viel Spass machen dopingverseuchte Winterspiele?

Am 9. Februar beginnen die Olympischen Winterspiele in Südkorea. Im Vorfeld sorgen spektakuläre Enthüllungen beim Doping für Aufsehen. Die Recherchen führen bis tief in die Schweiz hinein. Diskutieren Sie mit der Autorin Sylke Gruhnwald und dem Autor Carlos Hanimann – hier gehts zur Debatte.

Die Kooperation

Zur «Geheimsache Doping» recherchieren Reporterinnen und Reporter der ARD-Dopingredaktion, des schwedischen Fernsehens SVT, der britischen Zeitung «Sunday Times» und der Republik. Die ARD zeigt den zweiteiligen Film «Geheimsache Doping: Das Olympia-Komplott. Der scheinheilige Kampf gegen den Sportbetrug». Gemacht haben den Film Hajo Seppelt, Grit Hartmann, Edmund Willison und Jürgen Kleinschnitger (Teil 1, Teil 2). Die Republik berichtet zeitgleich mit den Partnern in mehreren Teilen über das russische Staatsdoping – und die Verbindungen in die Schweiz.
Teil 1: Der «Plan Sotschi»
Teil 2: Die Akte Bern
Teil 3: Falsche Flaschen

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