Aus der Arena

10 Punkte, die ich von Ihnen gelernt habe

Das Fazit des Autors von «Demokratie unter Irrationalen» nach zwei Tagen Debatte mit den Leserinnen und Lesern.

Von Constantin Seibt, 20.01.2018

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Arbeitsschluss. Die ersten 48 Stunden der Debatte sind längst vorbei. Und damit endet meine offizielle Präsenz in diesem Forum hier. (Aber Sie sollten sich nicht zu unbeobachtet fühlen. Ich schlendere gelegentlich vorbei.)

Zusammenfassend habe ich von Ihnen Folgendes gelernt:

  1. Die Länge des Artikels «Demokratie unter Irrationalen» (50’000 Zeichen) war eine Zumutung. Sie haben zwar verblüffend höflich reagiert – das Furchterregendste war das Heben einer Augenbraue. Respekt dafür! Aber als Ex-Print-Zeitungsmensch sollte ich darüber nachdenken, wie man im Netz der Versuchung entgeht, auszuufern wie das Delta des Mississippi.

  2. Ein ernsthaftes Versäumnis war das Weglassen von Links – nach drei durchgearbeiteten Nächten in der Woche vor dem Start liefen Nerven und Zeit aus. Doch eigentlich stehen Links weit vorn im Konzept der Republik: Wir wollen, dass Sie bei Interesse weiterlesen können. Und zentrale Thesen nach Möglichkeit überprüfen können. Kurz: Links sind etwas, was wir standardmässig machen müssen, wo immer es sinnvoll ist.

  3. Ich werde zukünftig beim Zitieren von Studien noch ein wenig skeptischer sein: Was ist das Sample, wurden sie erfolgreich wiederholt?

  4. Was allerdings die Skepsis einiger Verlegerinnen betrifft, dass die Hirnforschung gerade Mode sei und also nicht allzu ernst zu nehmen – ich teile sie nicht: Ich fürchte, man sollte berücksichtigen, was an neuen Erkenntnissen kommt: auch wenn einem das Ergebnis nicht besonders gut ins Denken und Wünschen passt. (Und ja, das Neue ist geld- und modegetrieben, aber das gilt ja für alle Entwicklungen von Kunst über Politik bis Technik.)

  5. Allerdings gab es ein paar Einwände, die mir zu denken gaben. Vor allem folgende: Die meisten Studien, die ich las, wurden im amerikanischen Zweiparteiensystem gemacht. Lassen sich die politischen Köpfe und Emotionen in den USA dort mit denen in der Schweiz vergleichen, wo das System weit feiner verästelt ist? Und: Der Grossteil der psychologischen Studien in US-Elite-Universitäten wird an Psychologiestudenten von US-Elite-Universitäten durchgeführt. Gelten die Ergebnisse generell? Oder nur für meist weisse, oft reiche, oft hochintelligente US-Psychologiestudenten?

  6. Technisch gab es noch Geburtsmängel bei unserem Diskussionstool. (Es wurde Stunden vor dem Start fertig.) Die wichtigsten: die fehlende Zeilenschaltung, keine Möglichkeiten, Links einzubetten – und dann die verdeckten Antworten, die keine allgemeine Debatte, sondern nur Einzelgespräche wie beim Simultanschach zuliessen.

  7. Die Zeilenschaltung war 24 Stunden später installiert, die Links sind nur eine Frage von Tagen, die Dramaturgie – daran wird getüftelt. Es war erfreulich, dass das System beim Start lief. Und noch erfreulicher, dass danach die Arbeiten weiterliefen.

  8. Was ich bei der Lektüre zum Artikel gelernt habe, war: dass Menschen durchaus verschiedene, zu einem unklaren, aber nicht kleinen Teil festgezurrte Wahrnehmungs-, Fühl- und Denkstile haben. Und dass eine grosse Menge Entscheidungen für die sich entscheidende Person unsichtbar getroffen werden: noch vor der bewussten Wahrnehmung und vor dem Willen. Niemand denkt so frei, wie er es denkt. Kurz: Man hat eine Menge blinder Flecken und ist blind, wo sie sich befinden.

  9. Das ist gleich doppelt ein publizistisches Problem. Zum Ersten für jeden Redaktor, jede Reporterin: Im Journalismus muss man, um gut zu sein, nicht zuletzt dem eigenen Blick, also dem eigenen Herzen vertrauen. Nur: Wie soll man arbeiten, wenn man der eigenen Wahrnehmung nicht trauen kann? Zum Zweiten: Stimmt obige Forschung, ist das Ergebnis eine harte Botschaft für die Republik selbst. Eigentlich war es unser Ziel, das Magazin mit möglichst wenig Schlagseite zu konstruieren. Wir haben sehr verschiedene Leute angeheuert: nach Alter, Temperament, Fähigkeit. Und etwa fifty-fifty nach Geschlechtern. Aber unter dem Strich ist auch das keine Garantie gegen Blindheit. Die Republik wird mit Sicherheit mehr politischen Drall haben als gewollt. Nicht zu absichtlichen Propagandazwecken, sondern wegen der Voreinstellung der Wahrnehmung in der Redaktionskultur. Der politische Spin liegt dann im Blickwinkel: verborgen in den Fragen selbst. Und bei Debatten im Instinkt, was uns bemerkenswert, erfreulich, furchtbar, selbstverständlich etc. vorkommt.

  10. Was tun? Als Journalist oder Journalistin bleibt einem wenig anderes übrig, als den eigenen Augen trotz allem zu vertrauen – man hat ja keine anderen. Vielleicht mit ein wenig mehr Bescheidenheit und weniger Rechthaberei. Als Redaktion hingegen haben wir immerhin 17’800 Verbündete. Sollten Sie also das Gefühl haben, dass wir bei einzelnen Themen, Recherchen, Fragen ungeheure Blind- oder Blödheiten begehen, schreiben Sie uns. Wir werden dann versuchen, Ihnen zuzuhören.

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