Ein Gemälde von einem orgiastischen Picknick im Wald
Der gemalte Beweis: Es gibt nichts, was Menschen vom Vögeln abzuhalten vermag.«The Triumph of Pan», 1636. Artist: Nicolas Poussin. Nymphs and satyrs with goats dancing and carousing before a figure representing the god Pan. (Hulton/Getty)

Eine kurze Geschichte des Lasters

Stop Aids! Trink nichts! Iss vegan! Der Gegner aller vernünftigen Kampagnen ist der denkbar mächtigste: die menschliche Gier. Denn Exzess, Sex und Risiko sind nicht Nebengeräusche der Zivilisation. Sie sind ihr Motor – zumindest bislang. Das beweist das vielleicht wildeste Kapitel aus «Positiv», dem neuen Buch zur Stop-Aids-Kampagne.

Von Olivia Kühni, 18.01.2018

Eine kurze Geschichte des Lasters
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Sie wissen das genauso gut wie ich, liebe Leserin, lieber Leser: Es gibt nichts, was Menschen vom Vögeln abzuhalten vermag. Besorgte Eltern und Tanten schaffen es nicht, der Papst schafft es nicht und auch das Todesvirus nicht. Fast 40 Millionen Leben hat HIV bis heute ausgelöscht, viele weitere Millionen heimgesucht, und trotzdem ficken die Menschen atemlos weiter. Betrinken sich an Liebschaften, die sie alles kosten könnten, was sie haben. Fiebrig, gierig, besinnungslos.

Warum nur? Du Hurensohn, ich Sünderin. Warum?

Das menschliche Laster hat eine lange Geschichte.

Etwas vom Ersten, was der Mensch nachweislich tat, war das Saufen. Auch andere Tiere mögen Alkohol. Sie schätzen gärende, schwere Früchte, ihre Süsse, ihre Kalorien und ihre Kraft, den Verstand auszuhebeln. Das asiatische Federschwanz-Spitzhörnchen, eines der ältesten Säugetiere auf Erden und somit ein entfernter Verwandter des Menschen, verblüfft Forscher mit seiner Trinkfestigkeit beim Verzehr von vergorenen Früchten. Auch andere Säugetiere sind nicht abgeneigt: In Indien kommt es immer wieder zu Todesfällen mit betrunken randalierenden Elefanten. Homo sapiens aber packte, wie bei so vielem, was wir tun, ein ganz besonderer Ehrgeiz: Wir begannen schon vor Jahrtausenden, Alkohol bewusst und systematisch herzustellen.

Sesshaftigkeit und Saufen

Einige Archäologinnen und Anthropologen glauben gar, dass es seine Liebe zum Bier war, die den Menschen vor rund 12’000 Jahren im südlichen Mesopotamien in die Sesshaftigkeit trieb. Er habe damit begonnen, Weizenfelder zu bestellen, so die These, um sich effizienter zu betrinken. Und sich später mit organisierten Trinkfesten gesellschaftlichen Frieden und politische Allianzen zu sichern.

Für seine Sesshaftigkeit zahlte der Mensch übrigens einen hohen Preis, wie wir heute wissen. Er arbeitete als Bauer viele Stunden mehr und deutlich härter als seine nomadisch lebenden Verwandten. Er zog fortan nicht mehr als freies Tier umher, sondern lebte als Gefangener seiner Scholle, seines Hauses und der patriarchalen Feudalsysteme, welche die Agrarwirtschaft hervorbrachte. Sesshaft gewordene Menschen nahmen weniger ausgewogene Nahrung zu sich und starben an Dürren, Kriegen und zuvor unbekannten Seuchen. Insgesamt fällt die Bilanz der Sesshaftigkeit für den Homo sapiens bis weit in die Moderne so negativ aus, dass man nach Ansicht des Historikers Yuval Noah Harari eigentlich nicht feststellen sollte, der Mensch habe den Weizen domestiziert. Sondern vielmehr der Weizen den Menschen.

Warum nur? Ich Trinkerin, du Säufer, warum?

Möglicherweise – so die, offen gestanden, konventionellere These – war es auch eine Klimaveränderung, nicht der Bierdurst, die den Menschen zum Ackerbauern werden liess. Klar aber ist: Sesshaftigkeit und Saufen gehörten sehr bald zusammen. Die Ägypter tranken unter anderem fermentierten Palmsirup, die Chinesen Reiswein, die Osmanen und Perser Wein und die Sumerer in der Levante eben Bier.

Das leuchtet ein. Zusammenleben braucht gemeinsame Erzählungen und Rituale – Orgien mit Trommelmusik, Opfergaben, Alkohol und Sex. Feierlichkeiten, die Göttinnen gnädig und die Mitmenschen friedlich stimmten. Ungezählte Menschengenerationen lang gehörten Religion und Sexualität – gerade auch weibliche Sexualität und Fruchtbarkeit – zusammen. Die Tempel unserer Ahnen waren auch Bordelle, ihre Priesterinnen auch Prostituierte, ihre Gotteshäuser auch Wirtsstuben, Handelszentren und Schlachthäuser. Bevor der Wein im Namen der christlichen Kirche zum Blut Jesu wurde, galt er in Griechenland und Rom als Göttersaft des Dionysos – des einzigen unsterblichen Gottes, der eine Menschenfrau zur Mutter hatte. Dass diese angeblich Jungfrau gewesen sein soll, wäre wohl keinem vorchristlichen Erzähler eingefallen.

Darum, ihr Heiligen, ihr Huren, darum. Es ist nicht die Vernunft, die den Menschen zivilisierte und ihn zum bestorganisierten, erfolgreichsten Tier auf Erden machte. Sondern im Gegenteil gerade sein Hang zu gemeinsamem Exzess und Fieberträumen.

Stadt der Gier

«The miners came in forty-nine,
the whores in fifty-one,
and when they got together,
they produced the native son.»
(inoffizielle Hymne San Franciscos)

Rund 6000 Jahre nachdem die Sumerer ihr erstes Bier gebraut hatten, fand auf kalifornischem Boden ein Angestellter des Schweizer Auswanderers Johann August Sutter ein Stück Gold. Das war im Januar 1848, und das Land sollte fortan nie mehr dasselbe sein. Innerhalb weniger Monate überrannten Zehntausende Glücksritter, Händler, Geldverleiher, Prostituierte und Spekulanten die Westküste. Sie vertrieben oder töteten die bislang dort lebenden Indianerstämme und gründeten saufend, spielend und kopulierend einen neuen goldenen Staat. Einen Schmelztiegel, den diese schamlose Brut auch noch ausgerechnet nach Franziskus taufte, dem sanftesten aller Heiligen, dem Schutzpatron der Natur und der Tiere.

San Francisco ist bis heute eine Stadt, in der die Menschen besonders fiebrig träumen. Heute insbesondere davon, mithilfe von Biotech und künstlicher Intelligenz das Mängelwesen Homo sapiens zu optimieren. Es ist die Stadt der freien Liebe, der Bürgerrechtsbewegung und jene, die das HI-Virus in den 1980ern zuerst heimsuchte, bevor es sich auf der Welt ausbreitete wie eine dunkle Rachegöttin. San Francisco ist ausserdem eine Hochburg für Diagnosen sogenannter Neurodiversität, Autismus etwa oder ADHD. Das ist möglicherweise kein Zufall. Aber dazu gleich mehr.

Dopamin und die Steppen der Welt

Die heutige Neurowissenschaft und die Genetik wissen ein bisschen etwas darüber, warum Menschen all die Verrücktheiten tun, die sie nun einmal tun. Nahrungssuche, Partnersuche, das Leben überhaupt verlangen vom Menschen seit Anbeginn der Menschheit Mut und geschickte Kooperation. Darum sind wir alle genetisch und neurologisch tendenziell zu Abenteuerlust, Spielfreude und Neugier veranlagt. Alle von uns – aber nicht alle gleichermassen.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer davon sind Unterschiede im Dopaminhaushalt des menschlichen Hirns. Diesen Botenstoff bezeichnen Lifestylemagazine gerne und oft als «Belohnungsdroge», die bei aufregenden Erfahrungen ausgeschüttet werde und den Menschen zufriedenstelle. Und ihn bei entsprechenden Anlagen süchtig mache. Doch die Wirklichkeit ist komplexer und faszinierender: Sie erzählt von der langen Wanderung unserer Spezies durch die Steppen der Welt.

Dopamin ist aktiv, wenn Menschen in die Ferne blicken, im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Wenn wir eine Landschaft nach Beute absuchen, Distanzen abschätzen oder abstrakte Konzepte beurteilen, aber auch wenn wir angesichts eines Abenteuers unsere Chancen und Risiken abschätzen. Dopamin überschwemmt beispielsweise die Gehirne von frisch Verliebten. Das macht sie nicht zufrieden, wie jeder, der schon mal verliebt war, bezeugen kann. «Belohnung» ist darum der falsche Begriff. Dopamin tut etwas anderes, viel Unwiderstehlicheres: Es macht, dass wir wollen, dass etwas passiert. Dopamin lässt uns mit weit offenen Augen und klopfendem Herzen darauf warten, was als Nächstes kommt – selbst dann, wenn wir wissen, dass wir eigentlich wegrennen sollten.

Warum nur, du Dummkopf, ich Idiotin, warum?

Menschen suchen Situationen, in denen etwas passieren kann, etwas passieren muss und wird, weil dies zu tun in ihrer Natur liegt. Wir sind geboren, unseren Blick zum Horizont zu heben. Und manche von uns tun dies sehnsüchtiger als andere. Sie sind die Ersten, die das Schiff nach Kalifornien besteigen, die Ersten, die sich aufmachen in den Dschungel, die Ersten, die ein Kondom bräuchten – und die Letzten, die je eines dabeihätten.

Unsere Jäger und Kriegerinnen

Was Literatur und Lebenserfahrung schon lange lehren, belegt inzwischen auch die Genforschung: Manche Menschen suchen einfach Ärger. Ein bestimmter Prozentsatz der Menschheit kommt mit einer Variation des Gens DRD-4 zur Welt, die sie mit veränderten Dopaminrezeptoren heranwachsen lässt. Sie sind hungriger auf Neues als andere, reagieren schneller und stärker auf äussere Ereignisse und handeln impulsiver. Menschen mit der Diagnose ADHD tragen oft diese Genvariante in sich, auch Menschen, die mit Drogen experimentieren und Risiken aller Art suchen. DRD-4-7R, so heisst die Variation, kommt überproportional häufig in Gemeinschaften vor, die in den letzten 30’000 Jahren stark umhergezogen sind: in Amerika deutlich häufiger als anderswo, in nomadisch lebenden Gesellschaften häufiger als in sesshaften. Das sind unsere Jäger und Kriegerinnen, und es ist kein Wunder, können sie in der Primarschule Hintertupfigen nicht still sitzen. Auch kein Wunder ist, dass besonders viele der Abenteurer und ihrer Nachkommen sich heute in San Francisco tummeln, der Stadt der schnellen Entscheidungen und der fiebrigen Liebe. Wo ein Schiff hinfährt, dahin machen sie sich auf – es könnte schliesslich etwas passieren.

Mit dabei auf den Hochrisikomissionen sind oft auch sehr junge Menschen. In der Pubertät baut sich das menschliche Hirn stark um. Es ist die Zeit, in der Menschen auf Partnersuche gehen. Darum sind unsere Antennen in diesen Jahren viel stärker nach aussen gerichtet als sonst: Das Urteil der Gleichaltrigen macht oder bricht uns. Junge Menschen tun verrückte Dinge, um geliebt zu werden. Oder wenigstens beachtet. Zusätzlich befeuert den Risikohunger der Botenstoff Testosteron, der in Körpern von Männern und Frauen wirkt, in denjenigen der Ersteren aber deutlich mehr. Unter anderem wegen dieser Kombination sind junge Männer die risikofreudigste Gruppe in jeder Gesellschaft. Sie würden sterben für Sex, Abenteuer oder Heldentum – und allzu oft tun sie das auch.

Auf Eroberungsfeldzügen und Expeditionen, in Chefsesseln, an der Börse, in Bordellen, in Forschungslaboren, auf Rennbahnen, im Feld, am Himmel, im All oder unter Wasser finden sich viele Menschen mit überdurchschnittlicher Risikolust, ob Frauen oder Männer, sowie überproportional viele junge Männer. Dieselbe Population bevölkert auch Casinos, Trinkfeste und Gefängnisse, und es ist oft die Stabilität des Umfeldes, die über den Lauf der Dinge entscheidet. Junge Jägerinnen und Krieger, das wissen Eltern und Boxtrainer, aber auch die Forschung, brauchen viel und klaren Zuspruch.

Die Neuerfindung des Menschen

Wie also schützt man den Menschen, wenn man das denn will? Gute Kampagnen – und gute Politik überhaupt – wissen um die menschliche Unvernunft. Sie lamentieren und rügen nicht. Sondern setzen stattdessen auf wirksame Anreize und eindeutige Spielregeln. So, wie die Schweizer Stop-Aids-Kampagne: bei Sex ein Kondom, Sperma und Blut nicht in den Mund, einfach zugängliche Gratiskondome und Beratung. Vernünftige Massnahmen für Situationen, in denen der Wahnsinn regiert.

Doch manche gehen noch viel weiter. Das Ideal des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr die Gier, sondern die Eliminierung der Gier. Nicht die Ekstase, sondern die Schmerzvermeidung. Und der Mensch, selbstverständlich, verfolgt auch diese Ziele mit dem Ehrgeiz und der Skrupellosigkeit, die ihm nun einmal – noch – eigen sind. Er arbeitet in hoher Geschwindigkeit auf die Neuerfindung des Homo sapiens als optimierte Spezies hin – ein Wesen, das vernünftiger, gesünder, umweltverträglicher, geschlechtsloser, friedlicher lebt. Leise, glatt und effizient.

Also forschen wir an Pillen, um eine ausgeglichene zwischenmenschliche Bindung (Oxytocin) oder garantierte Empathiefähigkeit (Tolcapon) herzustellen. Die ersten ernsthaften Forscher arbeiten an der Unsterblichkeit – und leben mit viel Vitaminen und noch mehr Vorsicht, um den Durchbruch dazu noch zu erleben. Gut möglich, dass die Welt und die Menschen in Kürze nicht mehr wiederzuerkennen sind. In weniger als drei Generationen werden wir, da sind sich manche Forscher sicher, keinen Sex mehr brauchen, um uns fortzupflanzen. Und keinen Alkohol und Aberglauben, um unsere Angst zu besiegen.

Bis dahin: Love life. Es ist alles, was wir haben.

Debatte: Hätten Sie Lust auf mehr Laster?

Diskutieren Sie mit Autorin Olivia Kühni heute von 7.30 Uhr bis mittags intensiv und die darauffolgenden 48 Stunden unregelmässig. Hier gehts zur Debatte.

«Positiv. Aids in der Schweiz»

Nächsten Montag erscheint im Journalismus-Verlag «Echtzeit» das Buch «Positiv». Es erzählt die Geschichte der Stop-Aids-Kampagne: wie reisende Ärzte, energische Schwule, Kompetenzen überschreitende Beamte und trickreiche Werber eine anfangs unbekannte tödliche Seuche mit einer nüchternen Unverschämtheit bekämpften, die bis heute Vorbild bleibt. An diesem Buch sind mehrere Schreibende der Republik beteiligt: Carlos Hanimann, Constantin Seibt (als Herausgeber) und Olivia Kühni, deren Kapitel für diesen Vorabdruck erweitert wurde.

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