30 Jahre vor Gericht

Drei Jahrzehnte beschrieb sie Mörderinnen, Räuber, Diebinnen, Betrüger, Hochstaplerinnen, verkrachte Nachbarn. Nun zieht die Gerichtsreporterin Brigitte Hürlimann Bilanz. Sie tut es mit sechs aufsehenerregenden Fällen, die die Justiz veränderten.

Von Brigitte Hürlimann (Text) und Grafilu (Illustration), 17.01.2018

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Auf Englisch nennt man uns «public watchdogs». Und genau das ist unser Beruf: öffentliche Wachhunde. Wir beobachten die Gerichtsarbeit, die dritte Gewalt im Staat. Wir brauchen aber eher Sitzleder als Zähne; wir verbringen Stunden, Tage, manchmal Wochen auf harten Bänken, während vorn auf dem Podest Recht gesprochen wird – im Idealfall hat das sogar mit Gerechtigkeit zu tun. Wir Gerichtsreporter sitzen still, aber vor uns läuft aller Lärm der Welt: Dramen, Komödien, Seifenopern, Thriller und Krimis. Nichts Menschliches, kein Teil der Gesellschaft ist hier fremd.

Wir tragen die Geschichten aus den Gerichten in die breite Öffentlichkeit, regen Diskussionen an, fördern damit die Rechtsentwicklung und das Rechtsverständnis, und meist sind es die Straffälle, die Debatten, Polemiken, Veränderungen bringen. Erich Hauert, die Parkhausmörderin, Carlos oder der Kristallnacht-Twitterer haben das Strafrecht über den Einzelfall hinaus geprägt.

Deshalb eine kleine Geschichte der schweizerischen Strafjustiz – basierend auf sechs Fällen und auf dreissig Jahren Sitzleder vor Gericht.

Der Fall Erich Hauert

Über hundert Hafturlaube lang passiert nichts. Dann schlägt er wieder zu. Erich Hauert, Langzeitinsasse in der Zürcher Strafanstalt Pöschwies, wegen elf Vergewaltigungen und zwei Sexualmorden zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, ermordet Ende Oktober 1993 im Wald von Zollikerberg eine zwanzigjährige Pfadiführerin. Das Opfer ist ihm zufällig über den Weg gelaufen. Seit dieser Tat steht im schweizerischen Strafvollzug kein Stein mehr auf dem anderen.

1996 wird der Dreifachmörder vom Zürcher Obergericht erneut zu einer lebenslangen Strafe verurteilt – und zusätzlich verwahrt. Inzwischen ist Erich Hauert weitgehend vergessen, doch sein Name steht für einen anderen Strafvollzug – weg von Vergeltung und Resozialisierung hin zum Präventivstrafrecht. Seit dem Mord an der Pfadiführerin, begangen durch einen mehrfach einschlägig vorbestraften Mörder, Vergewaltiger und vor allem durch einen Gefängnisinsassen, zählt nicht mehr nur die Vergangenheit des Täters, sondern auch das vermutete künftige Verhalten. Die Prognose, ob der Täter in Zukunft wieder jemand gefährden könnte, prägt seitdem den Umgang mit Gewalt- und Sexualstraftätern.

Sein Name steht für einen anderen Strafvollzug – hin zum Präventivstrafrecht: Erich Hauert am 19. September 1996, nachdem er sich vor dem Zürcher Obergericht am Mord an der damals 20-jährigen Pasquale Brumann für schuldig bekannte.  Bild: Peter Lauth/Keystone

Der Mord in Zollikerberg gilt als klassisches Beispiel für das Versagen des Staats, der es nicht schafft, die Bevölkerung zu schützen. Die öffentliche Empörung trifft weniger den psychisch kranken Mörder. Sondern richtet sich mit voller Wucht gegen die Behörden. Man habe zu wenig professionell gehandelt, lautet der Vorwurf, man habe die Gefährlichkeit Hauerts nicht erkannt – und noch schlimmer: vorhandene Hinweise nicht weitergeleitet. Das hat nun ein jähes Ende.

Überall errichten die Kantone neue Vollzugsbehörden und Sicherheitskommissionen, beginnen zu koordinieren, zu analysieren, Daten zu erheben, Informationen interdisziplinär und breit auszutauschen, sie setzen Prognose-Instrumente, Kategorisierungen, Gefährlichkeitsanalysen und vor allem Heerscharen von Gerichtspsychiatern ein: die Richter in Weiss. Politiker, Zeitungen, Wählerinnen fordern Nullrisiko, das böse Wort von Kuscheljustiz macht die Runde, und es breitet sich eine neue Form von Logik aus: die Versicherungslogik. Das Gefährlichkeitsrisiko wird neu nach versicherungsmathematischen Regeln errechnet. Und siehe da: Die Bevölkerung will auch im Strafrecht Vollkasko haben, koste es, was es wolle. Dabei zählt nicht, dass es auch Unschuldige trifft: Täter, die nach Verbüssung ihrer Strafe deliktfrei leben würden. Sie bleiben auf unbestimmte Zeit eingesperrt, weil die Statistik gegen sie spricht – und weil es ein Algorithmus so errechnet hat.

Im Februar 2004 nimmt das Stimmvolk eine Volksinitiative an. Sie schreibt die lebenslange Verwahrung für extrem gefährliche, nicht therapierbare Sexual- und Gewaltstraftäter vor. Vor dem Urnengang protestieren Strafrechtler und liberale Köpfe, sie warnen vor überzogenen Anforderungen an die Gefährlichkeitsprognose und vor der Unvereinbarkeit mit Bundesverfassung und Menschenrechtskonvention. Doch die Gegner haben keine Chance. Im Februar 2004 nimmt die Stimmbevölkerung die Verwahrungsinitiative mit 56,2 Prozent an. Seitdem plagen sich die Strafrichter und die Gerichtspsychiater mit einer kaum beantwortbaren Frage: ob es möglich ist, jemanden für immer als nicht therapierbar einzustufen. Die lebenslange Verwahrung wurde bisher nur in Einzelfällen ausgesprochen.

Der Fall Gabor Bilkei

Dr. Bilkei nimmt das Geheimnis mit ins Grab. 2015 stirbt er im Zürcher Oberland an Krebs. Bis zuletzt bestreitet der ungarisch-schweizerische Tierarzt, seine Frau getötet zu haben. Heike Bilkei, zwanzig Jahre jünger als ihr Gatte, Mutter von zwei gemeinsamen Kindern, will sich vom Ehemann trennen, zieht mit Sohn und Tochter in die Ferienwohnung und verschwindet dann plötzlich. Gabor Bilkei hat seine Frau zuletzt gesehen, hat sie in der Ferienwohnung aufgesucht, er gerät in Verdacht, wird mangels Beweisen jedoch wieder freigelassen – bis der Schädel der Toten an einem Zürcher Waldrand entdeckt wird. Die vier Einschusslöcher passen vom Kaliber her zu einer von Bilkeis Pistolen.

Gabor Bilkei am 16. Dezember 1999 nach der Urteilsverkündung: Zürcher Geschworene sahen es als erwiesen an, dass er seine Frau vorsätzlich getötet hatte. 2011 werden Geschworenengerichte in der Schweiz abgeschafft. Bild: Walter Bieri/Keystone

Nun wird dem Tierarzt der Prozess gemacht, er beteuert nach wie vor seine Unschuld. Seine Befragung vor dem Zürcher Geschworenengericht erstreckt sich über Wochen, Bilkei verstrickt sich in die unglaublichsten Widersprüche. Staatsanwalt Pius Schmid präsentiert ein Indiz nach dem anderen, über hundert Zeugen äussern sich, und am Schluss bleiben keine Zweifel. Die Geschworenenrichter verurteilen den Tierarzt wegen vorsätzlicher Tötung zu vierzehn Jahren Freiheitsstrafe.

In einem sind sich alle Akteure im Gerichtssaal einig – Strafrichter, Staatsanwältinnen, Verteidiger und Gerichtsreporterinnen. Sie alle schwärmen von den Zeiten, als es noch Geschworenengerichte gab. Der gesamte Prozessstoff wird vor den Schranken präsentiert, Zeugen und Experten treten auf, Psychiater erläutern ihre Diagnosen, Tatwaffen werden präsentiert, Bilder des Tatorts auf die Leinwand projiziert, die vermuteten Tatabläufe nachskizziert und akribisch analysiert. Nur Fälle von Schwerkriminalität mit nichtgeständigen Beschuldigten kommen vor die Geschworenen; es sind Prozesse, wie man sie aus Filmen kennt. Jedermann im Saal wird in die Lage versetzt, nachzuvollziehen, wie die Justiz funktioniert: eine spannende und lehrreiche Institution.

Doch ab Januar 2011 ist Schluss damit: Die erste eidgenössische Strafprozessordnung tritt in Kraft, mit Regeln, die ein Geschworenengericht nicht mehr zulassen. Einzig der Kanton Tessin schafft es mit Kniffen, an den Geschworenen festzuhalten. In der übrigen Schweiz dominieren in Strafprozessen fortan Akten und Effizienz. Profiteure sind die Staatsanwälte – sie gewinnen massiv an Einfluss und Macht. Weit über neunzig Prozent aller Straffälle werden heute im Strafbefehlsverfahren abgewickelt, was bedeutet: Der Staatsanwalt untersucht, stellt den Strafantrag und formuliert gleich noch den Urteilsvorschlag, alles in Personalunion. Bleibt der Strafbefehl unangefochten, mutiert er zum Urteil – ohne dass sich je ein Richter über die Sache gebeugt hätte.

Der ordentliche Strafprozess wird zur Ausnahme. Seit 2011 dürfen in der Schweiz abgekürzte Verfahren durchgeführt werden: Das sind Deals zwischen Beschuldigten und Staatsanwalt, ausgehandelt hinter verschlossenen Türen. Der Beschuldigte gibt ein bisschen mehr zu, der Staatsanwalt untersucht ein bisschen weniger – Ende der Geschichte. Als Lohn für Geständnisse gibt es Strafrabatt. Der Richter hat beim abgekürzten Verfahren wenig zu sagen, nicht selten ist der Prozess schon nach fünfzehn Minuten beendet. Der Kinderpornograf, die Wirtschaftsdelinquentin und der Drogendealer marschieren zum Gerichtssaal hinaus, draussen vor der Türe warten schon die nächsten: Strafjustiz als Akkordarbeit im Minutentakt. Nur vereinzelt macht der Richter von der Möglichkeit Gebrauch, das abgekürzte Verfahren zurückzuweisen und einen ordentlichen Strafprozess zu starten. Also auf Effizienz zu pfeifen, einer gründlichen Aufarbeitung zuliebe.

Der Fall Friedrich Leibacher

Bis an die Zähne bewaffnet betritt am späten Morgen des 27. Septembers 2001 Friedrich Leibacher das Zuger Parlamentsgebäude, wo gerade der Kantonsrat tagt. Der 57-jährige Schweizer eröffnet ohne Vorwarnung das Feuer, feuert 91 Schüsse ab und zündet eine selbst gebastelte Bombe. Innert weniger Minuten sterben drei Regierungsräte sowie elf Parlamentarierinnen und Parlamentarier im Kugelhagel – Leibachers Hauptziel, ein Regierungsrat, bleibt hingegen unverletzt. Am Schluss erschiesst sich der Attentäter. Noch nie hat die Schweiz einen derartigen Anschlag erlebt, das Land steht unter Schock, es ist ein schwarzer September – das World-Trade-Center-Attentat in den USA ist erst ein paar Tage alt. Friedrich Leibacher ist im Kanton Zug als Justizschreck bekannt; er führt ein unstetes Leben, scheitert beruflich und privat, ist vorbestraft, wurde in eine Arbeitserziehungsanstalt gesteckt und sieht sich als Justizopfer. Der Attentäter hinterlässt in seinem Auto Flugblätter mit dem Titel «Tag des Zornes für die Zuger Mafia».

Das Ereignis hat sich ins kollektive Gedächnis der Schweiz eingebrannt: Am 27. September 2001 stürmt der Amokschütze Friedrich Leibacher ins Zuger Parlament und tötet mit dem Sturmgewehr 14 Parlamentarier, bevor er sich selbst richtet.Bild: Urs Flüeler/Keystone

Seit dem Zuger Attentat sind die Schweizer Amts- und Gerichtshäuser aufgerüstet worden, mit Sicherheitsschranken, Vereinzelungsanlagen, Panzerglas – die Zeiten sind vorbei, als man ohne Überwachung und Kontrollen in die Ämter spazieren konnte. Als besonders gefährdet gelten Sozialbehörden und Gerichte – also jene Orte, an denen Unzufriedene erwartet werden. Wer gegenüber Gerichtsangestellten oder Sozialarbeitern mit Gewalt droht, riskiert ein Strafverfahren und eine empfindliche Strafe – das ist Leibachers Erbe.

Für die Gerichtsreporter kommt eine unerfreuliche Nebenwirkung hinzu. Von einem Tag auf den anderen verschwinden die Gerichtscafeterias in abgesperrte Zonen. Eine Zumutung bei Verhandlungen, die von frühmorgens bis spätabends dauern, mit kurzen Pausen, die Chance für einen Gang ins Café lassen. Und wer schon einmal stundenlange Plädoyers und Befragungen vor Gericht miterlebt hat, der weiss: Ohne Koffein ist dies kaum anhörbar – die Konzentration sackt ins Bodenlose.

Die Ausnahme macht das Bundesgericht in Lausanne: Am höchsten Gericht dürfen sich zumindest die akkreditierten Journalisten weiterhin in der hauseigenen Cafeteria unter die Richterinnen und die Gerichtsschreiber mischen. Es kommt zu interessanten Gesprächen; aber nie dazu, dass die Journalisten hochgeheime richterliche Erörterungen belauschen und veröffentlichen, was in anderen Gerichten gern (ohne jeden Präzedenzfall) als Grund für die Verbannung aus den Cafeterias angeführt wird.

Der Kaffeeautomat ist aus dem Gerichtsalltag nicht wegzudenken. Unvergessen etwa der Swissair-Strafprozess in der Bülacher Stadthalle. Anfang 2007, ganz vorne im Saal, direkt vor dem Richterpodest, reihen sich die neunzehn Angeklagten auf, die damalige Chefetage und der SAirGroup-Verwaltungsrat in corpore, Schulter an Schulter mit ihrer Verteidigerschar, die Crème de la Crème der hiesigen Anwaltschaft. Hinter ihnen, mit gebührendem Abstand zur improvisierten Anklagebank und von Sicherheitsleuten scharf beobachtet, campieren die Gerichtsreporter: bewaffnet mit Sitzkissen, Energy-Drinks und Bananen.

Die Idee war, die Swissair-Führungsriege, die Monate später mit neunzehn Freisprüchen davonkommen soll, vor den Medien zu schützen. Der Plan scheitert schon am ersten Tag. Es gibt in der ganzen Stadthalle nur einen Kaffeeautomaten, und es kommt, wie es kommen muss: In jeder Pause stehen dort alle Schlange: Zuschauer, Reporter, Beschuldigte, Staatsanwälte und Verteidiger. Das Warten dauert lange, ist langweilig, also redet man, stellt Fragen, klärt Unklarheiten (davon gibt es zur Genüge), kommentiert den Prozess, hilft sich gegenseitig mit Kleingeld aus oder kämpft gegen den überforderten Automaten. Ganz offensichtlich leidet niemand unter der Durchmischung, im Gegenteil.

Der Fall Caroline H.

Sie gilt als die gefährlichste Strafgefangene der Schweiz. Im einzigen Schweizer Frauengefängnis, in Hindelbank, wird eigens für sie ein Hochsicherheitstrakt errichtet. Seit bald zwanzig Jahren sieht Caroline H. die Welt nur durch Fenstergitter, Maschendraht und Fernseher. Sie sei wie lebendig begraben, sagte ihr Anwalt schon vor Jahren, die Sicherheitsmassnahmen seien überrissen, bedrückend und grotesk. Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter gibt ihm recht. Nach einem Besuch in Hindelbank im Juni 2010 kritisiert die Kommission die strenge Isolationshaft – und spricht von menschenunwürdigen Bedingungen. Die Sicherheit sollte den realen Risiken angepasst werden. Seither bemüht sich die Anstaltsdirektion um kleine Erleichterungen. Caroline H. darf ab und zu mit anderen Insassinnen essen oder Pausen verbringen, den Spazierhof teilen. Der Höhepunkt ihres Lebens ist ein Time-out, das sie in einem Regionalgefängnis verbringt: einmal pro Jahr für ein paar Wochen eine andere Zelle, andere Gitter, Zäune und Mauern, andere Aufseher.

Das Zürcher Urania-Parkhaus, der Tatort von Caroline H.: Hier ermordet sie 1991 eine junge Frau. Heute gilt Caroline H. als die «gefährlichste Strafgefangene der Schweiz».Bild: Kurt Reichenbach

Caroline H. kämpft bis heute dafür, dass ihre Verwahrung in eine stationäre Massnahme umgewandelt wird, in die kleine Verwahrung – ebenfalls mit offenem Ende. Die Chancen dafür stehen schlecht. Die heute 45-jährige Österreicherin, aufgewachsen in der Innerschweiz, überfällt in den 1990er-Jahren in der Stadt Zürich drei Frauen; drei zufällig ausgewählte, ihr völlig unbekannte Opfer. 1991 ersticht sie im Parkhaus Urania eine junge Frau, die in der Stadt ihr Brautkleid abholen will, sechs Jahre später eine 61-jährige Passantin beim Chinagarten am Zürcher Seeufer. Nur ein Jahr später überfällt Caroline H. ihr drittes Opfer in der Zürcher Altstadt; die betagte Frau überlebt schwerverletzt. Das Obergericht verurteilt die Mehrfachmörderin 2001 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe und ordnet Verwahrung an.

Über die Parkhausmörderin, wie Caroline H. in den Medien genannt wird, sind Tausende von Seiten an gerichtlichen und psychiatrischen Einschätzungen verfasst worden. Die Gutachter sind sich über ihr Krankheitsbild nicht einig, die Auffassungen ändern sich alle paar Jahre: Die Rede ist, vereinfacht gesagt, von einer schweren Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und schizoiden Zügen.

Manchmal erhält Caroline H. Post von Insassen anderer Gefängnisse, doch sie will sich nicht für die Sache der Verwahrten einsetzen. Ihr eigenes Überleben frisst ihre gesamte Energie: Tag für Tag die Motivation finden, weiterzumachen, folgsam zu sein, nicht zu reklamieren, nicht zu widersprechen, keine Forderungen zu stellen (sie würde gern noch einmal ein Bier trinken). Sie frage sich manchmal, sagt sie vor Gericht, warum sie sich an all die Regeln halte, denn mehr einsperren könne man sie nicht.

In regelmässigen Abständen wird über den Vollzug der gefährlichsten Strafgefangenen der Schweiz diskutiert – mit Vorliebe darüber, was dies alles kostet: Unsummen. An Stammtischen kursiert dann die Idee, man solle solche Bestien in einen feuchten Kerker werfen und den Schlüssel weg, etwas anderes hätten solche Leute nicht verdient. Überhaupt könnten alle Schwerkriminellen froh sein, nicht an eine Wand gestellt zu werden. Der Gedanke, dass sich eine zivilisierte, rechtsstaatliche Gesellschaft auch gegenüber Mitgliedern korrekt und menschlich zu verhalten hat, die diese Regeln verletzen, und sich gerade dadurch vom Bösen abgrenzt, ist am Stammtisch kaum zu vermitteln.

Der Fall Alexander Müller

Das Interesse an diesem Strafprozess vor dem Bezirksgericht Uster ist ungewöhnlich gross – die Verhandlung muss per Video in einen zweiten Saal übertragen werden. Die Zuschauer strömen in Scharen herbei, ein halbes Dutzend Medienvertreter sind anwesend, und alle wollen hören, wie der Einzelrichter den inzwischen landesweit berühmten Kristallnacht-Tweet beurteilen wird. In einer Juninacht 2012 twittert Alexander Müller, damals noch SVP-Mitglied und Schulpfleger: «Vielleicht brauchen wir wieder eine Kristallnacht … diesmal für Moscheen.» Der Richter erkennt darin eine Verletzung der Rassismusstrafnorm, er spricht eine bedingte Geldstrafe aus, der Verurteilte zieht das Verdikt bis vor Bundesgericht – und unterliegt.

Sollte von den Medien zuerst nicht namentlich genannt werden dürfen: Der Zürcher Schulpfleger Alexander Müller, hier an einer Medienkonferenz am 27. Juni 2012, wird wegen seines rassistischen Tweets zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt. Bild: Walter Bieri/Keystone

Der Strafprozess gegen den Kristallnacht-Twitterer führt auf einem Nebengleis zur Stärkung der Medien gegenüber der Justiz. Der Einzelrichter in Strafsachen liest nämlich den verblüfften Journalisten zum Auftakt der Verhandlung eine ganze Reihe von Auflagen vor, die strikt einzuhalten seien – ansonsten drohe eine Busse von tausend Franken. Unter anderem wird den Reporterinnen verboten, den Namen, das Alter, den Wohnort und den Blog des Beschuldigten zu nennen – und dies, obwohl sich Müller vor dem Prozess schon mehrfach selbst an die Medien gewandt hat.

Zwei Medienhäuser lassen sich das Diktat nicht gefallen und fechten die Auflagen an, in Hinblick auf künftige Prozesse. Das Zürcher Obergericht anerkennt, dass die Journalisten den Namen und das Alter des Kristallnacht-Twitterers nennen dürfen; es handle sich bei Alexander Müller um eine relative Person der Zeitgeschichte. Doch erst das Bundesgericht rückt die Sache zurecht. Es stellt klipp und klar fest, dass den Journalisten an einem öffentlichen Prozess keine Auflagen gemacht werden dürfen, schon gar nicht kombiniert mit der Androhung einer Busse. Für beides fehlt in der Schweiz die gesetzliche Grundlage. Denn solche Auflagen würden die Gerichtsreporter schlechter stellen als das übrige Publikum, das ohne Einschränkungen über den Prozess berichten darf, beispielsweise auf Social Media. Die Strafprozessordnung sieht aber eine Privilegierung der Gerichtsberichterstatter vor.

Es ist nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass sich die Medien erfolgreich gegen Zensur und Einschränkungen wehren. Die Staatsanwaltschaften beispielsweise rücken ihre Strafbefehle erst heraus, seit dies Journalisten gerichtlich erkämpft haben. In einem weiteren Fall wenden sich vier Medienhäuser ans Bundesgericht, weil das Zürcher Obergericht in die Praxis der Geheim- und Kabinettsjustiz abzugleiten droht. Ausgerechnet in einem aufsehenerregenden Kriminalfall schliesst die Berufungsinstanz die Zuschauer und sämtliche Medienvertreter sowohl von der Verhandlung wie der Urteilseröffnung aus.

Vor Gericht stehen eine Ehefrau und ihr Liebhaber, die gemeinsam einen mörderischen Plan ausgeheckt haben. Der lästige Gatte soll aus dem Weg geräumt werden, und die Frau organisiert es. Sie schickt den ahnungslosen Ehemann an einem späten Januarabend 2013 auf die allabendliche Tour mit dem Familienhund und schärft ihm ein, nicht vor dem zweiten Bänkli umzukehren. Dort warten ihr Liebhaber und dessen Bruder. Die beiden Maskierten überfallen den Ehemann mit einem Messer und einem Armierungseisen, er überlebt mit viel Glück, schleppt sich nach Hause, wird notfallmässig operiert. Im ländlichen Pfäffikon führt der Überfall zu Spekulationen. Die Rede ist von Einbrecherbanden oder Drogenhändlern.

Bereits das Bezirksgericht Pfäffikon verhandelt den Fall unter Ausschluss der Öffentlichkeit, es spricht die Ehefrau, den Liebhaber sowie den Bruder wegen versuchter vorsätzlicher Tötung schuldig. Die Frau und der Liebhaber sind mit dem Urteil nicht zufrieden und gelangen vor Obergericht, das ebenfalls einen Geheimprozess durchführt – und die Urteile der Vorinstanz korrigiert. Das kriminelle Duo wird neu wegen versuchten Mordes schuldig gesprochen, die Freiheitsstrafen werden deutlich erhöht.

Auf die Beschwerde der vier Medienhäuser hin spricht das Bundesgericht von einem unzulässigen Fall von Kabinettsjustiz und betont die Bedeutung der Justizöffentlichkeit. Es gehe darum, so die Lausanner Instanz, Transparenz zu schaffen, das Vertrauen in die Gerichte zu fördern; beides sei von zentraler rechtsstaatlicher und demokratischer Bedeutung. Die Gerichtsreporter übten eine Brückenfunktion aus und nähmen eine wichtige Wächterrolle wahr: Sie sind die «public watchdogs», die Beobachter, die stundenlang hinten auf den Zuschauerbänken sitzen – zuhören, aufschreiben und das Geschehen in die Öffentlichkeit tragen.

Der Fall Carlos

Er ist der berühmteste Jugendstraftäter der Schweiz. Inzwischen ist er zwar längst erwachsen, aber mit der Strafjustiz gerät er immer noch in Konflikt. Im August 2013 schwappt eine Empörungswelle übers Land, weil bekannt wurde, wie viel Geld für den schwierigen Teenager mit dem beeindruckenden Vorstrafenregister aufgewendet wird – nur um ihn zurück zur Tugend zu führen. Carlos macht Ärger, seit er ein Bub ist. Er wächst in schwierigen Verhältnissen auf – doch das geht in der Empörung vergessen. Viel mehr interessiert das Sondersetting, das über zwanzigtausend Franken pro Monat kostet, der Unterricht in einem Thai-Box-Keller, ein Armani-Deo, seine Vorliebe für Rindfleisch – all das bringt die Leute zum Kochen, und zwar monatelang.

Sein Sondersetting sorgt für wochenlange Empörung – und macht Carlos, hier im Juli 2013 im Kickboxtraining, zum berühmtesten Jugendstraftäter der Schweiz. Bild: Jan Geerk

Der Jugendliche mit dem Pseudonym Carlos wird auf dem Höhepunkt der Hysterie aus dem Sondersetting gerissen und ins Gefängnis gesteckt, obwohl er sich davor tadellos und kooperativ verhalten hat; erstmals besteht die Hoffnung auf Besserung und Einsicht. Das Bundesgericht bezeichnet die Inhaftierung später als widerrechtlich. Dennoch wird Carlos wegen mehrfacher Sachbeschädigung verurteilt: weil er während der unzulässigen Haft ein paar Zellen demoliert hat. Zum Freispruch kommt es hingegen, was einen Streit an der Zürcher Langstrasse betrifft. Der damals knapp Volljährige soll einen Widersacher mit einem Messer bedroht haben – der Vorwurf lässt sich nicht erhärten.

Der Prozess findet Ende August 2015 vor dem Bezirksgericht Dietikon statt, erstmals ein öffentlicher Prozess gegen Carlos, das Medieninteresse ist ungeheuer. Gefasst und im karierten Hemd sitzt der junge muskulöse Mann vor dem Einzelrichter in Strafsachen, bestätigt, er sei zum Islam übergetreten, trinke seither keinen Alkohol mehr und lasse die Finger von Drogen. Bis zu diesem Verfahren sind sämtliche Strafen und Massnahmen gegen Carlos unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhängt worden – das gehört zu den Besonderheiten des Jugendstrafrechts und gleichzeitig zu dessen Problematik. Kaum einer versteht, wie mit schwierigen Jungs und Mädchen umgegangen wird, kaum einer nimmt zur Kenntnis, dass das hiesige Jugendstrafrecht bestens funktioniert, nimmt doch die Jugendkriminalität seit Jahren stetig ab. Keiner kommt also draus, aber alle regen sich auf und wissen es besser.

Das Jugendstrafrecht will die Jugend in erster Linie erziehen und erst in zweiter Linie bestrafen; Ersteres wird von den jungen Kriminellen als obermühsam, anstrengend und uncool empfunden. Einfacher wäre es, eine Strafe im Gefängnis abzusitzen, Striche an die Wand zu malen und genau zu wissen, wann sich die Türen wieder öffnen. Die jugendstrafrechtlichen Massnahmen jedoch können verlängert werden, bis der Jugendliche das 25. Altersjahr erreicht hat. Solche Feinheiten sind in der breiten Öffentlichkeit kaum zu vermitteln. Was eine Freiheitsstrafe oder ein Gefängnis ist, das versteht jeder, mit Begriffen wie Massnahme oder Sondersetting kann niemand etwas anfangen. Das riecht nach Kuscheljustiz, der Realität zum Trotz.

Auch die Verwahrung ist übrigens eine Massnahme und keine Strafe, es geht nicht um Vergeltung, sondern um Prävention und Gefahrenabwehr, also um den Blick in die Zukunft. Diese Ansprüche prägen heute die Strafjustiz: einsperren, solange auch nur eine theoretische Gefahr besteht. Doch vor lauter Vollkasko-Mentalität und Nullrisiko-Erwartung geht vergessen, dass auch die Gesellschaft ihre Rolle übernehmen müsste – was heisst: Strafgefangene nach geleisteter Sühne wieder aufnehmen, ihnen eine zweite oder gar dritte Chance gewähren, ihnen vergeben. Doch diesen Teil des Strafrechts verdrängen wir.

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