Wie die Energiewende gelingen kann

Wie kommt die Schweiz weg von den fossilen Energien? Drei aktuelle Strategien zeigen: Der Ausstieg ist technisch möglich – und günstiger als der Status quo.

Von Priscilla Imboden, 03.10.2023

Vorgelesen von Jonas Gygax
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Evelyn Dragan/Connected Archives

Zwar demonstrierten am letzten Samstag in Bern mehrere zehntausend Menschen für mehr Klimaschutz. Doch während das Klimathema im Wahljahr 2019 omnipräsent war und zu einer grünen Welle bei den Nationalrats­wahlen führte, spielt es dieses Jahr im Wahlkampf kaum eine Rolle.

Und das, obwohl die Schweiz gerade einen ungewöhnlich heissen und langen Sommer hinter sich hat. Doch Schlag­zeilen machen höchstens die Klima­kleberinnen – und jene, die sich über sie aufregen.

Müsste die Frage, wie die Schweiz aus der fossilen Energie aussteigen kann, nicht das Wahlkampf­thema sein?

Es gibt Politiker, die sich über Schlagworte hinaus damit auseinander­setzen. Einer davon ist der umtriebige Waadtländer SP-Nationalrat Roger Nordmann, der sich seit Jahren mit Energie- und Klimafragen beschäftigt. Eigentlich wollte er ein Argumentarium zum Thema schreiben. Entstanden ist aber viel mehr.

Nordmann recherchierte, traf Annahmen, rechnete, studierte neue Technologien. Und entwarf einen Plan, wie die Schweiz «rasch und gerecht» dekarbonisiert werden kann. Entstanden ist daraus nun ein ganzes Buch mit dem Titel «Klimaschutz und Energiesicherheit».

Nordmann entwickelt darin Überlegungen aus seinem ersten Buch zum Thema Energie­wende weiter. Das Werk ist halb Volks­schule, halb Planspiele für Expertinnen. Hier schreibt einer, der ein möglichst breites Publikum erreichen will: didaktisch, grundsätzlich, portioniert.

Doch auch für die Nerds gibt es darin genügend Stoff: Nordmann rechnet vor, wie viel Strom zusätzlich nötig ist, um den Verkehr zu dekarbonisieren, den Atomstrom zu ersetzen, das Heizen und die Industrie von fossilen Treibstoffen unabhängig zu machen. Er erklärt, woher die zusätzliche Elektrizität stammen soll: vor allem von der Sonne. Ein gigantischer Ausbau schwebt ihm vor, mit Solar­zellen auf allen Dächern und Fassaden, auf Infra­strukturen und mit frei stehenden Anlagen in den Bergen.

Unabhängiger und günstiger

Die neuen Energien, die Nordmann in Aussicht stellt, sind attraktiv und praktisch vollständig erneuerbar. Die Schweiz würde insgesamt weniger Energie benötigen als heute, da Wärme­pumpen und Elektro­fahrzeuge einen besseren Wirkungs­grad haben als fossil betriebene Heizungen und Verbrennungs­motoren. Und das Land hätte dann eine Energie­versorgung, die anders als heute weitgehend autark wäre. Heute bezieht die Schweiz 80 Prozent ihrer Energie­träger aus dem Ausland, indem sie Öl, Benzin und Gas importiert.

Durch den massiven Ausbau von Fotovoltaik würde im Sommer viel mehr Strom produziert, als im Inland verbraucht wird. Diesen Überschuss möchte Nordmann einsetzen, um Wasserstoff und andere Gase herzustellen und zu speichern. Im Winter, wenn die Fotovoltaik zu wenig Strom für den Eigen­bedarf liefert, könnte dieses Gas Turbinen antreiben, um Strom zu erzeugen. Ausserdem könnte es für Industrie­prozesse genutzt werden, die sehr hohe Temperaturen benötigen, die mit Strom nicht erreicht werden können.

Um in diese neue Energiewelt zu gelangen, braucht es ein Umdenken.

Nordmann, der bis vor kurzem die SP-Fraktion leitete, kommt zum Schluss, dass die Ziele selbst mit einem Ausbau der bisherigen Klima­massnahmen nicht erreicht werden können. Da gab es zum Beispiel den Versuch, fossile Energie mit Lenkungs­abgaben zu verteuern, um damit den Umstieg auf erneuerbare Energie zu beschleunigen. «Es ist eine Lebenslüge, dass man mit höheren Preisen die fossile Energie verdrängen kann», sagt der Energie­politiker. So sei die CO2-Abgabe an der Urne unter anderem an einem relativ geringen Benzin­aufschlag von 12 Rappen pro Liter gescheitert. Dabei wäre das noch nicht ausreichend gewesen, um eine Verhaltens­änderung herbei­zuführen. Zudem stellt Nordmann fest: «Wenn die Preise für fossile Energie steigen, belastet dies Arme viel stärker als Reiche. Das ist ungerecht.»

Sein Vorschlag: staatlich finanzierte Investitionen in Anlagen und in Effizienz­massnahmen, um das fossile Zeitalter abzuschliessen. «Der Vorteil von Energie­effizienz und erneuerbarer Energie ist, dass am Anfang Investitions­kosten anfallen, der Strom nachher praktisch gratis produziert wird und die eingesparte Kilowatt­stunde ebenfalls nichts mehr kostet.» Das bedeutet: Sobald die Investitionen getätigt sind, würde das gesamte System viel weniger kosten als heute.

Viel Geld nötig

In seinem Buch führt Nordmann auch detailliert aus, was die Energie­wende kosten dürfte. Er kommt auf 430 Milliarden Franken, über die kommenden 25 Jahre gerechnet. Das wären 17 Milliarden jährlich, was rund 2 bis 2,5 Prozent des Bruttoinland­produkts entspricht. Darin ist alles eingerechnet: Gebäude­sanierungen, Solar­anlagen, Ausbau von Strom­netzen, Batterien, Schnell­ladestationen für Elektro­fahrzeuge, Elektrolyseure für die Herstellung von Gas, Ausbildung von Fachspezialistinnen.

Hier kommt der Klimafonds ins Spiel, den SP und Grüne mit einer Initiative vorschlagen. Er soll die Hälfte der 430 Milliarden Franken finanzieren und so die Energie­wende beschleunigen. Der heutige Ausbaupfad führt in der Tat nicht weit: Um Nordmanns Plan umzusetzen, müssten jährlich dreimal so viele Solarenergie­anlagen installiert werden wie im letzten Jahr. Wie dieser Fonds gespeist werden soll, ist noch unklar. Nordmann will dafür Schulden machen: «Investitionen finanzieren sich selbst, weil das System dann effizienter und günstiger ist.»

Nordmann ist ein Technokrat, der an das Machbare glaubt. Gleichzeitig unterschlägt er nicht, wo es noch keine Lösung gibt: in der Landwirtschaft und vor allem bei der Fliegerei. «Die Luftfahrt ist ein ungelöstes Problem. Das sage ich auch klipp und klar und lege es auf den Tisch. Da kommen wir kurzfristig nicht darum herum, unser Verhalten zu ändern.» Er sagt es ungern, denn als Real­politiker liegt ihm das Moralisieren fern. Das sei mühsam und ausserdem wirkungslos.

Der Sozialdemokrat will Hoffnung geben und zum Handeln anregen. Er wolle «ein bisschen gegen die Endzeit­stimmung ankämpfen, die manchmal verbreitet wird». Zuversicht schöpft Nordmann aus der Tatsache, dass in den letzten Jahren viel passiert ist. Die Solar­energie wächst weltweit exponentiell, in der Schweiz werden dieses Jahr bereits 8 Prozent des Stroms solar erzeugt.

Der grünliberale Plan

Hier trifft sich Nordmann mit einem anderen Energie­politiker, der überzeugt ist, dass eine Zukunft ohne fossile Energien möglich ist: Jürg Grossen, Präsident der Grünliberalen. Auch er hat einen Plan entwickelt für die Energie­wende, die sogenannte «Roadmap Grossen».

«Ich habe aufbauend auf Nordmanns erstem Buch mein Konzept geschrieben», sagt der Berner Nationalrat und Ständerats­kandidat. Er habe es damals ergänzt mit der Idee, aus Solarstrom synthetische Gase und Treibstoffe zu erzeugen und damit das Problem des Strom­mangels im Winter zu lösen. Das sogenannte Power-to-X sei eine Technologie, die an der ETH entwickelt wurde. «Das sollten wir unbedingt fördern und nutzen und in die ganze Welt exportieren, wie früher, als Schweizer Firmen aufgrund der Erfahrung aus Projekten in der Schweiz Staudämme und Hochspannungs­leitungen in der ganzen Welt, etwa in China, bauten.»

Die «Roadmap Grossen» ist vergleichbar mit dem Plan von Roger Nordmann, setzt aber stärker auf Effizienz und weniger stark auf den Ausbau der Solarenergie – der Zubau müsste etwa zwei- statt dreimal so schnell erfolgen wie heute.

Um die Roadmap umzusetzen, setzt Grossen auf bereits bestehende klima- und energie­politische Massnahmen: Er fordert smart grids, mehr Förderung von Solarenergie, schärfere Abgas­regeln für Autos, weniger Bürokratie etwa bei Gebäude­sanierungen. Einen Kurswechsel hin zu einem Klimafonds als Investitions­förderung erachtet Grossen momentan nicht als nötig: «Das ist eine sozial­demokratische Forderung, die mich nicht überzeugt.»

Grossen sagt, seiner Erfahrung nach dauere es immer ein paar Jahre, bis die Veränderungen Fahrt aufnehmen würden. Dann gehe es plötzlich schnell: «Wir haben in den letzten zwei Jahren auf Gebäuden so viel Solarenergie zugebaut, wie die alpinen Anlagen im Optimalfall ab 2030 liefern sollen. Es passiert wirklich viel.» Und das auf der Basis der bisherigen Fördermittel. Mit dem neuen Gesetz zur Förderung der erneuerbaren Energie, das gerade vom Parlament fertig beraten wurde, setze die Schweiz nochmals einen Meilenstein. «Wir sollten die Wirkung dieser Neuerungen abwarten, bevor wir neue Ideen vorantreiben.»

Was taugen die Pläne?

Nordmann und Grossen sind die einzigen Parlaments­mitglieder, die Gesamt­strategien für die Energie­wende verfasst haben. Aber es gibt noch andere solche Szenarien. Die «Energie­perspektiven 2050+» des Bundesamts für Energie dienen als Grundlage für den Atomausstieg. Und letztes Jahr hat auch der Verband Schweizerischer Elektrizitäts­unternehmen mit der «Energie­zukunft 2050» einen Plan vorgelegt, dabei allerdings auf politische Forderungen verzichtet.

Mitverantwortlich dafür war Matthias Sulzer, leitender Wissenschaftler für Energie­systeme am Forschungs­institut für Material­wissenschaften und Technologie­entwicklung (Empa). Während zwei Jahren haben die rund 70 Beteiligten ein Modell aufgebaut, um verschiedene Szenarien zu simulieren: «Es berücksichtigt alles stündlich: Mobilität, Industrie, was in der EU geschieht.» Ziel sei es gewesen, unvoreingenommen zu sein, keine Technologie zu bevorzugen – und stets die günstigste Lösung zu präsentieren. Das wäre demnach eine, bei der die Bevölkerung offen ist für neue Anlagen und bei der die Integration in den EU-Strommarkt hoch ist.

«Die Quintessenz ist: Technisch können Sie das alles haben», sagt Sulzer. «Aber jede Lösung hat ein Preis­schild, je nachdem kostet sie zwei- bis dreimal mehr. Es ist eine gesellschaftliche und politische Frage, was Sie für Prioritäten haben.»

Nordmanns Plan, sagt Sulzer, könne auch in diese Szenarien «hinein­projiziert» werden und entspreche einer eher isolierten Lösung mit sehr starkem Zubau an Fotovoltaik. So müssten alle geeigneten Dächer, Fassaden, Parkplätze und einige Freiflächen für Solar­anlagen genutzt werden. «Da müssen Sie fast jeden einzelnen Hausbesitzer überzeugen, dass er eine Solaranlage baut. Das ist eine echte Heraus­forderung in einem demokratischen System.»

Nordmanns Berechnungen zur Dekarbonisierung der Industrie deckten sich bestens mit jenen der «Energie­zukunft 2050», sagt Sulzer. Weniger überzeugt ist er hingegen davon, grosse Mengen von lokal produziertem Sommer­strom in Wasserstoff zu verwandeln, um ihn im Winter einzusetzen. Das sei «eine romantische Idee», denn: «Die Elektrolyse-Anlage läuft in diesem Fall weniger als ein Drittel der Zeit. Das ist ein teurer Spass.» Deshalb setzen die «Energie­perspektiven 2050+» auf Wasserstoff­importe aus der EU. Allerdings ist die Schweiz noch ein weisser Fleck in der geplanten Wasserstoff­strategie der EU.

Auf Atomkraft setzt keine der aktuell debattierten Strategien. Das sei richtig so, sagt Sulzer: «Vor 2040 ist es nicht realistisch, dass es neue Reaktoren gibt, die weniger riskant sind und weniger Abfall produzieren.» Damit widerspricht er dem FDP-Präsidenten Thierry Burkart, der nicht müde wird, Atomkraftwerke zu fordern, im Gegensatz zu Energie­minister Albert Rösti, der neulich erklärte: «Diese Diskussion ist müssig – wenn nicht sogar kontraproduktiv.»

Generationen-Aufgabe

Das Beruhigende an den vielen Energie­szenarien, von denen einige auf dem Portal Axpo Power Switcher verglichen werden können: Sie kommen alle auf relativ ähnliche Schlüsse. Die Energie­wende ist technisch möglich – und das neue System kommt letztlich billiger als heute.

Diese längerfristigen Prognosen sollen als Leitsterne dienen, zeigen, in welche Richtung sich das Energie­versorgungs­system bewegen kann. «Wichtig ist, was in den nächsten zehn Jahren zugebaut wird», sagt Matthias Sulzer. Die Entwicklung werde sich ständig verändern, es kämen neue Prozesse, neue Anwendungen, neue Verbraucher hinzu. Das sei schon immer so gewesen.

Sulzer empfiehlt, mehr auf Sicht zu fahren und die ersten 20 Terawatt­stunden mit verfügbaren Technologien wie Fotovoltaik, Wind und Wasserkraft zuzubauen. Dann sehe man klarer. Und wenn es neblig bleibe, könne man immer noch die verschiedenen Szenarien aus der Schublade nehmen.

Vor allem aber muss es jetzt vorwärts­gehen. «Früher herrschte Pioniergeist», sagt Sulzer. «Heute hat jeder sein Partikular­interesse. Wir sind ein Land von Stopp-Sagern geworden. Wenn Sie schauen, was in den letzten zehn Jahren zugebaut wurde in der Schweiz im Vergleich zum Ausland: Schlusslicht!»

Das muss sich ändern, das sieht nicht nur Sulzer so: Denn sonst droht der Schweiz der Strom auszugehen, egal wie viele Szenarien es gibt.

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