Hilft nicht, wenn es Kritik hagelt: Wahlkampfmaterial der Grünen. Urs Flüeler/Keystone

Strategisch unbeholfen

Die Grünen gewinnen ein Referendum und demontieren sich dabei selbst. Das hätten sie kommen sehen müssen.

Eine Analyse von Elia Blülle, 19.09.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
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Vor rund einer Woche feierten die Grünen im Kanton Wallis einen äusserst seltenen Erfolg: Sie gewannen eine Abstimmung, die sie mit einem Referendum erzwungen hatten. Gemeinsam mit der SVP.

Nur: Der Erfolg an der Urne beerdigte ein Solar­dekret, das die Baubewilligungen für alpine Fotovoltaik­anlagen beschleunigt hätte.

Das Kantons­parlament hatte das Gesetz im Februar mit grosser Mehrheit gutgeheissen. Der Staatsrat wäre künftig als erste Instanz für Bau­genehmigungen zuständig geworden, die Kantons­regierung hätte anstelle der Bau­kommission die Genehmigungen für die alpinen Solar­anlagen erteilt. Im Falle einer Beschwerde wäre ausserdem die aufschiebende Wirkung ausser Kraft gesetzt worden. Das heisst, ein Projekt wäre bei einer Einsprache nicht automatisch gestoppt worden.

Etwas, das die Grünen doch eigentlich befürworten müssten.

Seither hagelt es Kritik: von links, von rechts, von den Grünliberalen.

Dabei hätte von Beginn an klar sein müssen: Wider­stand gegen den schnelleren Ausbau der Solar­energie – das kann nur schiefgehen.

Hätte sich ein PR-Berater Anfang Jahr überlegen müssen, wie man die Grünen desavouieren könnte, er wäre wohl kaum auf einen so teuflisch brillanten Plan gekommen. Umso bitterer, dass es den feindlichen PR-Berater gar nicht brauchte. Die Grünen demontieren sich gleich selbst.

Seit jeher fordert die Partei konsequent eine Energie­wende, setzt auf Fotovoltaik, wurde als Träumerin verlacht. Und jetzt, wo alle Parteien auf Sonnen­energie schwören, gelten die Grünen plötzlich als Bremserinnen.

«Die Grünen fantasieren über eine Zukunft, zu der sie nichts beitragen», sagte Peter Bodenmann, ehemaliger SP-Partei­präsident und mittlerweile inoffiziell oberster Alpen-Solar­lobbyist, dem «Tages-Anzeiger».

«Lichter löschen mit den Grünen», schreibt FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen auf X, früher Twitter. «Egal welche Energie­form, die Grünen sind sicher dagegen.»

Das Gezeter war absehbar. Es ist inhaltlich unfair, weil man den Grünen sicherlich am wenigsten vorwerfen kann, sie hätten die Klima­krisen und die daraus resultierenden Probleme für die Strom­versorgung nicht genug früh adressiert.

Auch gibt es gute inhaltliche Gründe, wieso die Grünen gemeinsam mit Pro Natura und weiteren Organisationen Unterschriften gegen die beschleunigten Solar­verfahren im Wallis gesammelt hatten und an der Urne gewannen. Natur- und Landschafts­schutz, Bio­diversität. Legitime Argumente, die trotz aller Dringlichkeit im demokratischen Disput Platz haben müssen.

Die Grünen-Ständerätin Lisa Mazzone sagte in einem Interview, im Wallis sei es den Grünen ums Verfahren gegangen. Das dürfe man nicht einfach aushebeln. Sonst verliere man die Bevölkerung: «Wir sind überhaupt nicht gegen Solar­anlagen in den Bergen. Man muss es einfach korrekt machen, wie in Bern und Graubünden, wo man sinnvolle Projekte priorisiert.»

In ihrer Agenda für die nächste Legislatur versprechen die Grünen, Verfahrens­hürden für den Bau von Solar­anlagen abzubauen, auch ausserhalb der Bauzonen. Sie weisen darauf hin, dass es mehr Strom benötigen wird als heute, um die Volks­wirtschaft zu elektrifizieren und aus den fossilen Energie­trägern auszusteigen. Und sie betonen, zu Recht, man müsse die Solar­anlagen auf und neben bestehender Infrastruktur bauen.

Die Grünen stehen nun aber vor einem kommunikativen Trümmer­haufen: Die Partei macht in allen Klima- und Energie­belangen Tempo, besteht aber auf «korrekten Verfahren» und will die Bevölkerung «mitnehmen». Damit klingt sie plötzlich wie die SVP und hat mit dem Walliser Referendum vor allem das beste Argument für neue Kern­kraftwerke geliefert.

Bereits als im nationalen Parlament über die Energie­offensive abgestimmt wurde, enthielten sich viele Grüne. Es ist eine Frage der Zeit, bis die FDP und auch Teile der Mitte wieder auf den Atom­kurs umschwenken, sollten die Grünen und Umwelt­verbände den vereinbarten Solar­express infrage stellen.

Die Grünen können sich rühmen, seit 30 Jahren vor der heutigen Krise zu warnen. Ihre Vertreter weisen auch bei jeder (wirklich jeder) Gelegenheit darauf hin. Nur: Recht zu haben, reicht in der Politik nicht.

Das gilt auch für jene bürgerlichen Politikerinnen, die sich nach wie vor gegen eine breite Solar­pflicht für Neubauten sträuben. Die Schweiz benötigt eine erneuerbare Strom­produktion – auf den Dächern, in den Alpen, auf Park­plätzen, an Auto­bahnen. Klammern sich aber alle Parteien und Interessen­organisationen an Dogmen fest, blockieren sie die Energie­wende.

Und dann werden sich auch all jene, die bisher die Atom­kraft stets ablehnten, fragen: Ist die Schweizer Energie­politik politisch dermassen fest­gefahren, dass sie letztlich – trotz hervor­ragender Bedingungen für Solar- und Wasser­kraft – ihren Winter­strom doch nur durch ökonomisch unrentable, aber einiger­massen zuverlässige Atom­kraftwerke produzieren kann?

Die Grünen hätten das kommen sehen müssen.

Seit der Abstimmung im Parlament zur Solar­offensive wussten sie, dass sie sich in einem kaum lösbaren Dilemma befinden: hartnäckiger Schutz der alpinen Landschaften oder schnelle grüne Energiewende?

Der Grünen-Nationalrat Bastien Girod verortete das Problem bereits im Februar bei der eigenen Kommunikation. Es müsse seiner Partei gelingen, bis zu den nationalen Wahlen ihr «komplettes Bild aufzuzeigen», sagte er: «Wir müssen wieder selbst­bewusster für eine natur­verträgliche Energie­wende einstehen.»

Das ist nicht gelungen.

In der öffentlichen Wahrnehmung schwanken die Grünen auch ein halbes Jahr später noch immer zwischen Solar­totaloffensive und vorsichtiger Zurück­haltung. Ja nicht an den falschen Orten, ja nicht überhastet.

Die Walliser Solar­abstimmung und das Referendum der Grünen zeigen paradigmatisch, was der Partei seit ihrem grossen Wahl­erfolg 2019 noch immer fehlt: politische und vor allem kommunikative Cleverness.

Journalisten und Politiker anderer Parteien werfen den Grünen gern vor, sie seien zu brav, zu nett, zu harmlos. Es fehle an Lautstärke, Aufmerksamkeit und Präsenz. Die Grünen sehen sich selbst als «grösste Oppositions­partei», wirken aber zuweilen wie ein zusammen­gewürfelter Haufen aus provinziellem Naturschutz­verein und staats­tragender Volkspartei.

Aber wieso ist das eigentlich so?

Die Politologin Sarah Bütikofer hat zusammen mit Werner Seitz ein Buch über die Schweizer Grünen heraus­gegeben. Sie sagt, die grüne Oppositions­kraft sei im Umwelt­bereich vor allem dann zu spüren, wenn es den Grünen gelinge, mit anderen eine Allianz zu bilden. Das sei bisweilen auch eine unheilige Allianz – wenn die Partei etwa gegen die bürgerliche Mitte mit der SVP zusammen­spanne, wie jüngst im Wallis.

Grundsätzlich sind die Grünen stark darin, Themen zu lancieren und Debatten zu führen. Im Parlament sind sie darauf angewiesen, dass andere Parteien ihre Politik und ihre Anliegen mittragen.

Das bedeutet: ständige Kompromisse.

Es ist das ewige Schicksal der Grünen: Je stärker die Partei im Parlament zu Kompromissen bereit ist und in Volks­abstimmungen in den Hintergrund tritt, desto besser sind die Erfolgs­chancen ihrer Anliegen. Bei der jüngsten Abstimmung zum Klimaschutz­gesetz war das augenscheinlich. Obwohl die Grünen im Parlament wesentlich am Gesetz und auch am Abstimmungs­kampf mitgewirkt hatten, waren ihre Vertreter in der öffentlichen Debatte nahezu unsichtbar.

Die beklagte Nettigkeit ist nicht die Schwäche der Grünen, sondern ihre Stärke. Als vergleichs­weise junge Klein­partei ist sie politisch erstaunlich erfolgreich. Sie sitzt in diversen Städten und Kantonen in der Regierung, gewann über die Jahre konstant neue Wählerinnen und ist im Ständerat vertreten, wo sie derzeit nur einen Sitz weniger hat als die SP. Wären die Grünen eine Krawall­partei, hätten sie es in der bürgerlichen Schweiz wohl niemals geschafft und würden kaum mehr existieren.

Das Problem liegt woanders: in der strategischen Unbeholfenheit.

Diese beginnt beim Partei­präsidium. Bereits nach der Frauen­wahl 2019, von der die Grünen extrem profitierten, hätten sie wieder eine Frau an ihre Spitze stellen sollen. Stattdessen entschieden sie sich für den intellektuell brillanten, aber rhetorisch gestelzten Nationalrat Balthasar Glättli.

Jetzt diskutiert Glättli mit fünf Männern auf Wahl­podien, wie zuletzt beim «grossen Streit­gespräch» von Tamedia zwischen den Partei­präsidenten.

Für eine Partei, die seit jeher für Gleich­stellung einsteht: ein Imagedesaster.

Strategisch unbeholfen agiert die Partei auch auf dem Weg zum angepeilten Bundesrats­sitz. Rein rechnerisch stand ihr ein solcher in den letzten vier Jahren zu. Sie konnte sich lange überlegen, ob sie die SP angreifen will. Und beschloss: nicht in dieser Legislatur.

Aber auch nach den Wahlen im Oktober wird keine Partei ihren Bundesrats­sitz abstauben, ein Schleifchen drum binden und ihn verschenken. Wollen sich die Grünen etablieren, brauchen sie einen Bundesrats­sitz. Auch wenn das bedeuten würde, jene Partei zu verärgern, die ihnen am nächsten steht.

Vor kurzem fragte ein Journalist Partei­präsident Glättli erneut, was er am Abend des Wahl­sonntags zum Thema Bundesrats­sitz sagen werde.

«Das kann ich jetzt nicht vorher­sagen», antwortete er. «Klar ist: Das Klima braucht einen Sitz im Bundesrat.»

Was soll das heissen? Von einer Partei, die sagt, wir müssten schneller handeln als je zuvor, erwartet man den unbedingten Willen, einen Unterschied zu machen, eine klare Ansage: Ja, wir wollen in die Regierung. Oder: Nein, wir wollen das nicht. Aber bestimmt kein verklausuliertes Jein.

Die Grünen müssen sich nicht in den Populismus stürzen und einfache Botschaften in die Debatten bolzen, wie das andere Polparteien tun. Aber eine klare Linie in grund­sätzlichen Fragen würde nicht schaden.

Denn die heutige Strategie der Grünen geht ganz offensichtlich nicht auf.

Als im Februar bei den kantonalen Zürcher Wahlen die Resultate verkündet wurden, schaltete ein Partei­funktionär den Fernseher stumm, rief zum veganen Apéro und sagte, man könne stolz sein auf die «gute Arbeit», die man geleistet habe.

Im Hintergrund, auf der Leinwand, blendete der Moderator derweil das Wahl­ergebnis ein.

Die Grünen verloren 3 Sitze. Jemand schaltete den Fernseher aus.

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