Binswanger

Wer zerstört das Vertrauen?

Die SVP fordert den Rücktritt von Alain Berset, die Geschäftsprüfungs­kommissionen lancieren eine Untersuchung. Doch bedroht wird die Schweizer Demokratie nicht durch Indiskretionen.

Von Daniel Binswanger, 28.01.2023

Vorgelesen von Regula Imboden
0:00 / 11:31

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Man fühlt sich an die Tage der Trump-Präsidentschaft erinnert. An das Spektakel von immer neuen, immer noch groteskeren Enthüllungen, an ergebnislose Untersuchungen von Sonder­ermittlern, an das alles dominierende Gefühl, die Polarisierung und Enthemmtheit der politischen Auseinander­setzung habe das amerikanische Staats­wesen irreversibel beschädigt.

Ganz so extrem wie in Washington geht es in Bern zwar noch nicht zu und her. Aber die sogenannte Corona-Leaks-Affäre setzt eine neue Bench­mark der Schäbigkeit. Und belegt auf beunruhigende Weise, dass es keine Institution mehr gibt in unserem Land, die nicht für macht­politische Intrigen missbraucht werden könnte. Es müssen nur die Einsätze gross genug sein. In diesem Wahl­jahr sind sie es.

Die Fakten­lage bei den Corona-Leaks ist nach wie vor verworren. Fest steht, dass Alain Bersets Kommunikations­chef Peter Lauener während der Corona-Zeit Marc Walder, den CEO des Medien­konzerns Ringier, mit Vorab­informationen zur bundes­rätlichen Pandemie­politik versorgt hat. Ob dies wirklich eine Amtsgeheimnis­verletzung im strafrechtlichen Sinn darstellt oder nicht, ist schon sehr viel weniger klar. Dass Bundes­rat Berset über die Aktionen seines Kommunikations­chefs informiert war, ist wahrscheinlich, kann bisher aber ebenfalls nicht belegt werden.

Offensichtlich scheint, dass die Indiskretionen eine Systematik und ein Ausmass hatten, das für hiesige Verhältnisse sehr unüblich ist. Allerdings kann niemand bestreiten, dass in der Pandemie­situation auch unübliche Verhältnisse herrschten: Alle Medien­häuser wurden von diversen Amts­stellen permanent mit Vorab­informationen gefüttert. Dass sich die rechts­bürgerliche Presse nun auf Berset und seinen Kommunikations­chef einschiesst, ist von schwer zu überbietender Verlogenheit. Noch immer gilt die bündige Formel, mit der Alt-FDP-Bundes­rat Pascal Couchepin die Leaks-Anfälligkeit der Schweizer Regierung auf den Begriff brachte: «Indiskretionen sind Teil des Systems.»

Was zerstört das Vertrauen in die Regierung? Moral­predigten mit Pinocchio-Nase. Wir sind gerade dabei, die Schweizer Demokratie sehr massiv zu beschädigen.

Die Straf­untersuchung von Sonder­ermittler Peter Marti, der mit äusserst harschen Methoden gegen Lauener vorgegangen ist, wirft vorder­hand viel mehr Fragen auf, als dass sie Antworten gibt. Das beginnt bei der absurden Tatsache, dass Teile dieser Straf­untersuchung über illegale Indiskretionen durch eine Indiskretion an die Öffentlichkeit gelangten, die vermutlich ihrerseits eine Amtsgeheimnis­verletzung darstellt.

Auf den Sonder­ermittler musste folglich ein weiterer Sonder­ermittler angesetzt werden, der nun abklären soll, wer die Akten zu den Berset-Leaks geleakt hat. Ganz zu schweigen von einem weiteren Sonder­ermittler, der mandatiert wurde, weil Peter Martis Straf­untersuchung juristisch dermassen unzulässig und missbräuchlich erscheint (oder nur überfordert und dilettantisch?), dass dem eidgenössischen Justiz­departement wenig anderes übrig blieb, als gegen Sonder­ermittler Marti eine zusätzliche Sonder­ermittlung wegen Amts­missbrauchs zu autorisieren.

Mit sehr viel gutem Willen mag man diese Kaskade von Sonder­ermittlern als Ausdruck der Gründlichkeit des helvetischen Justiz­wesens deuten. Aber es ist schwer, sich gegen den Eindruck zu wehren, sie sei die Folge einer Politisierung und Verluderung, der nicht mehr beizukommen ist. Eine Justiz, die sich nicht strikt an ihre Verfahrens­regeln hält und deren Amts­träger eine politische Agenda zu verfolgen scheinen, kann ihre Glaub­würdigkeit auch durch das Auftürmen von Sonder­verfahren nicht wieder­herstellen.

Je mehr Details zu Martis Untersuchung an die Öffentlichkeit geraten, desto erklärungs­bedürftiger erscheint jedenfalls die Vorgehens­weise des pensionierten Zürcher Ober­richters, den man für seine Rolle als Sonder­ermittler aus dem Ruhe­stand zurückgeholt hat. Es gibt nichts an diesen Sonder­untersuchungen, was von namhaften Juristen und Strafrechts­expertinnen nicht als zweifelhaft und problematisch bezeichnet würde: dass er seine Untersuchungen überhaupt aufnahm und so lange fortführte; dass er sie ausdehnte auf Verdächtige ausserhalb der Bundes­anwaltschaft, der seine Abklärungen hätten gelten sollen; dass eine Ausdehnung des Verfahrens, das den Crypto-Leaks gegolten hat, auf den «Beifang» der Corona-Leaks bewilligt wurde.

Noch nicht einmal, ob Marti die geleakten E-Mails von Peter Lauener für seine Straf­untersuchung überhaupt verwenden darf, das heisst, ob ihre Beschaffung zulässig gewesen ist, konnte bisher geklärt werden. Auch hier gibt es grösste Zweifel.

So weit die Seite der Straf­untersuchung. Sehr viel nach­vollziehbarer werden die Vorgänge jedoch, wenn man sie politisch betrachtet. Es ist nicht ganz einfach, an einen Zufall zu glauben: Was juristisch so befremdlich wirkt, wird plötzlich sinnfällig, wenn man es vor dem Hinter­grund der kommenden Wahlen betrachtet.

Die eidgenössischen Wahlen im nächsten Oktober könnten macht­politisch zum bedeutendsten Urnen­gang werden, seit 1959 die Zauber­formel durch­gesetzt wurde und die SP mit zwei Bundes­räten in die Regierung einzog. Im Oktober wird es darum gehen, ob die Sozial­demokraten einen dieser beiden Sitze wieder verlieren.

Die Grünen hätten schon heute einen Anspruch auf einen Sitz im Bundes­rat, und sollten sie bei den Parlaments­wahlen im Herbst nicht einbrechen, dürfte es zunehmend schwierig werden, diesen Anspruch zu ignorieren. Wenn der grüne Sitz kommt, muss er entweder auf Kosten der SP oder auf Kosten der FDP gehen. Dass die Mitte ihren Sitz abgeben muss, wäre ebenfalls denkbar und könnte dafür verantwortlich sein, dass sie sich gegenüber der Rats­rechten gelegentlich äusserst hand­zahm zeigt. Diese Variante steht momentan aber nicht im Vorder­grund.

Eine Regierung mit zwei SP-Bundes­rätinnen und einem von den Grünen würde einen fast revolutionären Links­rutsch darstellen. Eine Regierung mit je einem SP- und einem grünen Bundes­rat würde die Linke im Vergleich zur heutigen Situation hingegen deutlich schwächen. Es könnte im nächsten Herbst deshalb zu einer fundamentalen politischen Weichen­stellung kommen, welche über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte die Macht­verhältnisse bestimmt.

Allerdings wird es schwierig bis unmöglich werden, der SP einen Sitz wegzunehmen, solange ihre Bundesrätin oder ihr Bundesrat nicht zurück­tritt. Ist es eine blosse Koinzidenz, dass vor diesem Hinter­grund nun Justiz­intrigen, Leaks und Medien­kampagnen die Bericht­erstattung beherrschen? Auch die Geschäftsprüfungs­kommissionen wollen sich an dem Kessel­treiben beteiligen, obwohl ihr Mandat völlig unklar ist und ungewiss bleibt, wie ihre Untersuchung am Justiz­verfahren vorbei­kommen soll und zu welchen Akten oder Verdächtigen die Parlaments­vertreterinnen Zugang haben werden. Hauptsache, es werden irgendwelche Aktivitäten entfaltet.

Was immer Alain Berset potenziell beschädigt, scheint willkommen. Er muss weg, damit SVP und FDP ihre Bundesrats­mehrheit sichern können.

Die Intrigen um die Bundesrats­ersatzwahlen und die Departements­zuteilung haben uns bereits einen Vorgeschmack gegeben, mit welch harten Bandagen die Parteien den Kampf um ihre Regierungs­sitze austragen werden. Es dürfte weitergehen in diesem Stil.

Natürlich stellen sich nun eine ganze Reihe von Fragen: Warum überhaupt wird ausgerechnet Peter Marti, ein notorischer Hardliner und ehemaliger SVP-Kantonsrat, mit einer so explosiven Ermittlung betraut, die nicht nur skrupulöses Vorgehen, sondern Augen­mass erfordern würde? Lag es daran, dass er ursprünglich ja nur die Crypto-Leaks aufklären sollte und dass nicht voraus­zusehen war, auf welch delikates politisches Terrain er seinen Ermittlungs­furor tragen könnte?

Warum wurde es Marti von der Aufsichts­behörde der Bundes­anwaltschaft erlaubt, seine Untersuchungen auf die mit den Crypto-Leaks kaum verbundenen Corona-Leaks auszudehnen? Das Argument der Verfahrens­einheit scheint weitgehend an den Haaren herbeigezogen. Hat es vielleicht damit zu tun, dass die Aufsichts­behörde von der SVP-Richterin Alexia Heine präsidiert wird, der Frau von Alexander Segert?

Segert ist bekanntlich der Werber, der seit über zwanzig Jahren für die SVP-Plakat­kampagnen verantwortlich zeichnet, der Guru der rechts­populistischen Propaganda, ein professioneller Scharf­macher. Er pflegt auch vielfältige Beziehungen zu AfD und FPÖ, stand wegen Volks­verhetzung vor Gericht. Da ist die juristische Expertise seiner Ehe­frau sicher äusserst hilfreich gewesen. Aber braucht die Eid­genossenschaft allen Ernstes eine Justiz­aufsicht aus dieser Ecke?

Positiv ist zu vermerken, dass die Schweizer Medien ihren Job machen und dass Republik, WOZ und die Tamedia-Zeitungen über die Hinter­gründe nun schon so einiges zutage gebracht haben. Nicht überraschend ist, dass die rechts­bürgerlichen Publikationen – «Nebelspalter», «Weltwoche» – sich konsequent darum bemühen, Bersets Rücktritt wenn nicht zu fordern, so doch als beinahe unausweichlich darzustellen. Die NZZ belässt es dabei, «Aufklärung bis in den dunkelsten Winkel» zu fordern.

Eine Enttäuschung stellen nur die CH-Media-Titel dar, die sich unter Chef­redaktor Patrik Müller von biederen, aber gemässigten Publikationen mehr und mehr zum partei­politischen Sturm­geschütz entwickeln. Müller wirft sich in die Pose des um Aufklärung bemühten Journalisten, doch Aufklärung über den politischen Hintergrund der Affäre und darüber, weshalb die Lauener-E-Mails an ihn geleakt worden sind, scheint sein Anliegen nicht zu sein. Ob Leaks nun gut oder skandalös sind, hängt für Müller offensichtlich davon ab, wem sie schaden.

Nicht nur die Verhaftung von Peter Lauener war unverhältnis­mässig und für Schweizer Verhältnisse sehr, sehr ungewöhnlich. Die ganze Affäre belegt, dass die politische Auseinander­setzung in diesem Land mit neuer Härte geführt wird. Dass man ausser­ordentlich kreativ geworden ist darin, die Justiz gegen seine Gegner einzusetzen. Und dass nicht nur Vorab­informationen geleakt werden – sondern Dokumente, mit denen man den Gegner vernichten will.

Es wird ein hässliches Wahl­jahr werden. Wir stehen erst am Anfang.

Illustration: Alex Solman

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