Die Schwäche des Xi Jinping

Die Hybris und die Paranoia von Chinas starkem Mann bedrohen die Zukunft des Landes. Und sie könnten auch ihm selbst zum Verhängnis werden. Die Analyse einer Insiderin, die ins Exil ging.

Von Cai Xia (Text), Stephan Pörtner (Übersetzung) und Nigel Buchanan (Illustration), 12.10.2022

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Es ist noch nicht lange her, da ritt der chinesische Präsident Xi Jinping auf einer Erfolgs­welle. Er hatte seine Macht innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) gefestigt, er hatte sich offiziell auf dieselbe Stufe wie Mao Zedong erhoben und die Amtszeit­beschränkung abgeschafft, sodass er China für den Rest seines Lebens führen könnte. Er rühmte sich, im Inland grosse Fortschritte bei der Armuts­bekämpfung gemacht zu haben, und behauptete, im Ausland das internationale Ansehen Chinas auf ein neues Niveau gehoben zu haben. Für viele Chinesinnen war Xis Hardliner-Taktik der akzeptable Preis für die nationale Erneuerung des Riesen­reichs.

Nach aussen hin gibt sich Xi weiterhin selbst­bewusst. In Reden bezeichnet er China als «unbesiegbar». Doch hinter den Kulissen wird seine Macht mehr denn je infrage gestellt. Indem Xi Jinping Chinas lange Tradition der kollektiven Herrschaft über Bord warf und einen Personen­kult schuf, der an jenen um Mao erinnert, hat er Partei­insider gegen sich aufgebracht. Eine Reihe politischer Fehltritte hat selbst seine Anhängerinnen enttäuscht. Xis Rückzieher bei den Wirtschafts­reformen und seine ungeschickte Reaktion auf die Covid-19-Pandemie haben sein Image als Held der einfachen Leute erschüttert. Im Verborgenen schwelen Ressentiments der KPCh-Eliten. Ich konnte diese Hofintrigen lange Zeit aus der ersten Reihe verfolgen.

Zur Autorin

Cai Xia war während 15 Jahren Professorin an der Zentralen Partei­schule, wo sie an der Ausbildung hochrangiger Kader der Kommunistischen Partei Chinas beteiligt war, die heute Chinas Büro­kratie bilden. Während ihrer Tätigkeit an der Hochschule hat sie die Führungs­spitze der KPCh beim Aufbau der Partei beraten und tat dies auch nach ihrer Pensionierung 2012. Im Jahr 2020 wurde Cai Xia nach Kritik an Xi aus der Partei ausgeschlossen und gewarnt, dass ihre Sicherheit in Gefahr sei. Heute lebt sie im Exil in den USA, pflegt aber weiter Kontakt zu vielen ihrer Bekannten in China. Dieser Text erschien erstmals unter dem Titel «The Weakness of Xi Jinping» in der September/Oktober-Ausgabe des Magazins «Foreign Affairs».

Xi rechnet damit, dass er am 16. Oktober auf dem 20. nationalen Parteitag der KPCh für eine dritte fünf­jährige Amtszeit gewählt wird. Obwohl seine Kandidatur aufgrund der wachsenden Unzufriedenheit einiger Partei­kader nicht ganz unumstritten ist, wird er voraus­sichtlich erfolgreich sein. Doch dieser Erfolg wird weitere Turbulenzen mit sich bringen. Ermutigt durch die zusätzliche Amtszeit, die keinem seiner Vorgänger gewährt worden war, wird Xi Jinping seine Macht im Inland vermutlich noch weiter festigen und seine Ambitionen auf inter­nationaler Ebene steigern.

Je umfassender Xis Herrschaft wird, desto stärker werden die bereits schwelenden internen Kämpfe und Ressentiments. Die Rivalität zwischen den verschiedenen Fraktionen innerhalb der Partei wird intensiver, komplizierter und brutaler werden als je zuvor.

In diesem Fall könnte China in einen Teufels­kreis geraten, in dem Xi auf die empfundene Bedrohung mit immer schärferen Massnahmen reagiert, die wiederum noch mehr Gegenwehr auslösen. Gefangen in einer Echo­kammer und auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg, könnte Präsident Xi Jinping etwas äusserst Unüberlegtes tun wie zum Beispiel Taiwan angreifen.

Damit könnte er ruinieren, was sich China im Laufe von vier Jahrzehnten erarbeitet hat: den Ruf, über eine beständige, kompetente Führung zu verfügen. Genau genommen hat er diesen Ruf eigentlich bereits ruiniert.

Diese Analyse zeigt auf, wie Chinas Regime heute funktioniert. Und wie die Fehler des KPCh-General­sekretärs Xi Jinping Chinas Zukunft von innen bedrohen.


Inhaltsverzeichnis

  1. Die chinesische Mafia: Wie die KPCh funktioniert

  2. Teilen und herrschen: Wie ausgerechnet demokratische Reformen den Weg zu einem Allein­herrscher freimachten

  3. Zurück zur Einmann­partei: Wie Xi Jinping die Partei säuberte, gegen die Zivil­gesellschaft vorging und seine Macht sicherte

  4. Der Kaiser ohne Kleider: Wie Xi mit Sturheit, Dünn­häutigkeit, Kritik­unfähigkeit und Mikro­management seine eigene Macht untergräbt

  5. Mr. Wrong: Wie Xis Fehler China aussen­politisch und wirtschaftlich zurückwerfen – und seine Covid-19-Politik unnötig Tote verursacht

  6. Aktion, Reaktion: Wie Xi Jinping inzwischen Opposition sowohl von den Linken, den Zentristen und den Rechten in der KPCh widerfährt

  7. Weitere fünf Jahre? Wer Macht­haber Xi am Volks­kongress gefährlich werden könnte – und warum er die Wahl wohl trotzdem schafft

  8. Der entfesselte Xi Jinping: Warum erst ein Krieg gegen Taiwan das Ende seiner Herrschaft einleiten könnte


1. Die chinesische Mafia

Die KPCh hat sich in vielerlei Hinsicht kaum verändert, seit sie im Jahr 1949 die Macht übernommen hat. Nach wie vor übt die Einheits­partei die absolute Kontrolle über das Land aus, sie beherrscht das Militär, die Bürokratie und die von ihr eingesetzte Legislative. Die Partei­hierarchie wiederum untersteht dem Ständigen Ausschuss des Politbüros, dem obersten Entscheidungs­gremium Chinas. Der Ständige Ausschuss, der sich aus fünf bis neun Mit­gliedern des erweiterten Polit­büros zusammensetzt, wird vom General­sekretär der Partei, Chinas oberstem Führer, geleitet. Seit 2012 ist dies Xi.

Die genaue Arbeits­weise des Ständigen Ausschusses ist ein streng gehütetes Geheimnis, doch ist allgemein bekannt, dass viele Entscheidungen im Zirkular­verfahren getroffen werden; mit Dokumenten, die sich mit wichtigen politischen Fragen befassen, zu denen die Mitglieder des Ausschusses am Rand Kommentare anbringen. Die Papiere werden von führenden Köpfen in den Ministerien und anderen Partei­organen sowie von Spitzen­kräften der besten Universitäten und Denk­fabriken verfasst.

Zirkuliert ein Dokument unter den Mitgliedern des Ständigen Ausschusses, gilt dies als Auszeichnung für die Institution, in der die Autorin tätig ist. Zu meiner Zeit als Professorin setzte die Zentrale Parteischule eine Quote für die Erstellung solcher Dokumente fest, etwa eines pro Monat. Autoren, deren Memos vom Ausschuss gelesen wurden, erhielten umgerechnet etwa 1500 Dollar Belohnung – mehr als ein Monats­gehalt einer Professorin.

Ein weiteres Merkmal des Einparteien­systems ist konstant geblieben: die Bedeutung persönlicher Beziehungen. Für den Aufstieg in der Partei­hierarchie sind individuelle Beziehungen, der Ruf der Familie und der kommunistische Stamm­baum ebenso wichtig wie Kompetenz und Ideologie.

Die KPCh gleicht eher einer Mafia­organisation als einer politischen Partei. Das gilt insbesondere auch für Xi Jinpings Karriere.

Obwohl die chinesische Propaganda behauptet und westliche Analysten glauben, Xi sei aufgrund seines Talents aufgestiegen, ist das Gegenteil der Fall. Xi profitierte in hohem Masse von den Verbindungen seines Vaters Xi Zhongxun, ein Führungs­mitglied der KPCh mit tadellosen revolutionären Verdiensten, das unter Mao zwischenzeitlich als Propaganda­minister diente. Als Xi Jinping in den frühen 1980er-Jahren Kreispartei­chef in der nördlichen Provinz Hebei war, schrieb seine Mutter einen Brief an den Partei­chef der Provinz und bat ihn, sich für Xi Jinpings Aufstieg einzusetzen.

Dieser Beamte, Gao Yang, gab den Inhalt des Schreibens auf einer Sitzung des Ständigen Ausschusses der Provinz bekannt. Diese Enthüllung war für die Familie äusserst peinlich, da sie gegen die damals eingeleitete Kampagne der KPCh zur Bekämpfung von Günstlings­wirtschaft verstiess. (Xi hat ihm diesen Vorfall nie verziehen: Als Gao 2009 starb, nahm er demonstrativ nicht an dessen Beerdigung teil – ein Verstoss gegen die Gepflogenheiten, beide hatten als Vorsitzende der Zentralen Partei­schule gedient.) Ein solcher Skandal hätte die Karriere eines durchschnittlichen Nachwuchs­kaders ruiniert, aber Xis Beziehungen retteten ihn: Der Vater des Partei­chefs von Fujian war ein enger Vertrauter von Xis Vater gewesen. Die beiden Familien arrangierten seine Versetzung in diese Provinz, ein äusserst seltener Vorgang.

Auch danach stolperte Xi auf dem Weg nach oben. Obwohl er bei Kommunal­wahlen 1988 schlecht abgeschnitten hatte, wurde er von seinem Amt als stellvertretender Bürger­meister nicht abgesetzt, sondern wurde zum Partei­chef der Präfektur befördert. Jedoch blieb Xi aufgrund seiner mässigen Leistungen auf dieser Position stehen. Der Wechsel auf die Provinz­ebene stellt in der KPCh eine grosse Hürde dar, die Xi jahrelang nicht überwinden konnte.

Einmal mehr kamen familiäre Beziehungen zu Hilfe. Im Jahr 1992 wurde Xi in die Provinz­hauptstadt versetzt, nachdem seine Mutter ein Bittschreiben an den neuen Partei­vorsitzenden von Fujian, Jia Qinglin, gerichtet hatte. Von diesem Zeitpunkt an nahm Xis Karriere Fahrt auf.

Bekanntlich muss man, um in der KPCh aufzusteigen, die Gunst eines höher­gestellten Vorgesetzten erwerben. Im Fall von Xi war das einfach, da sein Vater bei vielen Partei­führern in hohem Ansehen stand. Sein erster und wichtigster Mentor war Geng Biao, ein hochrangiger Beamter im diplomatischen und militärischen Dienst, der einst für Xis Vater gearbeitet hatte. Bereits im Jahr 1979 stellte er den jungen Xi als Sekretär ein.

Der Einfluss solcher Förderer zu Beginn der Karriere hat Auswirkungen auf die nach­folgenden Jahrzehnte. Hochrangige Beamte verfügen jeweils über eigene «Linien», wie Insider diese Gruppen von Schützlingen nennen, die de facto Fraktionen innerhalb der KPCh bilden. Die als ideologische und politische Debatten bezeichneten Auseinander­setzungen innerhalb der KPCh sind in Wirklichkeit oft etwas viel Banaleres, nämlich Macht­kämpfe zwischen den verschiedenen Linien. Ein solches System kann mitunter zu verworrenen Netzen persönlicher Loyalität führen. Fällt der eigene Mentor in Ungnade, ist dies beruflich gesehen vergleichbar mit dem Verlust der Eltern.

Für Aussen­stehende mag es tatsächlich hilfreich sein, sich die KPCh eher als Mafia­organisation denn als politische Partei vorzustellen. Das Oberhaupt der Partei ist der Don, und unter ihm sitzen die Unterbosse im Ständigen Ausschuss. Diese Männer teilen sich traditionell die Macht, wobei jeder für einen gewissen Bereich zuständig ist – Aussen­politik, Wirtschaft, Personal und so weiter. Sie fungieren auch als consiglieri des Bosses und beraten ihn in ihren jeweiligen Zuständigkeits­bereichen.

Neben dem Ständigen Ausschuss gibt es noch weitere achtzehn Mitglieder des Politbüros, die als Nächstes in den Ständigen Ausschuss nachrücken können. Sie sind so etwas wie die capos der Mafia, die Xis Befehle ausführen, um wahrgenommen zu werden und mögliche Bedrohungen auszuschalten, in der Hoffnung, die Gunst des Dons zu gewinnen. Als Bonus dürfen sie sich nach Gut­dünken bereichern und ohne Strafe Eigentum und Unternehmen beschlag­nahmen. Wie die Mafia nutzt die Partei rohe Methoden, um zu bekommen, was sie will: Bestechung, Erpressung und selbst Gewalt.


2. Teilen und herrschen

Die Macht der persönlichen Beziehungen und die Flexibilität der formalen Regeln sind seit der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas konstant geblieben. Eines aber hat sich im Laufe der Zeit verändert: das Ausmass, in dem die Macht in den Händen eines einzigen Mannes konzentriert ist.

Ab Mitte der 1960er-Jahre hatte Mao die absolute Kontrolle und das letzte Wort in allen Angelegenheiten, auch wenn er seine Macht nur episodisch ausübte und offiziell nur der Erste unter Gleichen war. Doch als Deng Xiaoping 1978 de facto die Führung Chinas übernahm, machte er sich daran, die lebenslange Einmann­diktatur Maos aufzulösen.

Deng beschränkte Chinas Präsidentschaft auf zwei fünfjährige Amtszeiten und führte eine kollektive Führung ein, die es anderen Funktionären – zuerst Hu Yaobang und dann Zhao Ziyang – erlaubte, als Partei­chef zu dienen, auch wenn er die Macht hinter dem Thron blieb. 1987 beschloss die KPCh, das Verfahren zur Auswahl der Mitglieder des Zentral­komitees zu reformieren, des nominellen Oberhaupts der Partei und des Gremiums, aus dem die Mitglieder des Politbüros gewählt werden. Zum ersten Mal schlug die Partei mehr Kandidaten vor, als es Sitze gab – kaum eine demokratische Wahl, aber ein Schritt in die richtige Richtung. (Erwähnens­wert ist hier, dass Xi die Wahl ins Zentral­komitee 1997 nur knapp schaffte. Er hatte die wenigsten Stimmen von allen, die für den Beitritt ausgewählt wurden, was eine allgemeine Abneigung innerhalb der Partei gegen «Prinzen» widerspiegelt – Nachkommen führender KPCh-Mitglieder, die mehr durch Vettern­wirtschaft denn durch eigene Verdienste aufgestiegen sind.)

In seinem Bestreben, einen Personen­kult um Führungs­kräfte zu verhindern, versuchte Deng, eine Neu­auflage der katastrophalen Kultur­revolution zu vermeiden, die unter Mao zwischen 1966 und 1976 Millionen Tote forderte. 1982 ging die chinesische Führung so weit, das Verbot des Personen­kults in die Partei­verfassung aufzunehmen. Doch auch Deng war nur bis zu einem gewissen Grad bereit, die Macht zu teilen, und er drängte die Partei­chefs Hu und Zhao aus dem Amt, als sie sich als politisch zu liberal erwiesen.

Dengs Nachfolger, Jiang Zemin, vertiefte die politischen Reformen. Jiang institutionalisierte seine Berater­truppe als eine Art Geschäfts­leitung. Er holte den Rat aller Mitglieder des Ständigen Ausschusses ein, der nun mit einfacher Mehrheit entschied, und liess die Entwürfe seiner Reden auf breiter Basis zirkulieren. Jiang machte die Wahl ins Zentral­komitee schwieriger, indem er die Zahl der Kandidatinnen für die verfügbaren Sitze erhöhte. Selbst Prinzen, darunter einer von Dengs Söhnen, verloren ihre Wahl.

Als Hu Jintao 2002 die Nachfolge Jiangs antrat, ging China noch weiter in Richtung kollektiver Führung. Hu regierte mit der Zustimmung der neun Mitglieder des Ständigen Ausschusses, einer Clique, die als «die neun Drachen, die das Wasser kontrollieren» bekannt wurde.

Dieser egalitäre Ansatz hatte allerdings auch seine Schatten­seiten. Jedes Mitglied des Ständigen Ausschusses konnte gegen jeglichen Beschluss ein Veto einlegen, was dazu führte, dass Hu als schwache Führungs­persönlichkeit wahrgenommen wurde, die nicht in der Lage war, Blockaden zu überwinden. Die unter Deng begonnenen Wirtschafts­reformen gerieten fast ein Jahrzehnt lang ins Stocken.

Es gab aber auch Vorteile, denn die Notwendigkeit eines Konsenses verhinderte unbedachte Entscheidungen. Als beispielsweise im ersten Jahr seiner Amtszeit in China die Lungen­krankheit Sars ausbrach, handelte Hu umsichtig: Er entliess den chinesischen Gesundheits­minister, weil dieser das Ausmass des Ausbruchs vertuscht hatte, und ermutigte die Kader, Infektionen wahrheits­gemäss zu melden.

Hu bemühte sich auch um die Ausweitung von Amtszeit­beschränkungen. Bei dem Versuch, Beschränkungen für die Mitglieder des Polit­büros und des Ständigen Ausschusses einzuführen, stiess er auf Widerstand, doch es gelang ihm, sie auf der Ebene der Provinz­minister und darunter einzuführen. Noch erfolgreicher war, dass Hu ein bislang unbekanntes Verfahren einführte, bei dem die Zusammen­setzung des Polit­büros zuerst durch ein Votum unter führenden Partei­mitgliedern bestimmt wurde.

Ironischerweise war es dieses quasidemokratische System, das Xi an die Spitze der Macht brachte. Im Jahr 2007 versammelten sich auf einer erweiterten Sitzung des Zentral­komitees die rund 400 Spitzen­politiker der KPCh in Peking, um darüber abzustimmen, welche Ministerial­beamtinnen aus einer Liste von 200 in das 25-köpfige Polit­büro aufgenommen werden sollten.

Xi erhielt die meisten Stimmen. Dabei gaben kaum seine Leistungen als Partei­chef von Zhejiang oder Shanghai den Ausschlag, sondern der Respekt, den die Wähler seinem Vater entgegen­brachten, sowie die Unterstützung (und der Druck) einiger Partei­grössen.

Bei einer ähnlichen konsultativen Wahl fünf Jahre später erhielt Xi erneut die meisten Stimmen und stieg im Einvernehmen mit den scheidenden Partei­führern an die Spitze der Pyramide auf. Er machte sich rasch an die Arbeit und begann, die jahrzehnte­langen Fortschritte bei der kollektiven Führung rückgängig zu machen.


3. Zurück zur Einmann­partei

Als Xi Jinping an die Macht kam, feierten ihn viele im Westen als einen chinesischen Michail Gorbatschow. Manche glaubten, dass Xi ähnlich wie der letzte Staats­chef der Sowjetunion radikale Reformen einleiten, die Wirtschaft aus dem Griff des Staates befreien und das politische System demokratisieren würde. Dies entpuppte sich als reines Wunsch­denken.

Stattdessen hat Xi, ein eifriger Schüler Maos und ebenso begierig darauf, der Geschichte seinen Stempel aufzudrücken, an der Festigung seiner absoluten Macht gearbeitet. Da die früheren Reformen das Ziel verfehlt hatten, den Partei­vorsitzenden in Schach zu halten, ist ihm dies gelungen.

Heute ist China, wie einst unter Mao, eine One-Man-Show.

Teil von Xis Plan zur Konsolidierung der Macht war es, das zu meistern, was er als ideologische Krise bezeichnete. Er sah im Internet eine existenzielle Bedrohung für die KPCh, da die Partei dadurch die Kontrolle über die Köpfe der Menschen verloren habe. Deshalb ging Xi hart gegen Blogger und Online-Aktivisten vor, er zensierte abweichende Meinungen und baute Chinas «grosse Firewall» aus, um den Zugang zu ausländischen Websites einzuschränken. Das Ergebnis war das Abwürgen der aufkeimenden Zivil­gesellschaft und das Ausschalten der öffentlichen Meinung.

Als nächsten Schritt startete er eine Anti-Korruptions-Kampagne, die er als Mission zur Rettung der Partei vor ihrer Selbst­zerstörung darstellte. Da Korruption in China allgegenwärtig ist und fast jede Beamtin ein potenzielles Ziel war, konnte Xi die Kampagne zur politischen Säuberung nutzen. Laut offiziellen Angaben ermittelte die KPCh von Dezember 2012 bis Juni 2021 gegen 393 führende Kader von der Ebene der Provinzial- und Ministerial­beamten an aufwärts, also gegen Beamtinnen, die häufig auf Spitzen­positionen vorbereitet wurden, sowie gegen 631’000 Kader auf Sektions­ebene, also gegen Fuss­soldaten, welche die Politik der KPCh an der Basis umsetzen.

Die Säuberung betraf einige der höchsten Funktionäre, die Xi als Bedrohung ansah, darunter Zhou Yongkang, ein ehemaliges Mitglied des Ständigen Ausschusses und Leiter des Sicherheits­apparats, sowie Sun Zhengcai, ein Mitglied des Polit­büros, das viele als Rivalen und potenziellen Nachfolger von Xi betrachteten.

Bezeichnenderweise wurden jene, die Xi zu seinem Aufstieg verholfen hatten, nicht angetastet. Jia Qinglin, der in den 1990er-Jahren Partei­chef von Fujian und schliesslich Mitglied des Ständigen Ausschusses war, unterstützte Xi bei seinem Weg an die Macht. Obwohl es Anhalts­punkte dafür gibt, dass er und seine Familie äusserst korrupt sind – die «Panama Papers» enthüllten, dass seine Enkelin und sein Schwieger­sohn mehrere geheime Offshore-Firmen besitzen –, wurden sie nicht von Xis Anti-Korruptions-Kampagne erfasst.

Xis Taktik ist nicht besonders subtil. So erfuhr ich von einem Partei-Insider, dessen Namen ich nicht nennen kann, dass Xis Männer um 2014 einem hochrangigen Beamten, der Xi offen kritisiert hatte, mit einer Korruptions­untersuchung drohten, wenn er nicht Ruhe gebe. Der Mann verstummte.

Um ihre Ziele zu erreichen, setzen Xis Untergebene oft Familien­mitglieder und Mitarbeitende unter Druck. Wang Min, Partei­vorsitzender der Provinz Liaoning, den ich seit unserer gemein­samen Studienzeit an der Zentralen Partei­schule kenne, wurde 2016 aufgrund der Aussagen seines Chauffeurs verhaftet. Dieser sagte aus, Wang habe sich während einer Autofahrt bei seinem Mitfahrer darüber beschwert, dass er bei Beförderungen übergangen worden sei. Wang wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, wobei einer der Anklage­punkte Widerstand gegen Xis Führung lautete.

Nachdem Xi seine Konkurrenten aus Schlüssel­positionen verdrängt hatte, setzte er seine eigenen Leute auf diese Posten. Innerhalb der Partei wird Xis Linie als die «neue Zhijiang-Armee» bezeichnet. Ihre Mitglieder sind ehe­malige Untergebene aus seiner Zeit als Gouverneur der Provinzen Fujian und Zhejiang und sogar Kommilitoninnen oder alte Freunde aus der Mittelschule.

Seit der Macht­übernahme hat Xi seine Getreuen rasch befördert, oft über deren Fähigkeiten hinaus. Sein Zimmer­genosse an der Tsinghua-Universität, Chen Xi, wurde zum Leiter der Organisations­abteilung der KPCh ernannt, eine Position, die einen Sitz im Polit­büro und die Entscheidungs­gewalt mit sich bringt, wer in der Hierarchie aufsteigen darf. Chen verfügt allerdings über keinerlei einschlägige Qualifikationen: Seine fünf unmittelbaren Vorgänger hatten Erfahrung in kommunalen Partei­angelegenheiten, während er fast seine gesamte Karriere an der Tsinghua-Universität verbracht hat.

Auch eine andere wichtige Reform hat Xi rückgängig gemacht: die «Trennung von Partei und Staat», mit der die Einmischung ideologisch geprägter Partei­kader in technische und organisatorische Entscheidungen der Behörden eingeschränkt werden sollte. Deng und seine Nachfolger versuchten mit unterschiedlichem Erfolg, die Bürokratie von der Einmischung durch die KPCh abzuschirmen, um die Verwaltung zu professionalisieren. Xi machte einen Schritt zurück und führte rund 40 Ad-hoc-Partei­kommissionen ein, die faktisch die Regierungs­behörden leiten. Darunter ein eigenes Team, das sich mit der Problematik des Süd­chinesischen Meeres befasst, unter Umgehung des Aussen­ministeriums und der staatlichen Meeres­behörde.

Durch den Einsatz dieser Kommissionen hat der chinesische Regierungs­vorsitzende, Minister­präsident Li Keqiang, erheblich an Macht eingebüsst, sodass aus dem einstigen Mitregenten ein Hand­langer wurde. Dieser Wandel zeigt sich in der Art und Weise, wie Li in der Öffentlichkeit auftritt. Während seine beiden unmittelbaren Vorgänger, Zhu Rongji und Wen Jiabao, Seite an Seite mit Jiang beziehungsweise Hu standen, hält Li bewusst Abstand zu Xi.

Auch die Dynamik innerhalb des Ständigen Ausschusses hat Xi verändert. Zum ersten Mal in der Geschichte der KPCh müssen alle Politbüro­mitglieder, selbst die Mitglieder des Ständigen Ausschusses, dem Partei­chef direkt Bericht erstatten, der ihre Leistungen persönlich beurteilt. Mit der früher herrschenden Kameradschaft und annähernden Gleichheit unter den Mitgliedern des Ständigen Ausschusses ist es vorbei. Ein ehemaliger Beamter in Peking erzählte mir, dass eines der sieben Mitglieder des Ausschusses, Wang Qishan, Chinas Vize­präsident und langjähriger Verbündeter von Xi, Freunden gegenüber geäussert haben soll, dass die Beziehung von Xi zu den weniger wichtigen Mitgliedern der eines Kaisers zu seinen Ministern gleiche.

Die unverfrorenste von Xis Massnahmen war schliesslich die Aufhebung der Amtszeit­beschränkung für den chinesischen Staats­präsidenten.

Wie jeder grosse Führer seit Jiang hat Xi drei Ämter gleichzeitig inne: Präsident Chinas, Partei­chef und Armee­chef. Die Begrenzung der Amtszeit auf zwei Fünfjahres­perioden galt zwar nur für das erste dieser drei Ämter, aber seit Hu herrschte die Auffassung, dass sie auch für die beiden anderen Ämter gelten müsse, damit ein und dieselbe Person alle drei Ämter innehaben kann.

Im Jahr 2018 änderte die chinesische Legislative jedoch auf Xis Geheiss die Verfassung, um die Amtszeit­begrenzung für den Präsidenten abzuschaffen. Die Begründung war lächerlich. Das angebliche Ziel war, das Präsidenten­amt mit den Partei- und Militär­positionen in Einklang zu bringen; wobei die naheliegende Reform im Gegenteil bestanden hätte, nämlich in der Einführung von Amtszeit­beschränkungen für alle drei Positionen.

Und dann ist da noch der Personen­kult. Obwohl das Verbot eines solchen Kultes in der Partei­verfassung verankert ist, fordern Xi und seine Mitarbeitenden ein Mass an Loyalität und Bewunderung für den Führer, das es seit Mao nicht mehr gegeben hat. Seit 2016, als Xi zum «Kernführer» der Partei erklärt wurde (eine Bezeichnung, die seinem Vorgänger Hu nie zuteilwurde), stellt sich Xi in offiziellen Porträts vor die Mitglieder des Ständigen Aus­schusses. Ganz im Stile Maos hängen seine Porträts überall, in Regierungs­büros, Schulen, Kult­stätten und Wohnungen.

Nach Angaben von Radio France Internationale haben Xis Leute vorgeschlagen, die Tsinghua-Universität, seine Alma Mater und Chinas beste Hoch­schule, in Xi-Jinping-Universität umzubenennen. Sie haben sogar dafür geworben, sein Bild neben dem von Mao auf dem Platz des Himmlischen Friedens aufzuhängen. Auch wenn diese Ideen nicht umgesetzt wurden, gelang es Xi im Jahr 2017, seine persönliche Ideologie in der Partei­verfassung zu verankern.

Damit ist Xi Jinping neben Mao der einzige Staats­chef, dessen Ideologie während seiner Amtszeit in das Dokument aufgenommen wurde – und im Jahr darauf in die Staats­verfassung. In einem Artikel, der 2017 in «Xinhua», dem staatlichen Presseorgan, veröffentlicht wurde, krönte ein Propagandist Xi mit sieben neuen, an Nordkorea gemahnenden Titeln, die seine Vorgänger nach der Mao-Zeit zum Erröten gebracht hätten: «bahn­brechender Führer», «unermüdlicher Arbeiter für das Wohl des Volkes», «Chef­architekt der Modernisierung in der neuen Ära» und so weiter.

Innerhalb der Partei führt Xis Linie eine erbitterte Kampagne, die darauf drängt, dass er an der Macht bleiben darf, um zu Ende zu bringen, was er begonnen hat: nämlich «die grosse Wieder­belebung der chinesischen Nation». Während die Anstrengungen verstärkt werden, wird die Botschaft vereinfacht. Im April schlugen Partei­funktionäre in Guangxi einen neuen Slogan vor: «Unterstützt stets den Führer, verteidigt den Führer und folgt dem Führer». In Anlehnung an Maos «kleines rotes Buch» gaben sie zudem eine Sammlung von Xi-Zitaten im Taschen­format heraus und forderten die Bürger auf, deren Inhalt auswendig zu lernen. Xi positioniert sich nicht nur als grosser Partei­führer, sondern als moderner Kaiser.


4. Der Kaiser ohne Kleider

In einem System, das sich auf eine einzige Führungs­persönlichkeit konzentriert, spielen die Schwächen und Eigenheiten dieser Person eine umso grössere Rolle. In Xis Fall ist der Führer dünnhäutig, stur und diktatorisch.

Diese Eigenschaften zeigten sich schon vor seinem Amts­antritt. So wurde Xi im Jahr 2008 Präsident der Zentralen Partei­schule, an der ich unterrichtete. Auf einer Fakultäts­sitzung im darauf­folgenden Jahr überbrachte der zweit­höchste Beamte der Schule Xis Drohung an die Lehrkräfte, dass er ihnen «niemals erlauben würde, von der Reis­schüssel der Partei zu essen, während sie versuchen, den Koch­topf der Partei zu zerschlagen» – damit meinte er, dass sie von der Regierung bezahlt wurden, während sie unterschwellig das System kritisierten.

Empört über Xis absurde Vorstellung, dass der Staat von der Partei und nicht von den chinesischen Steuer­zahlern finanziert würde, meldete ich mich von meinem Platz aus zu Wort. «Aus wessen Reis­schüssel isst die Kommunistische Partei?», fragte ich laut. «Die Kommunistische Partei isst aus der Reis­schüssel des Volkes und zerschlägt täglich dessen Koch­topf.» Niemand zeigte mich an, meine Mitprofessorinnen stimmten mir zu.

Einmal im Amt, zeigte sich Xi unwillig, Kritik zu erdulden. Er nutzt die Sitzungen des Ständigen Ausschusses und des Polit­büros nicht dazu, politische Strategien auszuarbeiten, sondern um stundenlange Monologe zu halten. Offiziellen Angaben zufolge berief er zwischen November 2012 und Februar 2022 achtzig «gemeinsame Studien­sitzungen» ein, in denen er sich vor dem Politbüro ausführlich zu einem bestimmten Thema äusserte.

Er lehnt alle Vorschläge von Untergebenen ab, von denen er befürchtet, dass sie ihn schlecht aussehen lassen könnten. Laut einem alten Freund von Wang Qishan, der als Mitglied des Ständigen Ausschusses während Xis erster Amtszeit zum inneren Kreis gehörte, schlug Wang einmal vor, Xis «8-Punkte-Regelung», eine Liste von Anforderungen für Partei­mitglieder, zu einer offiziellen Partei­regel zu machen. Aber selbst dieser eher kriecherische Vorschlag wurde von Xi als Affront empfunden, weil er ihn nicht selbst vorgeschlagen hatte, und so rügte er Wang auf der Stelle.

Xi ist auch ein Mikro­manager. Er agiert als «Vorsitzender von allem», wie viele Analysten festgestellt haben. So erliess er 2014 zum Beispiel gleich siebzehn Anordnungen zum Umwelt­schutz – ein bemerkenswertes Mass an Einmischung, wenn man bedenkt, was alles zu seinem Aufgaben­bereich gehört. Deng, Jiang und Hu wussten, dass die Verwaltung eines so grossen Landes wie China die Berücksichtigung lokaler Besonderheiten erfordert. Sie betonten, dass die Kader aller Ebenen zwar die Anweisungen des Zentral­komitees der KPCh befolgen, diese aber nach Bedarf an die jeweiligen Gegeben­heiten anpassen sollten. Eine solche Flexibilität sei für die wirtschaftliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung, da sie den lokalen Beamten Raum für Innovationen gebe. Xi hingegen besteht darauf, dass seine Anweisungen buchstaben­getreu umgesetzt werden.

In der KPCh gab es eine bis zu Mao zurück­reichende Tradition, nach der sich Kader mit Vorschlägen und sogar Kritik an den obersten Führer wenden konnten. Doch diejenigen, die dies zu Beginn von Xis Amtszeit wagten, haben ihre Lektion gelernt. 2017 schrieb Liu Yazhou, ein General der Volks­befreiungs­armee und Schwieger­sohn eines früheren Präsidenten, an Xi und empfahl, die Politik in Xinjiang zu ändern und die Festnahmen von Angehörigen der uigurischen Minderheit einzustellen. Er wurde davor gewarnt, die Politik von Xi schlecht­zureden. Xis Weigerung, derartige Rat­schläge entgegen­zunehmen, beseitigt eine wichtige Methode der Selbst­korrektur.

Warum ist Xi im Gegensatz zu seinen Vorgängern so resistent gegenüber Ratschlägen von anderen? Meiner Meinung nach liegt es auch daran, dass er an einem Minderwertigkeits­komplex leidet, weil er weiss, dass er im Vergleich zu anderen Spitzen­politikern der KPCh schlecht ausgebildet ist.

Er studierte zwar Chemie­ingenieur­wesen an der Tsinghua-Universität, aber Xi besuchte sie als «Arbeiter-Bauern-Soldat», eine Kategorie von Studentinnen, die in den 1970er-Jahren aufgrund ihrer politischen Zuverlässigkeit und ihres Klassen­hintergrunds und nicht aufgrund ihrer akademischen Verdienste zugelassen wurde. Jiang und Hu hingegen verdienten sich ihren Platz an der Universität durch das Ablegen äusserst schwieriger Prüfungen.

Xi Jinping als Teenager: 1972 in Peking.

Als Xi 2002 ein Provinz­kader war, promovierte er in marxistischer Theorie, ebenfalls an der Tsinghua-Universität, doch wie der britische Journalist Michael Sheridan aufgezeigt hat, ist Xis Dissertation mit einem Plagiats­verdacht behaftet. Aus meiner Zeit an der Zentralen Partei­schule weiss ich, dass hohe Beamte ihre Studien­arbeiten regelmässig an Assistentinnen auslagern, was die Professoren geflissentlich übersehen. Zu der Zeit, als Xi angeblich seine Dissertation fertig­stellte, übte er das anspruchs­volle Amt des Gouverneurs von Fujian aus.


5. Mr. Wrong

Unkontrollierte Macht ist in jedem politischen System gefährlich. Von der Realität abgekoppelt und befreit von den Zwängen des Konsenses, kann ein Macht­haber unüberlegt handeln und eine Politik umsetzen, die unklug, unpopulär oder beides ist. Daher überrascht es kaum, dass Xis Besser­wisserei zu einer Reihe von katastrophalen Entscheidungen geführt hat. Das durchgängige Merkmal ist die Unfähigkeit, die praktischen Auswirkungen seiner Direktiven zu erkennen.

Zum Beispiel in der Aussen­politik: Im Gegensatz zu Dengs Diktum, China solle «seine Stärke verbergen und abwarten», hat Xi beschlossen, die USA direkt heraus­zufordern und eine China-zentrierte Welt­ordnung anzustreben. Deshalb hat er ein riskantes und aggressives Verhalten im Ausland an den Tag gelegt, das Südchinesische Meer militarisiert, Taiwan bedroht und seine Diplomaten zu einem aggressiven aussen­politischen Stil ermutigt, zur sogenannten «Wolfskrieger»-Diplomatie.

Xi hat ein De-facto-Bündnis mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin geschlossen, wodurch sich China weiter von der internationalen Gemein­schaft entfremdet hat. Seine «Belt and Road»-Initiative, auch bekannt als «neue Seiden­strasse», stösst zunehmend auf Widerstand, da die betroffenen Länder die damit einher­gehende Verschuldung und Korruption leid sind.

Ähnlich kontra­produktiv ist Xis Wirtschafts­politik. Die Einführung markt­wirtschaftlicher Reformen war eine der wichtigsten Errungenschaften der KPCh, sie hat es Hunderten von Millionen Chinesen ermöglicht, der Armut zu entkommen. Doch seit Xi an der Macht ist, betrachtet er den Privat­sektor als Bedrohung seiner Herrschaft und lässt die Plan­wirtschaft der maoistischen Ära wieder­auferstehen. So stärkte er die staatlichen Unter­nehmen und etablierte in der Privat­wirtschaft Partei­organisationen, welche sich in die Unternehmens­führung einmischen.

Unter dem Deckmantel der Korruptions­bekämpfung und der Durch­setzung des Kartell­rechts plünderte er das Vermögen von privaten Unter­nehmen und Unter­nehmerinnen. In den letzten Jahren wurden einige der dynamischsten Unter­nehmen Chinas, darunter die Anbang Insurance Group und der Misch­konzern HNA Group, faktisch gezwungen, die Kontrolle über ihre Geschäfte an den Staat abzugeben.

Andere, wie das Konglomerat Tencent und der E-Commerce-Riese Alibaba, wurden durch eine Kombination aus neuen Vorschriften, Ermittlungen und Geld­strafen in die Schranken gewiesen. Im Jahr 2020 wurde Sun Dawu, der Milliardär und Eigentümer eines Agrar­konglomerats, der Xi öffentlich für sein hartes Durch­greifen gegen Menschenrechts­anwälte kritisiert hatte, unter falschen Anschuldigungen verhaftet und zu achtzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Sein Konzern wurde in einer Schein­auktion für einen Bruchteil des tatsächlichen Wertes an ein eilig gegründetes Staats­unternehmen verkauft.

Das Wirtschafts­wachstum Chinas hat sich erwartungs­gemäss verlangsamt, die meisten Analystinnen gehen davon aus, dass es sich in den kommenden Jahren noch stärker verlangsamen wird. Auch wenn mehrere Faktoren eine Rolle spielen – darunter die US-Sanktionen gegen chinesische Technologie­unternehmen, der Krieg in der Ukraine und die Covid-19-Pandemie –, ist das grundlegende Problem die Einmischung der KPCh in die Wirtschaft. Die Regierung greift ständig in den privaten Sektor ein, um politische Ziele zu erreichen, was nachweislich Gift für die Produktivität ist. Viele Unter­nehmer in China leben in ständiger Angst, dass ihre Unternehmen beschlagnahmt oder sie selbst verhaftet werden, was nicht eben innovations­fördernd ist.

Im April, als sich Chinas Wachstums­aussichten verschlechtert hatten, lud Xi zu einer Sitzung des Polit­büros ein, um sein Heilmittel gegen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes vorzustellen: eine Kombination aus Steuer­nachlässen, Gebühren­senkungen, Infrastruktur­investitionen und einer Lockerung der Währungs­politik. Da jedoch keine dieser Massnahmen das grund­legende Problem der über­mässigen Eingriffe in die Wirtschaft löst, sind sie zum Scheitern verurteilt.

Nirgends war Xis Kontroll­sucht so verhängnisvoll wie in seiner Reaktion auf Covid-19. Als sich die Seuche im Dezember 2019 erstmals in der Stadt Wuhan ausbreitete, enthielt Xi der Öffentlichkeit Informationen darüber vor, um das Bild eines florierenden Chinas zu bewahren. Die lokalen Behörden waren derweil paralysiert. Wie der Bürger­meister von Wuhan, Zhou Xianwang, im folgenden Monat im Staats­fernsehen zugab, war er ohne Genehmigung von oben nicht befugt, den Ausbruch der Krankheit öffentlich bekannt zu geben. Als acht mutige Mediziner die Sache publik machten, wurden sie von der Regierung inhaftiert und zum Schweigen gebracht. Einer der acht enthüllte später, dass er gezwungen wurde, ein falsches Geständnis zu unterschreiben.

Xis Hang zum Mikro­management behinderte auch seine Reaktion auf die Pandemie. Anstatt die strategischen Einzelheiten dem Gesundheits­team der Regierung zu überlassen, bestand Xi darauf, dass er selbst Chinas Mass­nahmen koordinierte. Xi rühmte sich später, dass er «persönlich das Kommando führte, die Reaktion plante, die allgemeine Lage überblickte, entschlossen handelte und den Weg nach vorn wies».

Sofern dies der Wahrheit entspricht, war es nicht zum Wohle des Landes. Vielmehr führte seine Einmischung zu Verwirrung und Untätigkeit, da die örtlichen Gesundheits­behörden wider­sprüchliche Anweisungen aus Peking erhielten und sich nicht zu handeln trauten. Eine Quelle aus dem Staatsrat (Chinas oberster Verwaltungs­behörde) berichtete mir, dass Premier­minister Li Keqiang Anfang Januar 2020 die Aktivierung eines Notfall­protokolls vorschlug, Xi sich jedoch weigerte, dies zu genehmigen, da er befürchtete, die Feierlichkeiten zum chinesischen Neujahrs­fest zu stören.

Als im Februar 2022 die Omikron-Variante des Virus in Shanghai ausbrach, fiel Xis Reaktion abermals seltsam aus. Die Details des Entscheidungs­prozesses wurden mir von einem Kontakt im Staatsrat zugetragen. Bei einem Online-Treffen von etwa sechzig Pandemie­expertinnen kurz nach dem Omikron-Ausbruch waren sich alle einig, dass das Leben in der Stadt mehr oder weniger wie gewohnt weitergehen könne, wenn sich Shanghai an die neuesten offiziellen Richt­linien halten würde, die eine Lockerung der Quarantäne­bestimmungen vorsahen. Viele Partei- und Gesundheits­beamte der Stadt waren mit diesem Ansatz einverstanden.

Doch als Xi davon erfuhr, wurde er wütend. Er weigerte sich, auf die Expertinnen zu hören, und bestand auf der Umsetzung seiner «Null-Covid-Politik». Millionen von Einwohnern Shanghais durften nicht mehr ins Freie gehen, nicht einmal, um Lebens­mittel einzukaufen oder lebens­rettende medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen.

Menschen starben vor den Türen von Spitälern, andere stürzten sich von ihren Wohn­häusern in den Tod. So wurde eine moderne, prosperierende Stadt zum Schauplatz einer humanitären Katastrophe, in der Menschen verhungerten und Babys von ihren Eltern getrennt wurden.

Ein Staats­oberhaupt, das zugänglicher wäre oder stärker kontrolliert würde, hätte eine solch drakonische Politik wahrscheinlich nicht durchgesetzt oder zumindest den Kurs korrigiert, als die Kosten und die Unbeliebtheit dieses Vorgehens offensichtlich wurden. Für Xi hätte ein Rückzieher das undenkbare Eingeständnis eines Fehlers bedeutet.


6. Aktion, Reaktion

Die Führungs­riege der KPCh war niemals ein Monolith. Wie Mao einmal sagte: «Es gibt Parteien ausserhalb unserer Partei, und es gibt Fraktionen innerhalb unserer Partei, das war schon immer so.» Wichtigstes Ordnungs­prinzip dieser Fraktionen sind persönliche Beziehungen, doch tendenziell ordnen sich diese Gruppen auf einem Links-rechts-Schema an. Mit anderen Worten: Obwohl die chinesische Politik weitgehend auf Persönlichkeiten ausgerichtet ist, gibt es reale Meinungs­verschiedenheiten, und jede der weiter oben beschriebenen Linien neigt dazu, sich mit den Ideen ihrer Gründer zu identifizieren.

Die Linke ist dem orthodoxen Marxismus verpflichtet. Diese Fraktion beherrschte die Partei vor der Ära Deng und befürwortet die Fortsetzung des Klassen­kampfes und der gewaltsamen Revolution. Sie umfasst Unter­fraktionen, die nach Mao, Chen Yun (dem zweit­mächtigsten Funktionär unter Deng), Bo Xilai (einem ehemaligen Politbüro­mitglied, das vor Xis Macht­übernahme ins Abseits gestellt und inhaftiert wurde) und Xi selbst benannt sind. An der Basis gehören zur Linken auch ein kleines, politisch machtloses Kontingent marxistischer Universitäts­studentinnen sowie Arbeiter, die infolge von Dengs Reformen entlassen wurden.

Das Zentrum besteht im Wesentlichen aus Dengs politischer Gefolgschaft. Da die meisten der heutigen Kader unter ihm ausgebildet wurden, dominiert diese Fraktion die Bürokratie der KPCh. Die Zentristen befürworten umfassende Wirtschafts­reformen sowie begrenzte politische Reformen mit dem Ziel, die Herrschaft der Partei dauerhaft zu sichern. Ebenfalls zur Mitte gehört eine Gruppe, die von zwei pensionierten Spitzen­funktionären, Jiang und Zeng Qinghong (einem ehemaligen Vize­präsidenten), abstammt, sowie die sogenannte Jugend­liga, die sich aus Anhängern des ehemaligen Partei­chefs Hu Jintao und des derzeitigen Minister­präsidenten Li zusammensetzt.

Zu guter Letzt gibt es noch die Unter­fraktionen auf der rechten Seite, was im chinesischen Kontext die Liberalen sind, die für Markt­wirtschaft und eine mildere Form des Autoritarismus (oder in einigen Fällen sogar für eine konstitutionelle Demokratie) eintreten. Dieses Lager, dem ich angehöre, ist das schwächste der drei. Zu ihm gehören die Anhängerinnen von Hu Yaobang und Zhao Ziyang, den Partei­führern unter Deng. Auch Wen Jiabao, der von 2003 bis 2013 Chinas Minister­präsident war und immer noch Einfluss hat, gehört wohl zu diesem Lager. In einem Interview aus dem Jahr 2010 antwortete Wen auf eine Frage zu seinem Streben nach politischen Reformen: «Ich werde bis zum letzten Tag meines Lebens nicht nachlassen.»

Xi steht einer wachsenden Opposition aus allen drei Fraktionen gegenüber. Die Linke, die seine Politik anfangs unterstützte, findet inzwischen, dass er bei der Wieder­belebung der Politik Maos nicht weit genug gegangen ist, und einige von ihnen sind nach seinem harten Vorgehen gegen die Arbeiter­bewegung desillusioniert. Die Mitte nimmt Xi übel, dass er die Wirtschafts­reformen rückgängig gemacht hat. Die Rechte ist völlig zum Schweigen gebracht worden, weil Xi selbst leiseste politische Debatten unterbunden hat.

Im Ständigen Ausschuss lassen sich diese Spaltungen erahnen. Konflikte zwischen Funktionären dringen inzwischen sogar an die Öffentlichkeit. Und Premier­minister Li widersetzt sich Xis Null-Covid-Politik und betont die Notwendigkeit, Firmen wieder zu öffnen, um die Wirtschaft zu schützen.

Nachdem Li im Mai auf einer Online-Konferenz vor 100’000 Partei­kadern erklärt hatte, die Wirtschaft befinde sich in einem schlechteren Zustand als erwartet, starteten Xis Verbündete einen Gegen­angriff. Im staatlichen Presse­organ «Xinhua» verteidigten sie ihn mit der Behauptung: «Chinas Aussichten in Sachen Wirtschafts­entwicklung sind definitiv besser.» Als Symbol ihres Widerstands gegen Xis Covid-Politik weigern sich Li und sein Gefolge jedoch, Masken zu tragen. Bei einer Rede in der Stadt Nanchang im April konnte man beobachten, wie Lis Mitarbeitende die Anwesenden auf­forderten, ihre Masken abzunehmen.

Lange hat Premier Li die Überheblichkeit von Xi gelassen hingenommen und sich notgedrungen stets gefügt. Aber er könnte bald an seine Grenzen stossen.

Die Verstimmung auf der Führungs­ebene überträgt sich auch auf die unteren Ebenen der Staats­verwaltung. Schon als Xi zu Beginn seiner Amtszeit anfing, die Macht umzuschichten, waren viele in der Bürokratie verärgert und desillusioniert. Ihr Widerstand war jedoch passiv und manifestierte sich in Dienst nach Vorschrift. Lokale Kader meldeten sich massen­weise krank oder liessen sich Ausreden einfallen, um Xis Antikorruptions­initiativen zu behindern. Die Disziplinar­kommission der KPCh gab Ende 2021 bekannt, dass sie in den ersten zehn Monaten des Jahres 247’000 Fälle von «ineffektiver Umsetzung der wichtigen Anweisungen von Xi Jinping und dem Zentral­komitee» festgestellt hatte.

Während der Abriegelung Shanghais wurde der Widerstand allerdings deutlicher. In den sozialen Netzwerken übten lokale Beamte offen Kritik an der Null-Covid-Politik. Im April traten Mitglieder des Einwohner­komitees von Sanlin Town, einem Stadtteil von Shanghai, kollektiv zurück und beklagten sich öffentlich, dass sie 24 Tage lang in ihren Büros eingeschlossen waren und keinen Zugang zu ihren Familien hatten.

Noch bedenklicher ist für Xi, dass die Unzufriedenheit der Elite mittlerweile auf die breite Öffentlichkeit übergreift. In einem autoritären Staat ist es unmöglich, die öffentliche Meinung präzise einzuschätzen, aber Xis harte Covid-Massnahmen könnten ihn die Gunst der meisten Chinesinnen gekostet haben. Ein erster Hinweis auf Unmut wurde im Februar 2020 laut, als der Immobilien­magnat Ren Zhiqiang Xi einen «Clown» nannte, weil er die Bekämpfung der Pandemie vermasselt habe. Nach einem eintägigen Prozess wurde Ren zu achtzehn Jahren Gefängnis verurteilt.

Chinesische Social-Media-Plattformen sind voller Videos, in denen einfache Menschen Xi anflehen, seine Null-Covid-Politik zu beenden. Im Mai veröffentlichte eine Gruppe, die sich «Shanghai Self-Saving Autonomous Committee» nennt, im Internet ein Manifest mit dem Titel «Sei kein Sklave – rette dich selbst». Darin werden die Einwohner der Stadt aufgerufen, sich gegen die Abriegelung zu wehren und selbstverwaltete Gremien zu bilden, um sich gegenseitig zu helfen. Einige Chinesinnen haben auf sozialen Netzwerken sarkastisch vorgeschlagen, dass der wirksamste Plan zur Pandemie­bekämpfung darin bestünde, den 20. National­kongress so schnell wie möglich einzuberufen und dort zu verhindern, dass Xi an der Macht bleibt.

Trotz Xis Behauptung, die Armut besiegt zu haben, kommen die meisten Chinesen weiterhin kaum über die Runden. Wie Premier Li im Jahr 2020 enthüllte, verdienten 600 Millionen Menschen in China – etwa 40 Prozent der Bevölkerung – knapp 140 Dollar im Monat. Nach Angaben der «South China Morning Post», einer Zeitung aus Hongkong, wurden zwischen Januar und November 2021 rund 4,4 Millionen kleine Unternehmen geschlossen, mehr als dreimal so viele, wie im gleichen Zeitraum neu eingetragen wurden. Angesichts der Finanzkrise sahen sich die Lokal­regierungen gezwungen, die Löhne im öffentlichen Dienst zu kürzen – mitunter um bis zu 50 Prozent, auch die Gehälter der Lehrerinnen.

Die Regierung wird wahrscheinlich neue Wege finden, den Privat­sektor und die Bürger auszusaugen, was zu noch mehr wirtschaftlichem Elend führen wird. Die wenigsten in China wollen nach vier Jahrzehnten der Öffnung in die Zeiten von Mao zurückkehren. Auch innerhalb der KPCh-Elite sind viele verärgert darüber, dass Xi die traditionelle Macht­verteilung zerstört hat, und glauben, dass seine rück­sichtslose Politik die Zukunft der Partei gefährdet.

Zum ersten Mal seit den Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahr 1989 sieht sich Chinas Staats­chef nicht nur internem Wider­spruch ausgesetzt, sondern auch heftiger öffentlicher Gegenwehr sowie der realen Gefahr sozialer Unruhen.


7. Weitere fünf Jahre?

Ressentiments zu hegen, ist eine Sache, diesen auch Taten folgen zu lassen, eine andere. Die Mitglieder der oberen Ränge der Partei wissen, dass sie jederzeit der Korruption angeklagt werden können, sodass sie kaum den Anreiz verspüren, sich gegen Xi zu stellen. Die Hightech-Überwachung ist vermutlich so umfassend, dass es die Partei­eliten, einschliesslich der nationalen Führung im Ruhestand, nicht wagen, ausserhalb offizieller Anlässe miteinander zu kommunizieren, nicht einmal über alltägliche Dinge. Die Bevölkerung wiederum schweigt, eingeschüchtert durch Zensur, Über­wachung und die Angst vor Verhaftung.

Aus diesem Grund konzentrieren sich die Gegnerinnen von Xi auf die einzige legale Möglichkeit, ihn abzusetzen: die Ablehnung seiner dritten Amtszeit auf dem kommenden National­kongress.

Da Xi die wachsende Enttäuschung wohl spürt, investiert er viel, um die Ausgangs­lage zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Am wichtigsten sind natürlich die Mitglieder des Ständigen Ausschusses, die letztlich das grösste Gewicht haben, was den Verbleib des Präsidenten im Amt angeht, auch weil sie die Kontrolle über die Mitglieder der Legislative haben. Xi tat vermutlich alles, um sich die Unter­stützung der Mitglieder des Ständigen Ausschusses zu sichern, angefangen beim Versprechen, dass sie an der Macht bleiben, bis hin zur Zusage, keine Ermittlungen gegen ihre Familien einzuleiten.

Fast ebenso wichtig ist das Militär, da die Ablehnung einer dritten Amtszeit Xis wahrscheinlich die Unterstützung der Generäle voraussetzt. Propagandisten erinnern die Chinesinnen routine­mässig daran, dass «die Partei die Waffe führt», aber die chinesischen Macht­haber wissen, dass die Waffe in Wahrheit immer auf den Kopf der Partei gerichtet ist.

Auch wenn Xi über die Jahre hinweg die chinesischen Generäle kontinuierlich durch seine eigenen Leute ersetzt hat, schwankt die Rhetorik der Militärs immer noch zwischen der Betonung der persönlichen Loyalität gegenüber Xi und einer institutionellen Loyalität gegenüber der Zentralen Militär­kommission, dem von Xi geleiteten Gremium, das sie beaufsichtigt.

Ein mögliches Anzeichen für eine anhaltende Opposition in den eigenen Reihen war, dass ich im vergangenen Dezember von mehreren meiner Kontakte in China erfuhr, dass Liu, der Militär­beamte, den Xi wegen seiner Kritik an der Uiguren-Politik gerügt hatte, verschwunden war, ebenso sein jüngerer Bruder, auch er ein General. Die Häuser der Brüder wurden durch­sucht. Die Meldung löste einen Schock aus, da Liu als Schwieger­sohn eines ehemaligen Staats­präsidenten eigentlich als unantastbar galt. Mit der Verhaftung von Liu und dessen Bruder erteilte Xi den Prinzen und der Führungs­spitze der Volks­befreiungs­armee seine bisher schärfste Warnung.

Xi hat ausserdem seinen angeblichen Kampf gegen die Korruption verstärkt. In der ersten Hälfte des Jahres 2022 hat die Regierung 21 Kader auf oder über der Ebene der Provinz­minister und 1237 Kader auf Bezirks- und Abteilungs­ebene bestraft. Ein besonderes Augenmerk wurde auf die Sicherheits- und Nachrichten­dienste gelegt.

Im Januar strahlte das chinesische Staats­fernsehen das Geständnis Sun Lijuns aus, eines ehemaligen hochrangigen Sicherheits­beamten, der wegen Korruption angeklagt wurde und dem nun die Hinrichtung droht. Sein Vergehen, so das oberste Disziplinar­organ der Partei, bestand darin, dass er «eine Verschwörung gebildet hatte, um die Kontrolle über mehrere wichtige Abteilungen zu erlangen», dass er «stark übertriebene politische Ambitionen» hegte und «schlechte politische Eigenschaften» hatte.

Im März wurde Fu Zhenghua, der als stellvertretender Minister für öffentliche Sicherheit Suns Vorgesetzter war, ebenfalls wegen Korruption angeklagt, seines Amtes enthoben und aus der KPCh ausgeschlossen.

Die Botschaft war klar: gehorchen oder den Untergang riskieren.

Zur Absicherung seiner angestrebten dritten Amtszeit hat Xi eine versteckte Drohung an pensionierte Partei­kader gerichtet. Ältere Partei­kader haben in der chinesischen Politik seit langem einen enormen Einfluss; so waren es beispiels­weise die Eliten im Ruhestand, die 1989 Zhao aus dem Amt dräng­ten. Im Januar wandte sich Xi direkt an diese Gruppe und kündigte an, die Regierung werde «mit der systematischen Korruption aufräumen und versteckte Risiken beseitigen», indem sie rückwirkend die letzten zwanzig Jahre im Leben ihrer Kader untersuche.

Im Mai verschärfte die Partei die Richt­linien für Kader im Ruhe­stand und warnte sie, «nicht offen über die Politik des Zentral­komitees zu sprechen, keine negativen politischen Äusserungen zu machen, sich nicht an den Aktivitäten illegaler sozialer Organisationen zu beteiligen und nicht ihre frühere Autorität oder den Einfluss ihrer Position zu nutzen, um für sich und andere Vorteile zu erlangen, sowie sich jeder Form von falschem Denken entschieden entgegen­zustellen und zu widersetzen».

Xi hat auch versucht, sich die Unter­stützung der 2300 zum National­kongress eingeladenen KPCh-Delegierten zu sichern, von denen zwei Drittel hoch­rangige Beamte aus dem ganzen Land und ein Drittel einfache Mitglieder sind, die an der Basis arbeiten. Die Delegierten wurden gründlich auf ihre Loyalität zu Xi geprüft. Um Über­raschungen auf dem Kongress zu verhindern, untersagt ihnen ein Verbot «nicht-organisatorischer Aktivitäten», sich ausserhalb der offiziellen Kleingruppen­sitzungen ihrer Provinz­delegationen zu treffen, was ihre Möglichkeiten beschränkt, sich gegen eine bestimmte Politik oder einen bestimmten Führer zu organisieren.

Entgegen der gängigen Meinung westlicher Analystinnen hat Xi seine dritte Amtszeit möglicher­weise noch nicht in trockenen Tüchern. Seine immer zahlreicher werdenden Gegner könnten es schaffen, ihn aus dem Amt zu jagen, sofern sie genügend Mitglieder des Ständigen Ausschusses davon überzeugen, dass er die Unterstützung der Basis der KPCh verloren hat, oder die Partei­ältesten zum Eingreifen bewegen. Zudem besteht immer die Möglichkeit, dass eine Wirtschafts­krise oder weitverbreitete soziale Unruhen selbst treue Verbündete gegen ihn aufbringen.

Trotzdem ist das wahrscheinlichste Ergebnis am 16. Oktober 2022, dass Xi, der den Prozess dermassen manipuliert und seine Rivalen eingeschüchtert hat, seine dritte Amtszeit als Partei­chef erhält und damit auch das Recht, für eine weitere Amtszeit Staats­präsident und Chef des Militärs zu bleiben. Damit wird sich die wichtigste politische Reform seit Dengs Herrschaft in Luft auflösen.


8. Der entfesselte Xi Jinping

Was dann? Xi wird seinen Wahlsieg zweifellos als Mandat betrachten, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um das erklärte Ziel der Partei, die Wieder­belebung Chinas, zu erreichen. Seine Ambitionen werden in neue Dimensionen vorstossen. Im zweifel­haften Versuch, die Wirtschaft anzukurbeln, ohne den privaten Sektor zu stärken, wird Xi seine etatistische Wirtschafts­politik weiter ausbauen. Um sich an der Macht zu halten, wird er weiterhin potenzielle Konkurrenten präventiv ausschalten und die soziale Kontrolle verschärfen, sodass China zunehmend Nordkorea gleichen wird. Xi könnte sogar versuchen, weit über eine dritte Amtszeit hinaus an der Macht zu bleiben.

Ein gestärkter Xi wird unter Umständen die Militarisierung der umkämpften Gebiete im Süd­chinesischen Meer vorantreiben und versuchen, Taiwan gewaltsam zu erobern. In seinem Streben nach Dominanz wird er China noch stärker vom Rest der Welt isolieren.

Allerdings würde keiner dieser Schritte die Unzufriedenheit innerhalb der Partei auf magische Weise verschwinden lassen. Die Erringung einer dritten Amtszeit wird weder jene Mitglieder der KPCh besänftigen, die seine Macht­anhäufung beklagen und seinen Personen­kult ablehnen, noch wird sie sein wachsendes Problem der Legitimation in der Bevölkerung lösen. Tatsächlich könnten die Massnahmen, die er in seiner dritten Amts­zeit ergreifen wird, die Wahrscheinlichkeit von Krieg, sozialen Unruhen und Wirtschafts­krisen erhöhen und die bestehenden Missstände verschärfen.

Selbst in China reichen blosse Gewalt und Einschüchterung nicht aus, um an der Macht zu bleiben; es zählt immer noch die Leistung. Mao und Deng verdienten ihre Autorität durch Leistungen – Mao, indem er China von den Nationalisten befreite, und Deng, indem er das Land öffnete und einen Boom auslöste.

Xi kann keine solchen konkreten Erfolge vorweisen. Deshalb hat er auch weniger Spiel­raum für Fehler.

Die einzige realistische Variante, um den Kurs Chinas zu ändern, ist meines Erachtens auch die beängstigendste und tödlichste: eine demütigende Kriegs­niederlage. Sollte Xi Taiwan angreifen, sein wahrscheinlichstes Ziel, ist die Möglichkeit gross, dass der Krieg nicht wie geplant verläuft und Taiwan mit amerikanischer Hilfe in der Lage sein wird, der Invasion zu widerstehen und dem chinesischen Fest­land schweren Schaden zuzufügen.

In diesem Fall würden sich sowohl die Eliten als auch die Massen von Xi abwenden und nicht nur seinen persönlichen Sturz, sondern möglicher­weise auch den Zusammen­bruch der KPCh, wie wir sie kennen, einleiten. Ein vergleichbarer Fall ereignete sich im 18. Jahrhundert, als Kaiser Qianlong mit seinem Vorhaben scheiterte, Chinas Reich auf Zentral­asien, Burma und Vietnam auszudehnen. Später, im Ersten Chinesisch-Japanischen Krieg, erlitt China eine vernichtende Niederlage, die den Weg für den Untergang der Qing-Dynastie ebnete und eine lange Periode politischer Umwälzungen einleitete.

Auch Kaiser sind nicht für die Ewigkeit.

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