Putins Bluff

Der Kremlchef bietet 300’000 Reservisten für die Armee auf, droht mit Atomwaffen und lässt Referenden abhalten. Doch all das ist nur ein nacktes So-Tun-als-ob.

Von Constantin Seibt, 22.09.2022

Vorgelesen von Egon Fässler
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Die Rede des Präsidenten wurde am Dienstag auf acht Uhr abends angesagt.

Darauf explodierte bei der russischen Google-Suche die Anfrage: «Wie verlasse ich Russland?». Denn die Erwartung war: Jetzt folgt die totale Mobilisierung.

Doch um acht Uhr folgte nichts. Kein Präsident, keine Mobilisierung. Schliesslich rieten die kreml­nahen Kommentatoren: «Geht ins Bett.»

Präsident Putin sprach dann am Mittwoch­morgen.

Er beklagte sich, dass Russland gegen den «vereinigten Westen» kämpfe. Er drohte, dass bei einem Angriff auf russisches Territorium alle Waffen eingesetzt werden könnten, «inklusive des atomaren Arsenals». Und teilte mit, dass er eine Teil­mobilisierung unterzeichnet habe: die der Reservisten.

Es war eine kurze, blasse Rede – an Stil und an Substanz.

Was das Militärische betrifft, kam die genaueste Analyse vom ehemaligen finnischen Geheim­dienst­chef, General­major Pekka Toveri. Auf die Frage, ob die russische Armee nun stärker werde, sagte er: «Ei.»

Was auf Finnisch Nein heisst.

Putins Rede, so nüchtern sie klingen sollte, war: nacktes So-Tun-als-ob.
Sie zeigte vor allem, wie geschrumpft seine Ressourcen sind: Putins ursprüngliches Ziel, ein 3-Tage-Blitzkrieg, ist nun 210 Tage überfällig. Sein zweites Ziel, die Eroberung des ukrainischen Ostens, ist seit der erfolgreichen Gegen­offensive der Ukrainer Vergangenheit. Der Mythos der Unbesiegbarkeit der russischen Armee ebenso. Die Armee selbst hat grausame Verluste erlitten – und wird durch kaum ausgebildete, elend bewaffnete Rekruten, Milizen, Kriminelle verstärkt. (Einige von ihnen desertierten bereits.)

Auch wenn die Zahl der Reservisten – 300’000 – auf den ersten Blick furcht­erregend gross klingt, sie ist es nicht.

Denn diese 300’000 Leute, meist ehemalige Studenten, die ihr Studium mittels Armee finanzierten, sind bis jetzt nur eins: Kanonen­futter. Um auf dem Schlacht­feld einen Unter­schied zu machen, müssten sie erst eingezogen, dann trainiert, dann bewaffnet werden.

Was zum ersten Monate dauern würde, zum zweiten nicht machbar ist.

Denn die Schwierigkeiten sind im Prinzip dieselben, die Putin daran hindern, eine General­mobilmachung auszurufen. Der Historiker Kamil Galeev listete die Probleme wie folgt auf:

  • Für die Mobil­machung braucht es eine riesige Infrastruktur: an Trainings­plätzen, Transport­logistik, Waffen, Ausbildungs- und danach Führungs­offizieren.

  • Die Sowjetunion hatte noch die Strukturen. Sie hatte eine vor allem aus Offizieren und gefüllten Arsenalen bestehende Armee – um im Kriegsfall Hundert­tausende von Rekruten trainieren, bewaffnen, in den Krieg schicken zu können.

  • Nach dem Zusammenbruch 1991 verfiel diese Armee. Später wurde sie zwar wieder aufgerüstet, doch das Geld reichte für das Raketen­arsenal und – nach dem Tschetschenien­krieg – für ein kleines Expeditions­korps, um kleinere Länder in Schutt zu legen. Aber die Zahl der Offiziere hielt man knapp.

  • Das Budget für grosse Lager­bestände wurde auch gestrichen. Rost und Korruption besorgten den Rest.

  • Mitten im Krieg ist eine Mobilisierung noch schwieriger als davor. Das, weil die brauchbaren Offiziere entweder tot oder bereits schwer beschäftigt sind.

  • Dazu kommt, dass Russland fast lächerlich zentralisiert ist: Alle Flug­verbindungen, alle Autobahnen, vor allem alle Eisenbahn­linien führen durch Moskau.

  • Was bei einer grossen Mobilisierung heisst: Zehn­tausende schlecht gelaunte, schwer bewaffnete Leute, die wissen, dass sie zum Sterben geschickt werden, stauen sich in Moskau: in der Nähe des Macht­zentrums.

  • Was eine Situation wie 1917 ergäbe. Damals, so Galeev, offerierte Zar Nikolaus II. dem Politiker Krschischanowski einen Minister­posten. Dieser stimmte zu unter der Bedingung, dass die Lager der 460’000 schlecht gelaunten Bauern, bestimmt für die Schützen­gräben an der Front im Ersten Weltkrieg, sofort aufgelöst würden. Nikolaus ignorierte das. Drei Monate später zerfiel das Russische Reich.

Putins neuer Plan hat vor allem innen­politische Gründe. Der Präsident muss zwei Lager zufrieden­stellen:

  1. das kleine, laute, aber einflussreiche Lager der gewalttätigen Nationalisten, das seit dem ukrainischem Vormarsch in Panik ist;

  2. die grosse Masse der Bevölkerung, die durch den Krieg nicht belästigt werden will.

Putins Versprechen war deshalb von Anfang an ein doppeltes: Brutalität plus Normalität. Sein erster Kompromiss war, den Ukraine-Krieg als «militärische Sonder­operation» zu führen. Der neue nennt sich «Teilmobilisierung».

Nur ist das Pflästerlipolitik – beziehungsweise das Gegenteil. Statt dem Problem ins Auge zu sehen, reisst man sich hundert­tausend weitere Wunden.

Kein Wunder, spielte Putin seinen höchsten Trumpf. Und erwähnte er die nukleare Option bei einem Angriff auf Russland. Dies verstärkte er dadurch, dass er das russische Staats­gebiet um mehrere ukrainische Provinzen zu erweitern plant. Durch für die nächsten Tage angesetzte «Referenden», die es den dortigen Anwohnern möglich machen, sich Russland anzuschliessen.

Das Ergebnis dieser Referenden steht schon fest. Putins Propaganda veröffentlichte folgende «Umfrage­zahlen»:

  • Donezk: 94 Prozent

  • Luhansk: 93 Prozent

  • Saporischschja: 87 Prozent

  • Cherson: 80 Prozent

Nach internationalem Recht wären solche Referenden, bei vorgehaltener Waffe, zwar völlig ungültig – aber Putins Kalkül ist, dass sie in Verbindung mit der Drohung mit Atom­raketen zu Zögern, Angst, Verwirrung, Spaltung führen.

Nur sieht es danach nicht aus. Verbündete, Vasallen und Gegner sind in den letzten Tagen deutlich vom Verlierer Putin abgerückt:

Die Frage der westlichen, aber auch der nicht westlichen Staats­chefs dürfte sein: Falls Russland mit seiner Drohung mit Atom­waffen durchkommt – was wären die Folgen für den Rest der Welt?

Die Antwort ist einfach. Für alle Länder: Atom­waffen beschaffen, was immer es kostet. Und für Schurken­staaten: Nachbarn angreifen, solange die noch keine haben.

Russland nachzugeben, hiesse, das Risiko eines Atom­kriegs massiv zu erhöhen.

Nicht ohne Grund betonte Präsident Putin: «Das ist kein Bluff.» Es ist einer. Seine Drohung ist leer.

Und, wie die Rede bewies, sein Arsenal auch.

Was bleibt, ist nur, dass Putin den Weg vieler Gewalt­herrscher geht: durch die Grösse der angerichteten Katastrophe ein grosser Mann zu werden.

Die Frage ist nur die nach den Kosten.

Was heisst: Eine So-Tun-als-ob-Teilmobilisierung war in Putins Lage fast die friedlichste Antwort.

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