Am Gericht

Was tun mit den Bösesten der Bösen?

Sie haben getötet, vergewaltigt oder Brände gelegt. Dafür werden sie bestraft – und einige zusätzlich noch verwahrt. Manche für immer. Ist das gerecht? Die Autorin Susan Boos hat darüber ein Buch geschrieben.

Von Brigitte Hürlimann, 03.08.2022

Vorgelesen von Patrick Venetz
0:00 / 13:23

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Wer eine schwere Straftat begeht und dabei erwischt wird, der landet vor Gericht (kleinere Delikte hingegen und damit die allermeisten Fälle werden von der Staats­anwaltschaft im Strafbefehls­verfahren abgehandelt). Kann dem Täter das Verbrechen hieb- und stichfest nach­gewiesen werden und ist er zur Tatzeit zurechnungs­fähig, so wird er schuldig gesprochen und verurteilt.

Das heisst, mit anderen Worten, die Richterinnen haben über Strafen und Mass­nahmen zu entscheiden. Das ist nicht das Gleiche, und es muss auch nicht zwingend beides verhängt werden. Als Strafe gilt in der Schweiz eine Busse, eine Geldstrafe und eine Freiheits­strafe – oder die Kombination von allem – bedingt, unbedingt oder teilbedingt ausgesprochen.

Aber was ist eine Massnahme?

Was harmlos klingt, hat schwer­wiegende Folgen für die Betroffenen, obwohl eine Massnahme in der Logik des Strafrechts nicht der Vergeltung dient – und deshalb auch bei Schuld­unfähigen verhängt werden kann. Sie hat einen präventiven Zweck. Sprich: Es geht in erster Linie um die Sicherheit der Bevölkerung. Die schärfste aller Massnahmen ist die Verwahrung. Anders als bei der Freiheits­strafe (mit Ausnahme der lebens­langen) hat sie kein definiertes Ende. Verwahrte Menschen bleiben so lange eingesperrt, bis die Behörden davon ausgehen, dass sie sich in der Freiheit bewähren, nicht rückfällig werden.

Bei der 2004 per Volks­abstimmung eingeführten lebens­langen Verwahrung sind die Hürden für eine Entlassung noch höher; es müssen «neue wissen­schaftliche Erkenntnisse» über die Behandelbarkeit der Täter vorliegen.

Susan Boos hat sich lange und intensiv mit der Verwahrung befasst und darüber ein Buch geschrieben: «Auge um Auge. Die Grenzen des präventiven Strafens». Für ihre Recherche traf sich die 59-jährige St. Galler Journalistin und Autorin im In- und Ausland mit Tätern, Gefängnis­direktorinnen, Anwälten, Gerichts­psychiaterinnen und Angehörigen.

Die Meinungen über die Verwahrung fallen höchst unter­schiedlich aus. Die Autorin aber zieht ein klares Fazit.

«Susan Boos, angenommen, wir würden hier und heute über die Abschaffung der Verwahrung abstimmen: Was stünde auf Ihrem Abstimmungs­zettel?»

Verdutzter Blick von gegenüber. Mit dieser Einstiegs­frage hat meine wortgewandte Gesprächs­partnerin nicht gerechnet. Doch lange überlegen muss sie nicht. Ein Schluck Wasser, dann folgt die Antwort, und sie fällt deutlich aus – keine Spur von Zweifel.

«Ja», sagt Susan Boos, «ich würde ein Ja auf den Abstimmungs­zettel schreiben. Ich würde die Initiative zur Abschaffung der Verwahrung annehmen.»

«Und warum?»

«Die Verwahrung ist eine Form des präventiven Strafens. Dahinter steckt die Befürchtung, jemand könnte in der Zukunft wieder etwas machen. Doch Präventiv­strafen sind rechts­staatlich bedenklich. Sie fransen immer aus. Sie öffnen Tür und Tor dafür, dass gesell­schaftlich unerwünschte Menschen auf unbestimmte Zeit weggesperrt werden. Das zeigt uns die Geschichte. Früher waren es vielleicht Fahrende oder Menschen mit einem ‹liederlichen Lebens­wandel›. Heute sind es andere, morgen stehen die nächsten im Fokus. Leute werden aus dem Verkehr gezogen. Davon sind mehr betroffen, als man gemeinhin denkt.»

Auch Mörder haben Anspruch auf eine Perspektive

Das sind unzweideutige und doch überraschende Bedenken einer Autorin, die sich für ihre Buch­recherche mit den schlimmsten Straftätern auseinander­gesetzt hat; mit Killern, Serien­vergewaltigern, Neonazis, Kinder­schändern, Brand­stiftern – lauter Männer, übrigens.

Mehrfach erwähnt Boos in ihrem Buch, dass es doch verständlich sei, wenn die Bevölkerung einen Täter wie den Vierfach­mörder von Rupperswil nicht mehr in der Freiheit wissen wolle. Im Gespräch mit der Republik betont sie aber sogleich, auch Menschen wie der rechts­extreme Massen­mörder Anders Breivik oder eben dieser Mörder aus dem Aargau hätten Anspruch auf eine Perspektive. Man dürfe ihnen nicht von vornherein sagen, dass die Türen endgültig verschlossen blieben. Das sei eine feige Art von Todes­strafe. Doch dazu später mehr.

Warum also lehnt Susan Boos die Verwahrung ab? Und was sind die Alternativen? Was tun mit den Bösesten der Bösen, wenn man sie nicht für immer und ewig einsperren soll?

Mit dieser Frage konfrontiert die Autorin sämtliche Fachleute, mit denen sie spricht, in der Schweiz, in Deutschland, in Österreich und in den Nieder­landen. Aus dem Strauss an Antworten und Meinungen, aber auch geprägt von den Begegnungen und Gesprächen mit Verwahrten, zieht Boos folgendes Fazit: Es sei «konsequenter, logischer und aufrichtiger», über schärfere Strafen für schlimme Delikte nachzu­denken, als die Täter präventiv und perspektivenlos auf unbestimmte Zeit einzusperren – nachdem sie ihre Strafe ja bereits verbüsst haben.

Eine «moderne Form der Todesstrafe»

Prävention hat für die Autorin nicht nur etwas Unberechen­bares und Unkontrollier­bares – etwas, das «ausfranst» –, sondern auch etwas Endgültiges. «Ein bisschen Prävention geht so wenig wie ein bisschen tot», schreibt sie in ihrem Buch.

Über die Idee, dass es fairer und transparenter wäre, harte Strafen auszu­sprechen, anstatt die Leute präventiv und open end einzusperren, unterhält sich Boos mit dem Berner Strafrechts­professor Martino Mona. Der Interviewte sagt Erstaunliches. Zum Beispiel:

  • Der Präventionismus im hiesigen Strafrecht ist eine sterile und nur vorder­gründig weniger brutale Form des Hand­abhackens.

  • Die Verwahrung stellt eine moderne Form der Todes­strafe dar.

  • Die Todes­strafe wiederum ist das Nonplusultra der präventiven Strafe – eine konsequentere Prävention gibt es nicht.

  • Das künftige Verhalten der Menschen lässt sich weder bemessen noch voraus­sagen; auch nicht von Gerichts­psychiatern, die sich als eine Art von «modernen Wahrsagern» betätigen.

  • Präventiv Eingesperrte werden entmenschlicht.

«Susan Boos, Sie haben Bücher über Tschernobyl, Fukushima und die Atom­wirtschaft in der Schweiz geschrieben. Wie sind Sie bloss auf die Verwahrung gekommen?»

Kein Verdutzen, dieses Mal.

Wir haben uns längst ins Feuer geredet, und beide kennen wir das Thema aus dem Effeff: die kontroversen Diskussionen unter Fach­leuten und Politikerinnen, die Zustände in den hiesigen Straf­anstalten. Zum Teil sind wir sogar den gleichen Verwahrten begegnet.

Sie sagt, sie habe sich schon früh mit Justiz und Gefängnissen auseinander­gesetzt, «Überwachen und Strafen» des französischen Philosophen Michel Foucault habe sie geprägt. Mitte der Nuller­jahre wurde sie Redaktions­leiterin der WOZ und begann die Briefe aus den Anstalten zu lesen, die regel­mässig auf der Redaktion eintrafen. Nicht wenige der Absender waren Verwahrte. Die meisten verzweifelt.

Susan Boos schrieb zurück, traf die Briefe­schreiber in den Gefängnissen, nahm an Straf­prozessen teil.

Kein Ruhe­stand im Gefängnis

Einer der Verwahrten, den wir beide kennen und den Boos seit Jahren begleitet, ist Beat Meier. Wegen sexueller Handlungen mit seinen Stief­söhnen (eine Tat, die er bestreitet) und weil er einschlägig vorbestraft ist, wird Meier 2003 vom Zürcher Ober­gericht zu einer Freiheits­strafe von vier Jahren und vier Monaten verurteilt. Doch im Gefängnis sitzt der inzwischen betagte und gesund­heitlich angeschlagene Mann schon seit über einem Viertel­jahrhundert – er ist zusätzlich zur Strafe auch noch verwahrt worden.

Meier lässt sich im Gefängnis nicht therapieren (weil er seine Unschuld beteuert) und gilt deshalb als uneinsichtig und gefährlich. Aus rein präventiven Gründen bleibt er hinter Gittern, einem strengen Haft­regime unter­worfen – obwohl er seine Strafe um ein Vielfaches abgesessen hat.

Vergeblich hat Meier unter anderem darum gekämpft, wenigstens nicht mehr arbeiten zu müssen, in den Ruhe­stand versetzt zu werden. Das Pensions­alter hat er längst über­schritten. Doch das Bundes­gericht lehnt sein Begehren 2013 ab. Das Arbeiten im Gefängnis habe eine andere Funktion als draussen, heisst es im Urteil. Es gehe um eine sinnvolle Tages­struktur und um Beschäftigung. Das gelte auch für alte Insassen und sei doch nur zu ihrem Besten.

Dass in der Schweiz die Verwahrten gleich behandelt werden wie Straftäter und am gleichen Ort unter­gebracht sind – eben in Gefängnissen –, wird von Susan Boos und von manchen ihrer Gesprächs­partnerinnen kritisiert.

Ein «Dorf der Super­gefährlichen»

In Deutschland beispiels­weise ist per Recht­sprechung das Abstands­gebot eingeführt worden. Das war 2004, als das Bundes­verfassungs­gericht befand, eine unbefristete Verwahrung sei zwar zulässig, aber die Art des Vollzugs müsse geändert werden. Das heisst: Verwahrte sind anders zu behandeln als Straftäter, die ihre Strafe verbüssen. Die beiden Insassen­gruppen sind zu trennen. Verwahrte dürfen weiterhin eingesperrt werden, sie haben jedoch Anspruch auf ein «möglichst normales Leben.»

Wie ein «möglichst normales Leben» für eingesperrte Menschen aussehen kann, beschreibt Susan Boos anhand eines Besuchs in der deutschen Anstalt Rosdorf, am Stadtrand von Göttingen in Nieder­sachsen gelegen. 45 Männer leben hier in kleinen Wohnungen, die mit Gemeinschafts­räumen, einer Gemeinschafts­küche, einem Fitness­raum und einem Garten ergänzt werden. Die Bewohner kaufen im anstalts­eigenen Laden ein (es gibt sogar alkohol­freies Bier), können von einem grossen Freizeit­angebot Gebrauch machen, sich tagsüber auf der Abteilung frei bewegen und auch unbeschränkt telefonieren.

Sie haben zudem Anspruch auf regel­mässige Ausflüge in die Aussen­welt – begleitet, in aller Regel. Abends allerdings werden auch in dieser Anstalt die Türen der Insassen­wohnungen von aussen geschlossen.

Noch einen Schritt weiter gehen die Nieder­länderinnen, die in der Nähe von Nijmegen ein «Dorf der Super­gefährlichen» geschaffen haben, wie es Susan Boos in ihrem Buch nennt. Die Idee ist bestechend – und sie scheint zu funktionieren.

Die Autorin beschreibt, wie sie zu Fuss die Ortschaft Zeeland durch­quert, beim Land­gasthof links abbiegt, ein Zucker­rüben­feld entlang­geht und schliesslich am Ende einer Wiese und vor einem Wald stehen bleibt. Dort tauche «es» auf. «Von ferne glaubt man einen Logistik­betrieb vor sich. Ein Zaun, einige flache Gebäude und ein Parkplatz mit Autos. Hier wohnen die gefährlichsten Menschen der Niederlande.»

Wohlgemerkt: ohne Mauern, ohne Wachtürme, mit freier Sicht auf Wiesen und Felder. Oder auf den Sonnen­untergang.

Zum Zeitpunkt ihres Besuchs leben 93 Menschen im Spezial­dorf, 3 von ihnen sind Frauen, und alle haben sie getötet, vergewaltigt oder Brände gelegt. Es gibt ein Pony, Schweine, Ziegen, Hühner, und manchmal watschelt sogar eine Enten­familie mitten durchs Areal. Innerhalb des Zauns bewegen sich die aller­meisten der Bewohner tagsüber frei, auch zusammen mit ihren Gästen. Bloss am Abend werden die Türen von aussen verriegelt.

Arbeiten ist erlaubt, aber keine Pflicht.

Doch das Erstaunlichste ist: Die Hälfte der Bewohner kommt wieder raus. Das «Dorf der Super­gefährlichen» muss keine Endstation sein. Der Anstalts­direktor erzählt von einem ehemaligen Bewohner (von Insassen mag er nicht sprechen), der heute an Polizei­akademien und an Schulen referiert.

Ernsthaft über Vergeltung sprechen

«Also, Susan Boos, nochmals: Wohin mit den Bösen?»

Man müsse ernsthaft über Vergeltung sprechen, schreibt die Autorin in ihrem Buch, «anstatt der Prävention alles zu opfern». Solche Überlegungen seien notwendig, auch wenn es wehtue und beklemmend sei, schärfere Strafen zu fordern.

Im Gespräch fügt Susan Boos an, dass auf jeden Fall der Vollzug der Verwahrung geändert werden müsse.

«Ich würde in der Schweiz ein Verwahrten­dorf entwickeln, nach dem nieder­ländischen Vorbild. Das Dorf wäre zwar abgeschottet und gesichert, würde innerhalb des Zauns aber so viel Normalität wie nur möglich zulassen.» Wichtig sei, sagt Boos, dass das Dorf für die Angehörigen gut erreichbar sei, Besuche nicht zusätzlich erschwert würden. «Die Insassen, mit denen ich gesprochen habe, wären froh, wenn in der Schweiz nur schon das Abstands­gebot eingehalten würde. Wenn sie freier telefonieren könnten, mehr Besuch empfangen, selbst kochen und Zugang zum Internet hätten – wenn auch kontrolliert. Es gibt keinen Grund, ihnen all dies zu verweigern.»

Zur Transparenz

Susan Boos ist seit Anfang 2021 im Teilzeit­pensum operative Präsidentin des Schweizer Presserats, der hiesigen Beschwerde­instanz für medien­ethische Fragen. Brigitte Hürlimann ist Mitglied der Stiftung Schweizer Presserat, des strategischen Führungs­organs, das unter anderem die Präsidentin und die Presserats­mitglieder wählt sowie über das Budget wacht.

Illustration: Till Lauer

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