Preisgekrönt: Die Skulptur «Brick House» von Simone Leigh. Roberto Marossi/Courtesy La Biennale die Venezia

Kunst in Kriegs- und Krisen­zeiten

Die Biennale in Venedig versammelt so viele Frauen, trans und non-binäre Kunstschaffende wie nie zuvor. Ein Grund zum Feiern?

Von Antje Stahl, 27.04.2022

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Synthetische Stimme
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Der Krieg in der Ukraine erreicht die Kunst-Biennale in Venedig. Diese Realität ist auf der soeben eröffneten Schau nicht wegzudenken. Auch dann nicht, wenn die Werke nicht direkt von diesem Krieg erzählen.

Da ist etwa die Gouache-Malerei auf dickem Papier von Marija Prymatschenko. Das bizarre Mischwesen in bunten Farben, dem eine Duschkopf­knospe aus dem Maul und ein Blumenstrauss­schwanz mit Schmetterlings­flügeln aus dem Hintern ragt, während es auf den Hinterbeinen eines Storchs und auf den Händen eines Menschen zu stehen scheint, befindet sich zwar unversehrt in der Hauptausstellung. Die Kuratorin Cecilia Alemani hat das Bild aus dem Jahr 1967 sogar sehr prominent in die Mitte der ersten Ausstellungs­wand platziert, auf die man im Zentralen Pavillon in den Giardini trifft. Allerdings werden 25 der Werke von Prymatschenko, die 1908 in Bolotnja, einer ehemals russischen, heute ukrainischen Stadt geboren wurde, im Historischen Museum in Iwankiw verwahrt, das im Februar durch ein Feuer von den Russen zerstört wurde. Und das bedeutet, dass die Kunstwerke nun verloren sind, wie diverse Quellen angeben.

Auch sonst ist der Krieg auf dieser Biennale präsent, wenn auch nicht immer auf den ersten Blick.

Im Arsenale – der einstigen Flottenbasis der Republik Venedig und dem zweiten Standort der Schau – konnte aufgrund des Krieges nur eine Reproduktion des Triptychons «La consagración» der kubanischen Künstlerin Belkis Ayón auf die Wände gedruckt werden. Seit Mitte der 1990er-Jahre befindet sich ihre Arbeit in der Sammlung des staatlichen russischen Museums in St. Petersburg – das deutsche Sammlerpaar Irene und Peter Ludwig hatte es dem Haus geschenkt, das seit Februar dieses Jahres nun vom internationalen Ausstellungs­betrieb abgeschnitten ist.

Und dann war da noch der dramatische und beschwerliche Reiseweg von Pavlo Makov und seines «Fountain of Exhaustion». Zusammen mit seiner 92-jährigen Mutter ist dem Künstler die Ausreise aus der Ukraine über Rumänien nach Venedig mit dem Auto gelungen – Gleiches gilt für die Kuratorin Maria Lanko. Makovs «Springbrunnen der Erschöpfung» kann deshalb nun doch im nationalen Pavillon seines Landes gezeigt werden.

Was kann einem da anderes übrig bleiben, als die Kunst hier in Venedig so ganz allgemein als Behauptung der Freiheit zu verehren?

Eine Installation der ukrainischen Architektin Dana Kosmina. Marco Cappelletti/Courtesy La Biennale di Venezia
Pavlo Makov: «The Fountain of Exhaustion». Andrea Avezzù/Courtesy La Biennale di Venezia

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski und seine Frau Olena Wolodimiriwna Selenska schickten dann auch noch Botschaften via Video und Schriftverkehr: «Die Kunst ist sterblich, wie jeder andere auch.» Und: «Es gibt keine Gewalt­herrschaften, die nicht die Kunst beschneiden – weil sie um die Kraft der Kunst wissen.»

Anlass für dieses Mahnmal aus Worten, das über den Eröffnungstagen der 59. Biennale di Venezia zu schweben schien, ist eine eigens vom ukrainischen Staat und vom Oligarchen und Kunstmäzen Wiktor Pintschuk mitfinanzierte Sonderschau namens «This Is Ukraine: Defending Freedom» in der Scuola Grande della Misericordia in Venedig. 300 Porträts von Frauen sind dort zu sehen, die 2014 und 2015 einen Sohn im Krieg gegen Russland verloren haben. Das Pendant zu dieser Fotowand, in der die Söhne nicht abgebildet, nur namentlich erwähnt werden, besteht aus wahnsinnig grossen Leinwänden, auf denen Männer zum Dienst antreten und salutieren.

«Max in the Army» heisst die Serie, die Lesia Khomenko begann, nachdem ihr Mann an die Front und sie mit ihrer Tochter Kiew verlassen musste. Den Heroismus, der einem da in Überlebens­grösse gegenübertritt, hätte man vor ein paar Monaten noch mit dem alten sozialistischen Realismus des hier so genannten aggressor country zusammengebracht, nun steht man schweigend in der Halle der einstigen venezianischen Grossschule und wirft alle im kunsthistorischen Seminar brav studierten formal-ästhetischen Kriterien über Bord.

Vor und nach der Pandemie

Tatsächlich ist es auch im Zentralen Pavillon in den Giardini und im Arsenale nicht geboten, sich auf westlich (und das bedeutet nun einmal auch männlich und weiss) geprägte Sehgewohnheiten zu verlassen. Und es wäre verfehlt, alles durch die Brille dieser Kriegs-Jetzt-Zeit zu betrachten.

Im Ausstellungskatalog bringen Kuratorin Cecilia Alemani und der Präsident der Biennale, Roberto Cicutto, noch ihre Ablehnung des Krieges und uneingeschränkte Solidarität mit der Ukraine zum Ausdruck, weisen aber auch darauf hin, dass die Publikation nur wenige Tage nach Ausbruch des Krieges in Druck ging.

Wenn es eine von allen geteilte Realität gibt, die die Haupt­ausstellung prägte, dann stand sie unter dem Eindruck der Pandemie und ihrer bedrückenden Einschränkung des alltäglichen Lebens. Cecilia Alemani wurde der Auftrag für die Biennale in Venedig ja im Januar 2020 erteilt. Bis auf wenige Ausnahmen begegnete sie den Zeitgenossen unter den teilnehmenden Künstlerinnen deshalb ausschliesslich via Screen in der «Schreibtisch­kammer», die sie sich in ihrer New Yorker Wohnung eingerichtet hatte.

Die Auswahl, die sie in diesen zwei Jahren traf, ist gerade für die Venedig-Biennale, das Herz des westlichen Kunstbetriebs, allerdings eine Sensation.

In dieser Schau werden nämlich so viele Frauen, trans und non-binäre Kunstschaffende versammelt wie in keiner anderen – gerade einmal rund ein Zehntel der über 200 Teilnehmerinnen sind Männer. Der Grossteil der repräsentierten Künstlerinnen wurde überhaupt noch nie in internationalen Ausstellung gezeigt. Und das Glaubwürdigste an dieser Setzung ist, dass daraus kein grosses Marketing-Ding gemacht wird. Wie leicht wäre es, jede Presse­mitteilung und jeden Text mit feministischer Verve zu versehen und Kapital aus einer Women’s Show zu schlagen? Stattdessen tauchen dringliche, ja existenzielle Fragen im Konzept der Kuratorin auf: «Was macht das Leben aus?» zum Beispiel. «Und was unterscheidet Pflanzen, Tiere, Menschen und Nichtmenschen? Welche Verantwortung tragen wir gegenüber dem Planeten, den Mitmenschen und anderen Lebensformen?»

Posthumanistischer Geist und indigene Kosmologie

Gleich nach dem eingangs erwähnten Mischwesen von Maria Prymatschenko aus dem Jahr 1967 trifft man im Zentralen Pavillon auf die monochromen Wollbilder von Rosemarie Trockel und die gläsernen Menschenwesen von Andra Ursuţa. Erstere verbinden das alte, traditionell den Frauen zugeschriebene Strick-Handwerk mit der Abstraktion der klassischen Moderne. Und die enthaupteten oder auch amputierten Torsi von Ursuţa verschmelzen so mit Quallen und Plastikflaschen, dass man den posthumanistischen Geist einer uns allen bevorstehenden AI-gesteuerten Zukunft sofort zum Torwächter für diese Schau erklären möchte.

Diese Fährten, die man nach dem Diskursreigen rund um das Anthropozän aus den Museen für zeitgenössische Kunst in Berlin, Paris und New York seit Jahren in- und auswendig kennt, entpuppen sich jedoch eher als Finten.

Die Leinwände, von denen hier so viele hängen, dass man fast von einer Malerei-und-Zeichnung-Ausstellung sprechen könnte, werden von Frauenkörpern bevölkert, in deren Mund nackte Menschen­körper wandern oder deren zweites Auge durch das Schallloch einer Gitarre starrt, als könnte hier jemand Welt nur durch Musik wahrnehmen (Cecilia Vicuña, geboren 1948 in Chile). Sie erstarren zu geisterhaften Wesen, die bluten, geschlagen und vergewaltigt werden (Miriam Cahn, geboren 1949 in Basel). Oder sitzen wie Göttinnen in einer floralen Schleierkrone (Minnie Evans, geboren 1892 in Long Creek, USA).

Andra Ursuţa. Marco Cappeletti/Courtesy La Biennale di Venezia
Rosemarie Trockel. Marco Cappeletti/Courtesy La Biennale di Venezia/ProLitteris, 2022
Cecilia Vicuña. Marco Cappeletti/Courtesy La Biennale di Venezia
Miriam Cahn. Marco Cappeletti/Courtesy La Biennale di Venezia

Ovartaci, die als Mann unter dem bürgerlichen Namen Louis Marcussen 1894 in Dänemark geboren, nach einem Aufenthalt in Argentinien von ihrer Familie in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde und erst am Ende ihres Lebens eine Geschlechts­anpassung zugestattet bekam, hinterliess langbeinige Katzen, die unter Palmen, zwischen Lagerfeuer und Liegestühlen ein Kaffee­kränzchen abhalten.

In vielen Bildern und Skulpturen auf dieser Venedig-Biennale tauchen Motive aus, die auf Kosmologien indigener Volksgruppen, Riten und Traditionen aus Afrika, dem alten Ägypten, der Karibik, der Antike und dem Alten Testament beruhen. Die bunten Zeichnungen von Inuk-Künstlerin Shuvinai Ashoona (Jahrgang 1961) verbinden Tintenfische und eigenartige Meeressäuger so zart und kindlich mit der Inuit-Gemeinschaft in ihren Häusern, dass man die Zerstörung ihrer Lebensweise durch koloniale Unterwerfung und den Klimawandel darüber fast vergessen könnte.

Später wird die Jury, die auf der Biennale über die Vergabe der Goldenen und Silbernen Löwen entscheidet, Ashoona mit einer Special Mention erwähnen, weil sie eine Existenzweise abbilde, in der die Spezies aufeinander angewiesen seien und die nicht durch eine «Kolonialität der Macht» verhandelt werden würde. Wer eine analoge Antwort sucht auf die Fragen, was Menschen, Tiere und Pflanzen verbindet und wie wir in Zukunft leben wollen, wird hier jedenfalls fündig.

Plastische Chirurgie für Kriegsversehrte

So manch eine Kritikerin wurde angesichts dieser surrealen Ästhetik trotzdem begriffsstutzig – in den Reviews, die bisher im deutschsprachigen Raum erschienen sind, trifft man jedenfalls hier und da auf einen gewissen Spott über die «Folklore», «Esoterik» und «Spiritualität». Künstlerinnen wurde sogar vorgeworfen, sie wollten der Realität lieber entfliehen, anstatt sich mit ihr auseinanderzusetzen. Und der Feminismus, der hier gefeiert werde, sei «so altbacken und weltfremd wie die Theorien von Rudolf Steiner».

Tatsächlich gibt es in dieser Schau einen, wie soll man sagen, formalen Hang, der einen plötzlich nur noch Pflanzen aus Menschen wachsen sehen, in jeder Rundung eine Quelle des Lebens vermuten und in bestickten Leinwänden interessante Arts-and-Crafts-Effekte bestaunen lassen könnte. Wenn man auf Video-Installationen trifft, dann sind sie entweder zum Lachen, weil darin nackte Männer in einem Wald stehen und Bäume vögeln (Zheng Bo), oder zum Staunen, weil sich schöne junge Menschen kopfüber auf allen vieren wie Käfer über den Sandstrand von Litauen kämpfen (Eglé Budvytyté). Technoide Installationen in Insta-Ästhetik oder gar eine wie auch immer geartete kritische Reflexion von Repräsentation im digitalen Zeitalter gibt es so gut wie gar nicht.

Stattdessen trifft man auf Zeitkapseln, die einen zurück in die Jahrhunderte führen, in denen plastische Chirurgie für kriegsversehrte Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg erfunden wurde (und gleich neben Fotos von Modepuppen gezeigt werden). Im Jahr 1840 wurden Gebärmütter aus Pappmaché nachgebaut, die das Wachstum eines Fötus nachstellen (und neben 300 Jahre alten Zeichnungen von exotischen Heilpflanzen zu sehen sind). Vorbilder für unsere Maschinen-dominierte Gegenwart findet Alemani unter anderen in der Weimarer Republik, im Umfeld des Bauhauses oder auch in der Op-Art aus den 1960er-Jahren.

Von einer Biennale in Venedig erwartet man sich eigentlich keine Lehrstunde in Kunstgeschichte. Zeitdiagnosen waren und sind ihre Spezialität. Die Kuratorin erklärt ihren «weitreichenden und transhistorischen» Ansatz damit, dass sie lieber nach Verbindungen zwischen künstlerischen Praxen unterschiedlichster Generationen suche, als Systeme zu erschaffen, die sich auf «inheritance» und «conflict» – Erbe und Konflikt – gründen. Wie soll man das verstehen?

Die Zeit zwischen den Weltkriegen: In der Wiege der Hexe. Marco Cappeletti/Courtesy La Biennale di Venezia

Nachvollziehen lässt sich das vielleicht in ihrer ersten Zeitkapsel, die sie als «Wiege der Hexe» bezeichnet. Es ist ein abgedunkelter Raum im Zentralen Pavillon, ausgelegt mit senffarbenem Teppichboden, in dem sie der Zeit zwischen den Weltkriegen nachspürt. Statt aber wie gewohnt auf die Kunstgeschichte zu treffen, die man unter den Labels Surrealismus und Futurismus abgespeichert hat und mit Werken von Salvador Dalí oder Filippo Tommaso Marinetti verbindet, verortet Alemani sie nicht nur zwischen Rom, Paris und Berlin. So bricht sie mit dem traditionellen Narrativ und zeigt weibliche und nichteuropäische Positionen.

Keine «Biennale der Wiedergeburt»

Ein Tanzfilm aus dem Jahr 1925 von Josephine Baker ist zu sehen, in dem sie mit sehr entblösstem Körper ihre Augen Pirouetten drehen lässt.

Magazinausgaben von «The Crisis» aus dem Jahr 1924, herausgegeben von W. E. B. Du Bois, und «Tropiques» aus dem Jahr 1941 von Aimé und Suzanne Césaire aus Martinique sollen von dem Einfluss der Négritude auf das Selbstbewusstsein der afrikanischen Diaspora und in den Kolonien erzählen. Auf dem «The Crisis»-Cover führt eine ägyptische Pharaonin selbstbewusst einen Löwen aus, während ein Mann einen Palmwedel über sie hält.

Daneben werden wasserfarbene Zeichnungen von Antoinette Lubaki gezeigt, die unter den Folgen der Gewaltherrschaft von Leopold II. von Belgien im Kongo lebte. Ein belgischer Sammler hatte ihre Werke 1926 in Hütten entdeckt und sie fortan mit Papier ausgestattet, nicht zuletzt, um sich ihre Kunst anzueignen.

Diese Geschichten allein wären umfangreiche Ausstellungen wert, um die koloniale Gewalt und die schwarzen Befreiungs­bewegungen überhaupt verständlich zu machen. Cecilia Alemani geht es jedoch um «Symbiose, Solidarität und Schwestern­schaft». Und sie glaubte in den vergangenen zwei Pandemie-Jahren, in diesem April 2022 «eine Biennale der Wiedergeburt» eröffnen zu können, auf der «wir das Ende der Pandemie feiern». Also stehen die Beiträge aus Kairo, Kongo oder auch Algerien in dieser Zeitkapsel neben ihren Kolleginnen aus Europa.

Man trifft hier also zum Beispiele auch auf Werke von Leonora Carrington, die 1917 in England geboren wurde, in London Kunst studierte und in Kontakt mit den Surrealisten kam. Nach ihrer Flucht vor den Nazis von Paris nach Mexiko-Stadt hinterliess sie im Zimmer ihres Sohnes phantasmagorische Kinderzeichnungen und Geschichten auf den Wänden, die der Schau auch ihren Titel schenken: «The Milk of Dreams».

Dass der Surrealismus gegenwärtig nicht nur die Kuratorin der Biennale von Venedig beschäftigt, zeigt sich in der Peggy Guggenheim Collection am Canal Grande. In der Schau «Surrealism and Magic: Enchanted Modernity» werden auch die Werke von Carrington gezeigt – in einer Auswahl zusammen mit ihren männlichen Kollegen, beispielsweise ihrem einstigen Lebensgefährten Max Ernst. Und in der Londoner Tate Modern weiss man ebenfalls, dass der «Surrealism Beyond Borders» nicht mehr als «Stil», sondern als state of mind rekonstruiert werden sollte, der Künstlerinnen, die die Realität unterwandern, auf der ganzen Welt verbindet.

Auf der Biennale in Venedig kommt man dennoch nicht umhin, an gegenwärtige Konflikte zu denken, die die Kultur und damit auch die Museen beispielsweise in Form von Restitutions­debatten erreichen, also der Rückgabe von Kunst an die Gemeinschaften, in denen sie entstand. Drehen sie sich nicht ausgerechnet um das, was Cecilia Alemani in der historischen Rückschau, in der sie die «Schwesternschaft» aller Künstlerinnen entdeckt, zu überwinden sucht? «Inheritance» – das Erbe und die Herkunft?

Goldene Löwen für Simone Leigh und Sonia Boyce

Ganz besonders in dem Land, in dem die Kuratorin wohnt, in den USA, wird heute über Formen von Aneignung, Macht und Repräsentation gestritten. Dass Alemani dies nicht in grösserem Massstab abbildet, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, welche Verantwortung wir anderen Mitmenschen gegenüber tragen, wirkt in der wirklich beeindruckenden Schau wie eine Leerstelle. (Alemani stammt übrigens selbst aus Italien und lebt in New York zusammen mit Massimiliano Gioni, der die Venedig-Biennale auch schon einmal kuratierte.)

Schweigend steht man deshalb auch vor der Skulptur «Brick House» von Simone Leigh, die als erste schwarze Künstlerin in der Geschichte den nationalen Pavillon der USA bespielt. Cecilia Alemani zeigte sie 2019 in New York auf der High Line, die sie als Chefkuratorin verantwortet. Damals ragte die Büste auf dem Trassee über der 10th Avenue in Manhattan. Nun begrüsst sie die Besucherinnen der Venedig-Biennale im ersten Ausstellungsraum des Arsenale. Ihr Kopf ruht auf einem Oberkörper, der einer Lehmhütte nachempfunden ist, ihr fehlen die Augen, sie starrt nicht zurück. «… that visibility which makes us most vulnerable is that which also is the source of our greatest strength», schreibt Audre Lorde über schwarze Frauen in den USA, ihre Essay-Sammlung «Sister Outsider» liegt im Shop der Venedig-Biennale zum Kauf bereit.

Am Samstagmittag wurde Simone Leigh mit dem Goldenen Löwen für «Brick House» ausgezeichnet.

Simone Leigh: «Sentinel». Timothy Schenk/Courtesy Simone Leigh und Matthew Marks Gallery
Im Atelier: Simone Leigh. Shaniqwa Jarvis/Courtesy Simone Leigh und Matthew Marks Gallery
Polyfone Melancholie: Der Pavillon von Sonia Boyce. Courtesy La Biennale di Venezia/ProLitteris, 2022

Den Goldenen Löwen für den besten nationalen Pavillon vergab die Jury an Sonia Boyce (Jahrgang 1962) aus Grossbritannien, auch sie ist die erste schwarze Künstlerin, die ihr Land auf der Biennale vertritt.

Erst vor ein paar Jahren wurde Boyce durch die Feuilletons getrieben, weil sie es tatsächlich wagte, einen alten (weissen) Meister von der Wand der Manchester Art Gallery zu nehmen. Es ging, wir erinnern uns, um das Gemälde «Hylas und die Nymphen» des Briten John William Waterhouse aus dem späten 19. Jahrhundert. Boyce liess das Bild im Rahmen einer eigenen Ausstellung abhängen, damit Besucherinnen sich einmal Gedanken über den sogenannten Kanon machen können – über die, die über ihn entscheiden, und die, die er ausschliesst. Zu der erhofften produktiven Debatte kam es allerdings kaum. Stattdessen rasteten die Kritiker leider nicht nur in ihrem Land aus und monierten die angebliche Zensur, durch die vollkommen irre gewordene politisch korrekte Vertreterinnen von Frauen- und Minderheiten­rechte ihre Kultur zerstören würden.

In Venedig lässt Sonia Boyce auf grossen Videoscreens nun die Stimmen von fünf schwarzen Musikerinnen erklingen, was eine so polyfone Melancholie verbreitet, dass man nicht weiss, ob man tanzen oder weinen soll.

Vor der Eröffnung erwähnte Boyce noch den Essay «Black Art and the Burden of Representation» von Kobena Mercer aus dem Jahr 1990, der sich um die schwerwiegende Verantwortung von schwarzen Künstlern dreht, repräsentativ für alle schwarzen Künstlerinnen und alle Schwarzen zu sein. Es spiele irgendwie keine Rolle, was sie zeige, sagte Boyce, weil sie wie eine Art Fragment für sie alle dastehe.

Wahrscheinlich ist es zu diesem Zeitpunkt, nach zwei Jahren Pandemie und während einige hundert Kilometer entfernt Bomben Ukrainerinnen aus ihren Häusern vertreiben, sie durch Soldaten misshandelt und vergewaltigt werden, richtig, in einer Kunstausstellung einen interlokalen und transhistorischen Feminismus zu behaupten. Vergessen werden dürfen dabei nur nicht die Unterschiede.

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