Binswanger

Wir sind nicht Zuschauerinnen

In der Ukraine häufen sich Kriegs­verbrechen, es drohen weitere Eskalationen. Es ist keine Option mehr, so zu tun, als ginge uns das in der Schweiz im Grunde alles nichts an.

Von Daniel Binswanger, 26.03.2022

Synthetische Stimme
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Seit einem Monat herrscht Krieg in Europa. Was viele Experten zu einem frühen Zeitpunkt vorhergesagt haben, bestätigt sich heute brutal: Je mehr Putins Truppen auf Widerstand stossen und Rückschläge einstecken müssen, desto heftiger schlagen sie los – auch gegen die Zivil­bevölkerung. Unerträgliche Bilder von Kriegs­verbrechen, massive Verstösse gegen das humanitäre Völker­recht beherrschen die Bericht­erstattung. Wie reagiert die Nato, die freie Welt? Kann sie die Kriegs­verbrechen unterbinden oder wenigstens eindämmen, ohne den Dritten Weltkrieg herauf­zubeschwören?

Solche sich immer noch beinahe surreal anfühlenden Fragen werden immer beherrschender. Für die Schweiz fügt sich allerdings noch eine weitere hinzu: In welchem Sinn gehören wir überhaupt zur «freien Welt»? Ist die Eidgenossenschaft ein verlässliches Mitglied der demokratischen Werte­gemeinschaft oder ein Luxus­kurort mit besonderem Geschäfts­modell, der die Sanktionen gegen Russland offiziell zwar mitträgt, haupt­sächlich aber darauf achtet, es bei der Umsetzung weniger genau zu nehmen als die ausländische Konkurrenz?

Standort­attraktivität ist eine relative Grösse. Selbst mit vollem Embargo kann die Eidgenossenschaft ein faktisches Oligarchen­paradies bleiben – ein Eindruck, der diese Woche durch Recherchen des Schweizer Fernsehens und das vorläufig andauernde Bekenntnis des Staats­sekretariats für Wirtschaft (Seco) zu weitgehender Passivität aufs Unschönste bestätigt wurde. Entscheidend dafür ist lediglich, dass Bern weniger genau hinschaut als etwa London oder Monaco. Schliesslich darf man nicht vergessen: Die Güter der Personen auf den Sanktions­listen werden vorderhand nur eingefroren. Wenn der Krieg einmal ein Ende hat, werden die blockierten Immobilien, Kunst­objekte und Bank­guthaben zum grössten Teil wohl wieder an ihre bisherigen Besitzerinnen zurück­gehen. Man würde den russischen Kleptokraten schliesslich auf keinen Fall etwas stehlen wollen. Das wäre geschäfts­schädigend.

An welchem Punkt die Welt unterdessen steht, mag eine per Brief­wechsel geführte Debatte zeigen zwischen Martin Wolf, dem ökonomischen Haupt­kommentator der «Financial Times», und Gideon Rachman, ihrem aussen­politischen Haupt­kommentator. Beide zählen zu den grossen Autoritäten der angel­sächsischen Weltpresse und können als nüchterne Analytiker gelten. Aber sie sind sich nicht einig.

Martin Wolf plädiert für ein direktes militärisches Eingreifen der Nato: «Ich komme zögerlich und unter Widerständen zu der Auffassung, dass die Nato bereit sein muss zu kämpfen», schreibt Wolf. Sein Argument ist im Wesentlichen, dass die Nato nicht passiv zuschauen kann, wenn unsere Werte mit Füssen getreten und schwerste Kriegs­verbrechen begangen werden; dass sie ihre militärische Glaub­würdigkeit verliert, wenn sie sich von der Bedrohung eines potenziellen Atom­krieges am Handeln hindern lässt; dass sie früher oder später Putin ohnehin in die Schranken wird weisen müssen und es besser ist, jetzt zu intervenieren, als in ein paar Jahren in Polen oder im Baltikum einen Krieg zu führen; dass die vermeintliche Minimierung des nuklearen Risikos genauso gut den gegenteiligen Effekt haben könnte und die Wahrscheinlichkeit eines Atomwaffen­einsatzes potenziell auch steigert.

Gideon Rachman hält dagegen: «Ich denke, dass eine Nato-Intervention die Tragödie der Ukraine zu einer globalen Tragödie machen würde.» Es sei schliesslich kein Zufall, dass die USA und die Sowjet­union es während des Kalten Krieges nie zu einer unmittelbaren bewaffneten Konfrontation kommen liessen; dass die Wahrscheinlichkeit einer unkontrollierten Eskalation im Falle eines direkten Zusammen­pralls zu hoch sei; dass es weiterhin das oberste Ziel bleiben müsse, die Wahrscheinlichkeit eines Atom­krieges um jeden Preis zu senken.

Es ist wohl unmöglich, aus heutiger Perspektive zu entscheiden, welcher der beiden recht hat. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass wir heute diese Doomsday-Szenarien mit aller Ernsthaftigkeit durchspielen müssen. Dieser Krieg geht uns alle an, auf ganz existenzielle Weise. Was auch immer unsere Haltung ist: Blosse Zuschauerinnen sind wir schon lange nicht mehr.

Wie ist das in der Schweiz zu bewerten, die ihre dringlichste Rolle immer genau darin erblickt hat: Zuschauerin sein? Unsere Bereitschaft, Putin entgegen­zutreten, wird schon von Rechts wegen viel geringer bleiben als diejenige der Nato-Staaten. Allerdings wird dieser Sonder­status mit jedem Kriegs­verbrechen noch etwas schwieriger zu rechtfertigen. Wenn das freie, demokratische Europa bedroht ist, stellt das de facto auch für die Eidgenossenschaft den Kriegs­fall dar. Natürlich gehört das Land nicht zur Nato und wird ihr wohl auch nie beitreten. Natürlich muss auch unter heutigen Bedingungen die militärische Neutralität nicht zwingend infrage gestellt werden. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns aus der Verantwortung stehlen können.

Hier liegt die Besonderheit dieses Konflikts: Er ist auch unserer. Nicht nur aufgrund der atomaren Bedrohung. Auch deshalb, weil uns ein Krieg in Europa viel näher geht als etwa ein Waffen­gang in Syrien. Die NZZ hat letzte Woche den Titel gesetzt: «Kiew ist uns näher als Damaskus», was schon beinahe wie unfreiwillige Satire wirkt. Besteht zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Flug­stunden wirklich ein so welt­stürzender Unterschied? Dennoch bringt diese Aussage die psychologische Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine auf den Begriff – und beschreibt ein weiteres Problem der Schweiz.

In der bisherigen globalisierten Welt ist es immer wieder zu entsetzlicher Gewalt und auch zu grossen Kriegs­verbrechen gekommen– in Afghanistan, im Irak, in Syrien, in vielen anderen Konflikt­zonen. Aber die Barbarei schien begrenzt auf ferne Welt­gegenden. Der Schrecken war im Bewusstsein der Öffentlichkeit gewisser­massen outsourced – und schien uns nur indirekt zu betreffen. Was der Russland-Ukraine-Krieg und die atomare Bedrohung nun schaffen, ist eine neue Globalisierung der Mitverantwortung.

Es ist keine Option mehr, so zu tun, als gehe uns das alles im Grunde nichts an. Aber können wir dennoch die Handels­plattform für russisches Öl und die diskreten Vermittler von Finanz­dienstleistungen und Luxus­immobilien bleiben?

Wir blicken entsetzt auf die Kriegs­verbrechen, welche die russische Armee in der Ukraine begeht. Es ist wichtig, dass sie denunziert und so gut als möglich dokumentiert werden. Es ist dringend wünschens­wert, dass es zu einer gerichtlichen Aufarbeitung kommen wird. Allerdings weist der Völker­rechtler Oliver Diggelmann zu Recht darauf hin, dass unsere Denunziation der Verbrechen gegen das humanitäre Kriegs­recht auch etwas Kompensatorisches hat. Das Haupt­verbrechen ist der Angriff auf die Ukraine als solcher. Solange der Krieg wütet, ist die Grenze zum Kriegs­verbrechen gegen Zivilisten potenziell sehr schnell überschritten.

Gelegentlich entsteht der Eindruck, dass wir auch deshalb über die russischen Verbrechen so schockiert sind, weil wir uns an die Fiktion klammern möchten, die Dinge könnten einen geordneten Gang nehmen, wenn die Invasoren sich nur an die Regeln halten würden. «Recht­mässigkeit» wird jedoch erst dann wieder entstehen, wenn dieser Krieg beendet ist. Putin muss gestoppt werden.

Der Horror der Bombardierungen und der realen Kriegs­führung macht jedoch auch überdeutlich: Alle nicht militärischen Mittel zur Abwehr der Invasoren müssen unbedingt mit aller Konsequenz ausgereizt werden. Eine Debatte über die Aufrüstung der Schweizer Armee erscheint unausweichlich, aber es ist ganz bestimmt nicht eine waffen­starrende Eidgenossenschaft, die einen essenziellen Beitrag leisten kann zur Friedens­sicherung.

Es sind zwei ganz andere Fragen, die entscheidend sind und denen wir uns stellen müssen.

Erstens: Was ist die Zukunft der Schweiz als Offshore-Plattform? Bei den Finanz­dienstleistungen, im Rohstoff­handel, auf dem Immobilien­markt, mit den Zollfrei­lagern? Die Standort­politik der Light-touch-Regulierung erweist sich heute in noch nie da gewesenem Mass als unhaltbar. In vielen Bereichen wird ein Umdenken nötig werden – mit Bezug auf Russland und darüber hinaus.

Zweitens: Was ist der Platz der Schweiz im Herzen von Europa? Diese immer noch unbeantwortete Frage steht heute im Zentrum. In erster Linie ist es die Nato, in zweiter Linie die EU, die jetzt die demokratische Werte­gemeinschaft verteidigen. Die Schweiz hat unter dem Krisen­druck bereits signifikante Annäherungs­schritte gemacht, etwa indem sie ihre Hilfe für ukrainische Flüchtlinge nun nach den EU-Standards ausgestaltet. Dieser Krieg macht klar, dass nur die europäische Staaten­gemeinschaft unsere Sicherheit garantieren kann. Nur sie teilt unsere Rechts­auffassung und unsere Werte. Wir müssen uns zu dieser Gemeinschaft bekennen. Wir müssen ein klares Bewusstsein entwickeln von unseren Abhängigkeiten – und von dem Beitrag, den wir zu leisten haben.

Es stellen sich existenzielle Fragen – und je länger sich die Kriegs­gräuel hinziehen, je mehr schutz­bedürftige Flüchtlinge in die Schweiz strömen, desto drängender werden sie. Die Einsätze könnten dramatischer nicht sein. Zeit für Antworten.

Illustration: Alex Solman

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