Pushbacks an der EU-Aussengrenze: Diese Geflüchteten auf einem Schiff der türkischen Küstenwache erzählen, die Griechen hätten sie in türkisches Gewässer zurückgeschafft. Bradley Secker/laif

Der Frontex-Report

Die Schweiz ist Teil der EU-Grenzwache. Und damit auch Teil von deren Widersprüchen: Einerseits muss Frontex Asyl- und Menschen­rechte achten, andererseits werden Menschen an der Grenze ebendiese Rechte verwehrt. Wer ist verantwortlich für dieses humanitäre Debakel?

Eine Recherche von Carlos Hanimann und Lukas Häuptli, 07.12.2021

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Als sich am 2. März 2021 in Basel der oberste Grenz­wächter der Schweiz und der oberste Grenz­wächter der EU treffen, reden sie über ein Thema, das an Europas Grenzen kaum mehr jemanden zu kümmern scheint: über Grund- und Menschen­rechte.

Beim Treffen legt der Schweizer Christian Bock dem Franzosen Fabrice Leggeri dar, warum an den Grenzen alle Rechte zwingend eingehalten werden müssten. Es gebe keinen funktionierenden Grenz­schutz ohne Grund­rechte. Grund­rechte müssten bei jedem Einsatz ausnahmslos gewährleistet sein.

Die Schweiz liest Europa die Leviten. Christian Bock pocht auf die Einhaltung der Menschen­rechte an den EU-Grenzen. So zumindest beschreibt seine Medien­abteilung das Treffen.

Bock trifft einen wunden Punkt. Die europäische Grenzschutz­agentur Frontex und ihr Chef Fabrice Leggeri sehen sich seit Monaten, ja Jahren mit schweren Vorwürfen konfrontiert. «Der Spiegel» hat gemeinsam mit anderen Medien aufgedeckt, dass Frontex direkt an systematischen Menschen­rechts­verletzungen beteiligt war oder solche beobachtete und tolerierte.

Ähnliche Vorwürfe waren immer wieder laut geworden. Die Grenz- und Küsten­wachen würden Geflüchtete abfangen und abschieben – in die Türkei, nach Libyen, nach Marokko, berichteten zahlreiche Medien und Nichtregierungs­organisationen. Häufig handle es sich dabei um verbotene sogenannte Pushbacks, bei denen beispiels­weise Flüchtlings­boote fahr­untüchtig gemacht, in fremde Gewässer geschleppt und dann ihrem Schicksal überlassen würden.

Für die Schweiz waren diese Menschenrechts­verletzungen während langer Zeit Schauer­geschichten von weit weg: ein Grollen in der Ferne, mehr nicht. Frontex war irgendeine EU-Behörde, über die kaum jemand genau Bescheid wusste. Und auch nicht wissen wollte. Doch das ändert sich gerade.

«Voller Angst und Mut zugleich»

Seit letztem Monat dringen deprimierende Bilder von der polnisch-belarussischen Grenze in die Schweizer Wohn­zimmer. Im Grenz­gebiet sind Migrantinnen und Flüchtlinge zu Hunderten, ja Tausenden gestrandet. Belarussische Soldaten drängen darauf, dass sie weiter in die EU ziehen, polnische Beamte aber haben die Grenzen dichtgemacht.

Malek Ossi mag die Bilder nicht mehr sehen: die in Decken gehüllten Familien aus Syrien, die am Feuer kauern. Die jungen Männer, die den Grenzzaun nieder­reissen wollen. Die polnischen und belarussischen Polizisten und Soldaten mit ihren Gewehren und Knüppeln.

«Das könnte auch meine Familie sein, die an der Grenze steht», sagt er über die Bilder. «Es könnten meine Eltern, meine Schwestern, meine Brüder sein.»

Ossi stammt aus Nordsyrien. Vor sechs Jahren floh er in die Schweiz; nicht über Belarus, sondern über die Türkei, Griechenland und via die Balkan­route. Er hatte sich 2011 der Revolution gegen den syrischen Diktator Bashar al-Assad angeschlossen. Ossi konnte sich nicht mehr frei bewegen und musste im Sommer 2015 seine Heimat verlassen.

«Ich weiss, was es heisst, wenn hinten das türkische Militär steht und vorne die griechische Polizei wartet», sagt Ossi. Eine Woche lang versteckte er sich mit Dutzenden anderen Geflüchteten in einem Wald. Dann wagte er sich über den Grenz­fluss Evros, der damals von den griechischen Behörden und von Beamten der EU-Grenzschutz­agentur Frontex bewacht wurde.

«Du bist voller Angst und Mut zugleich», erinnert sich Ossi. «Du willst einfach nur überleben.»

Er schaffte es über den Fluss. Auf der anderen Seite verhafteten ihn griechische Grenz­beamte und steckten ihn für neun Tage ins Gefängnis. Jetzt, sechs Jahre später, sitzt er in einem Café in Zürich und erklärt, warum er gemeinsam mit anderen Aktivistinnen des «Migrant Solidarity Network» das Referendum gegen die Erhöhung der Schweizer Beiträge an die EU-Grenz­schutz­behörde ergriffen hat.

Die Schweizer an Europas Grenzen

Die Schweiz beteiligt sich seit 2011 an Frontex – weil sie sich als Mitglied des europäischen Schengen-Raums daran beteiligen muss. Der Bundes­rat hatte das entsprechende Abkommen 2004 unterzeichnet, die Stimm­berechtigten stimmten ihm ein Jahr später zu.

Aus diesem Grund leisten Grenzwächter des Bundes seit zehn Jahren Dienst an Europas Aussen­grenze. Auch dieses Jahr standen rund vierzig Beamtinnen im Einsatz. Manche direkt an der Grenze, andere arbeiten als Befrager, Analystinnen oder Dokumenten­spezialisten. Daneben sind seit diesem Jahr laut Zoll­verwaltung zwei Schweizerinnen als sogenannte Grundrechts­spezialistinnen bei Frontex tätig.

Die Schweiz zahlt rund 14 Millionen Franken an die europäische Grenz­schutz­behörde. Bis 2027 soll der Beitrag auf 61 Millionen Franken erhöht werden. Nach dem Willen von Bundesrat und Parlament stehen dann bis zu 75 Schweizer Grenz­wächter im Frontex-Dienst.

Beamte der türkischen Küstenwache im Juli 2021 vor der türkischen Stadt Kuşadası, 100 Kilometer südlich von Izmir. Bradley Secker/laif
Die Crew überwacht das Gewässer zwischen der türkischen Küste und der griechischen Insel Samos. Bradley Secker/laif

Was aber ist Frontex überhaupt? Gegründet wurde die Behörde 2004 als Folge des besagten Schengen-Abkommens. Dieses sah die Abschaffung der Grenz­kontrollen in weiten Teilen Europas vor. Im Gegenzug sollten die europäischen Aussen­grenzen besser vor illegalen Migrantinnen, Schleppern, Schmugglerinnen, Straf­tätern und Terroristinnen geschützt werden.

Das war und ist das offizielle Ziel von Frontex: für die Sicherheit Europas zu sorgen.

Seit ihrer Gründung ist die Grenz­agentur gewachsen wie kaum eine Behörde in Europa. Am Anfang betrug ihr Budget rund 6 Millionen Euro. Heute liegt es bei knapp 550 Millionen, und bis 2027 soll es auf mehr als das Zehnfache ansteigen: auf rund 5,6 Milliarden Euro. Spätestens dann soll Frontex über 10’000 eigene Einsatz­kräfte für den Grenz­schutz verfügen.

Von 6 Millionen auf fast 6000 Millionen Euro in zwanzig Jahren – ein derartiger Ausbau einer Behörde müsste eigentlich viel Positives bewirken. In der Tat waren und sind die meisten Staats­chefs Europas voller Lob für die Grenzschutz­behörde.

Frontex heisst Grenz­sicherung, heisst Abschottung vor Migrantinnen, die viele europäische Staats­chefs als Problem sehen.

Andererseits ist Frontex mit einer Serie von Skandalen konfrontiert. Die EU-Agentur ist laut investigativen Recherchen in zahlreiche Menschen­rechts­verletzungen an der EU-Aussen­grenze verwickelt, die langjährige Menschen­rechts­beauftragte musste die Behörde resigniert verlassen, eine parlamentarische Untersuchungs­gruppe des Europa­parlaments stellte letzten Sommer in ihrem Abschluss­bericht verheerende Verhältnisse in der Agentur fest.

Erik Marquardt, Europa­parlamentarier der Grünen und Mitglied der Untersuchungs­gruppe, sagt: «Eines der grössten Probleme von Frontex ist, dass es keine Fehler­kultur gibt. Man will nicht aus Fehlern lernen, sondern eher Nebel­kerzen werfen, statt aufzuklären.» Die Agentur führe ein Eigen­leben und habe eine Art Parallel­realität aufgebaut. «Da muss man sich schon fragen, ob das Sinn ergibt, Frontex immer mehr Geld zu geben und die Agentur aufzublähen.»

Nach vier Monaten Untersuchung stellte Marquardt ernüchtert fest: «Frontex streitet alle Vorwürfe ab und behauptet damit, man wisse angeblich nicht, was an den EU-Aussen­grenzen vor sich geht. Das kann zweierlei bedeuten: Entweder verheimlicht die Behörde, was sie weiss. Oder sie macht einen so schlechten Job, dass sie tatsächlich nicht weiss, was passiert.»

Einiges spricht dafür, dass Ersteres zutrifft: Frontex verheimlicht.

Der Verdacht: Zehn­tausende illegal abgeschoben

Beat Schuler arbeitete drei Jahrzehnte für das Uno-Flüchtlings­kommissariat, von 2012 bis 2018 war er in Italien für den Rechts­schutz der Flüchtlinge zuständig. Er hat (auch Schweizer) Frontex-Personal in Grundrechts­kursen ausgebildet, war regelmässig in der Zentrale in Warschau und kennt die internen Mechanismen der Agentur. Und er war Chef der Malta-Mission des Uno-Flüchtlings­hilfswerks UNHCR und damit zuständig für Asyl- und Grundrechts­fragen im zentralen Mittel­meerraum.

Schuler sagt: «Pushbacks finden täglich statt. Die zuständigen Landes­behörden wissen das. Und Frontex weiss das auch.»

Zurück am Start: Die Geretteten gehen in der türkischen Stadt Kuşadası südlich von Izmir an Land. Bradley Secker/laif

Pushbacks aber verstossen gegen die Europäische Menschen­rechts­konvention und gegen die Genfer Flüchtlings­konvention. Diese besagen: Migranten müssen ein Asyl­gesuch stellen dürfen und haben Anrecht auf ein rechts­staatlich durchgeführtes Asyl­verfahren. Kollektive Abschiebungen dagegen sind illegal. Schon gar nicht dürfen Migrantinnen in Gefahr gebracht werden, etwa indem man sie ohne Motor auf einem Gummi­boot aussetzt.

Genau solche Vorfälle waren aber in den letzten Jahren dutzend­fach und im Detail dokumentiert worden: in der Ägäis, im zentralen Mittelmeer, auf dem Balkan. Auch im Frühling dieses Jahres, als der oberste Schweizer Grenz­schützer Christian Bock auf Fabrice Leggeri traf. «Für schutz­bedürftige Personen muss jederzeit die Möglichkeit bestehen, ein Asyl­gesuch einzureichen», schrieb die Schweizer Zoll­verwaltung nach dem Treffen in forderndem Ton.

Der Satz klingt banal. Aber er birgt eine zivilisatorische Errungenschaft, den Kern des Flüchtlings­rechts: Wer Schutz benötigt, muss zumindest angehört werden.

Die NGO Mare Liberum zählte 2020 allein in der Ägäis 321 Push­backs, bei denen rund 10’000 Menschen illegal zurück­gedrängt worden waren. Im Schwarzbuch Pushbacks – erstellt im Auftrag der Fraktion «Die Linke» im Europäischen Parlament – sind die Aussagen von insgesamt 12’654 Menschen gesammelt, die an Europas Grenzen kollektive Zurück­weisungen erlebten. Die Dunkel­ziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein. Hinzu kommen Tausende Menschen, die in den Gefängnissen der von der EU finanzierten libyschen Milizen festgehalten, gefoltert und versklavt werden und es gar nie auf ein Boot übers Mittel­meer schaffen.

Der ehemalige Uno-Mitarbeiter Schuler sagt, Frontex überwache die Grenzen mit Flug­zeugen und Schiffen und dokumentiere alles. Und wo die Agentur nicht selbst präsent sei, habe sie Verbindungs­offiziere, die im ständigen Austausch mit den lokalen Grenz­wachen stünden. «Frontex kann sich also nicht so leicht heraus­reden: Die Agentur weiss über jeden Pushback Bescheid», sagt Schuler.

Im Gummi­boot zurück in die Türkei

So war es auch in der Nacht vom 18. auf den 19. April 2020.

Es ist 22.58 Uhr, als die griechische Küsten­wache in Piräus Frontex über einen Zwischen­fall nördlich der Insel Lesbos verständigt.

Sieben Minuten später überfliegt ein Frontex-Aufklärungs­flugzeug die Gegend und entdeckt ein Gummi­boot mit etwa dreissig Personen an Bord. Das Flüchtlings­boot hat gestoppt, es befindet sich in griechischen Küsten­gewässern – eigentlich müssten die Griechen nun die Menschen in Sicherheit bringen und abklären, ob sie Recht auf Asyl haben.

Tatsächlich beginnen die Griechen, das Boot abzuschleppen. Frontex schiesst ein Foto: Die Geflüchteten sind an Bord der Küsten­wache. Alles scheint nach Vorschrift zu laufen. Doch dann geschieht etwas Unerwartetes.

Um 2.37 Uhr werden die Geflüchteten wieder in das Gummi­boot gesetzt. Einige Minuten später schiesst Frontex ein Foto davon, wie die griechische Küsten­wache das Gummi­boot in Richtung türkische Gewässer zieht. Und eine Stunde später, kurz bevor das Frontex-Flugzeug zurück an Land fliegen muss, schiesst es ein letztes Foto des Gummi­boots mit den Geflüchteten.

Es schaukelt ohne Motor in türkischen Gewässern. Die griechische Küsten­wache entfernt sich. Am Morgen melden die türkischen Behörden, man habe den Fall übernommen.

Die Geflüchteten sind wieder da zurück, wo sie gestartet sind.

Ein Beamter der türkischen Küstenwache sucht in der stockfinsteren Nacht nach einem gemeldeten Rettungsfloss mit Geflüchteten. Bradley Secker/laif
Die Afghaninnen auf dem Floss erzählen, die Griechen hätten sie mitten in der Nacht zurück in türkische Gewässer gezwungen. Bradley Secker/laif

Das alles hat Frontex selbst dokumentiert. In einem sogenannten Serious Incident Report, den zuerst «Der Spiegel» öffentlich machte, hielt die Grenz­schutz­behörde die Ereignisse jener Nacht fest.

Auch Exekutiv­direktor Leggeri wusste gemäss dem Bericht der Untersuchungs­gruppe über den Vorfall Bescheid und verlangte von den Griechen eine interne Untersuchung. Diese lehnten ab. Leggeri legte den Fall zu den Akten.

Im besagten Serious Incident Report heisst es abschliessend: Die präsentierten Fakten würden den Vorwurf einer möglichen Grund­rechts­verletzung stützen. Aber die Frontex-Dokumentationen würden auch beweisen, dass keine Frontex-Schiffe am Vorfall beteiligt waren.

Frontex hat bis heute nie zugegeben, dass die Agentur in Menschen­rechts­verletzungen verwickelt war.

Dabei seien seit Beginn der Corona-Pandemie an den EU-Grenzen insgesamt 40’000 Menschen illegal zurück­gedrängt worden, berichtete der «Guardian». 2000 Menschen seien in der Folge gestorben.

Aber niemand trägt die Verantwortung. Stattdessen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Und schon gar nichts tun.

Ein Muster, das sich in vielen Fällen wiederholt: So war es auch im Fall einer syrischen Familie. Einem Fall, der für Frontex aber juristische Konsequenzen haben könnte.

Organisierte Verantwortungs­losigkeit

Es war am 9. Oktober 2016, als die Familie auf dem übervollen Boot die Küste von Leros erreichte, einer griechischen Insel in der östlichen Ägäis. Dort bat sie – Vater, Mutter und vier Kinder im Alter von eins bis sieben – um Asyl. Sie seien Kurden, würden in ihrer Heimat vom syrischen Machthaber Assad verfolgt und seien über die Türkei und das Ägäische Meer geflüchtet. Über den Fall berichteten verschiedene Flüchtlings- und Menschen­rechts­organisationen, etwa Amnesty International und Not on Our Border Watch.

Elf Tage nach der Ankunft brachten die Behörden die Familie zum Flughafen auf der Nachbar­insel Kos. Ihm sei gesagt worden, erzählte der Vater später, er und seine Familie würden nach Athen zu Befragungen im Asyl­verfahren geflogen. Doch die Maschine, die Frontex gehörte, brachte die sechs Personen sowie zwölf weitere Flüchtlinge nicht nach Athen, sondern in die Stadt Adana zurück in die Türkei.

Dort steckten die Behörden Eltern und Kinder zuerst in ein Flüchtlings­lager und wiesen sie später an, das Land zu verlassen. Heute lebt die Familie im Irak.

«Die Abschiebung der Familie ist ein klassischer Pushback-Fall mit direkter Frontex-Beteiligung», sagt Lisa-Marie Komp. Sie arbeitet als Anwältin in einer grossen Amsterdamer Kanzlei und ist auf Grund- und Menschen­rechts­verletzungen spezialisiert.

Zusammen mit anderen Kanzlei­mitarbeitern vertritt Komp die Interessen der syrischen Familie. 2017 hatten die Anwältinnen bei Frontex eine Beschwerde sowie beim Europäischen Gerichts­hof für Menschen­rechte eine Klage gegen Griechenland eingereicht.

Drei Jahre später habe die europäische Grenz­schutz­behörde zwar eingeräumt, dass die Abschiebung der Familie illegal gewesen sei. Gleichzeitig habe sie aber erklärt, sie sei für die Rückführung gar nicht verantwortlich gewesen, sagt Komp. Frontex habe lediglich Flugzeug und Personal zur Verfügung gestellt.

Deshalb klagten Komp und ihre Kollegen im letzten September gegen Frontex vor dem Gerichts­hof der Europäischen Union in Luxemburg. Erstmals muss der Gerichts­hof im Rahmen einer Schadenersatz­klage einen Pushback-Fall beurteilen und klären, wer für die illegale Abschiebung verantwortlich ist.

«Meines Erachtens ist es symptomatisch, dass Frontex die gesamte Verantwortung für Menschen­rechtsverletzungen den jeweiligen Mitglieds­staaten überträgt», sagt Lisa-Marie Komp. «Das ist die Argumentations­linie, welche die Grenz­schutz­behörde seit Jahren verfolgt.»

Mit anderen Worten: Für illegale Aufgriffe und Abschiebungen übernimmt niemand Verantwortung.

Gerettet – und doch wieder am Ausgangspunkt: Eine afghanische Familie an Bord eines Schiffs der türkischen Küstenwache. Bradley Secker/laif

«Es ist ein riesiges Problem, dass die Verantwortung für die Menschen­rechts­verletzungen an der europäischen Aussen­grenze zwischen den Mitglieds­staaten und Frontex immer wieder hin- und hergeschoben wird», sagt auch Melanie Fink. Sie ist Assistenz­professorin für Europa­recht an der Universität im niederländischen Leiden, berät Nicht­regierungs­organisationen und EU-Institutionen in Grundrechts­fragen und beschäftigt sich mittler­weile seit mehr als zehn Jahren mit Frontex.

In dieser Zeit habe es immer wieder Fälle von mutmasslichen Menschen­rechts­verletzungen gegeben, sagt sie. «Frontex stellt sich dabei immer auf den Standpunkt, dass einzig derjenige Staat, auf dessen Territorium die Menschen­rechts­verletzungen begangen worden sind, für diese verantwortlich ist.» Dieser Standpunkt sei aber aus völker­rechtlicher und europa­rechtlicher Sicht schlicht falsch, sagt Fink. «Es können auch andere Akteure verantwortlich sein, etwa indem sie bei Menschen­rechts­verletzungen mithelfen oder diese nicht verhindern. Und zu diesen Akteuren kann zweifellos auch Frontex gehören.»

«Es geht um die Darstellung von Migration als Gefahr»

Frontex, Pushbacks und die Menschen­rechte. Die Grenz­schutz­behörde der EU gibt sich zumindest den Anschein, die Probleme angehen zu wollen: Sie schuf Stellen für vierzig Grundrechts­expertinnen.

Doch bei der Umsetzung hapert es: Bis Anfang Jahr hätten die Experten ihren Dienst bei Frontex antreten sollen. Tatsächlich aber arbeitet erst ein Bruch­teil davon für die EU-Agentur (unter ihnen zwei Schweizer Expertinnen).

Rascher soll die Agentur ausgebaut werden. In den nächsten Jahren wird Frontex 10’000 eigene Grenz­wächter ausbilden. Auch die Schweiz beteiligt sich an diesem Ausbau.

Das Parlament genehmigte letzten Sommer einen Antrag des Bundes­rats, Frontex in Zukunft mit 61 Millionen Franken im Jahr zu unterstützen. Dazu kommt die Unterstützung durch zahlreiches Personal.

Künftig soll die Schweiz also noch stärker bei Frontex eingebunden sein. Der Syrer Malek Ossi und seine Mitstreiterinnen vom Referendums­komitee wollen das verhindern. Die Unterschriften­sammlung für das Referendum läuft; bis jetzt haben rund 10’000 Personen unterschrieben.

Ossi ist zuversichtlich, dass die nötigen 50’000 Unterschriften zusammen­kommen. Dann, so hofft Ossi, würde in der Schweiz breit über Frontex debattiert. «Es geht um Überwachung, um Gewalt an den Grenzen, um Menschen­rechte, um die Darstellung von Migration als Gefahr», sagt er. «Wenn ich an Frontex denke, dann sehe ich in erster Linie Gewalt. Davor darf die Schweiz die Augen nicht verschliessen.»

Worte und Taten

Am 2. März 2021 soll der oberste Schweizer Grenz­wächter Christian Bock dem Frontex-Direktor Fabrice Leggeri ins Gewissen geredet und ihn daran erinnert haben, wie wichtig die Einhaltung der Grundrechte ist.

Vielleicht war das tatsächlich so.

Vielleicht aber auch nicht.

Die offizielle Schweiz ist bis jetzt nämlich immer ohne grosses Wenn und Aber hinter der Arbeit von Frontex gestanden. So wie SVP-Bundesrat Ueli Maurer, Bocks politischer Vorgesetzter.

Es war im letzten Juni, als der Ständerat über die Erhöhung der Schweizer Beiträge an die EU-Behörde debattierte. Da sagte Maurer: «Das hier ist nicht eine Vorlage, um die Welt zu verbessern, sondern eine Vorlage, um die Sicherheit zu stabilisieren.»

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