Alte Mitte, neues Team
Was lässt sich aus dem Resultat der deutschen Wahlen lesen? Zum Beispiel, dass die Pandemie nicht die politischen Extreme beflügelt hat. Sie führt zu Austauschbewegungen in der Mitte.
Von Daniel Binswanger, 02.10.2021
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Die Bundestagswahlen sind am letzten Sonntag recht überraschungsfrei über die Bühne gegangen. Schwer enttäuscht kann man trotzdem davon sein, dass die Grünen zwar fast 6 Prozentpunkte zugelegt haben, aber so klar und deutlich hinter die Spitzenposition zurückfielen, die sie noch im Mai im Kanzlerkandidatenfeld einnahmen. War das nun die Klimawahl? Eindeutig nicht.
Gemäss einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ist im Übrigen kein einziges der Parteiprogramme der im Bundestag vertretenen Parteien ausreichend, um die Pariser Klimaziele zu erreichen – nicht einmal das der Grünen. Das ist ein beängstigender Befund. Die Klimapolitik rangiert in allen Meinungsumfragen ganz weit oben auf der Liste der Themen, welche die Wählerinnen beschäftigen. Dennoch bringt keine einzige deutsche Partei den politischen Willen auf, diesem Thema gerecht zu werden. Noch immer scheinen die Parteien zum Schluss zu kommen, dass dafür die Kosten – die wirtschaftlichen und die politischen – zu hoch sind.
Was lassen sich aus den Wahlen sonst für Schlüsse ziehen? Ein Ergebnis, das die Kommentatoren am allereifrigsten aufnehmen, ist die Tatsache, dass bei Erstwählerinnen sowohl die FDP als auch die Grünen sehr gut abgeschnitten haben, die FDP sogar noch etwas besser. Haben wir da so etwas wie eine breite «grünliberale» Dynamik, fragt man sich aus Schweizer Perspektive.
Es ist tatsächlich bemerkenswert, dass ausgerechnet Gelb und Grün bei der Jugend am besten ankommen sollen. Laut der zitierten Studie zu den Wahlprogrammen ist das grüne Programm, wenn auch ungenügend zur Erreichung der Klimaziele, so doch das mit Abstand klimafreundlichste. Das FDP-Programm wiederum ist mit Abstand das klimaunfreundlichste von allen. Sofern es also so etwas wie einen grünliberalen Grundimpetus unter jungen Deutschen geben soll, zeichnet er sich vor allem aus durch eine massive Widersprüchlichkeit. Hin- und hergerissen zwischen Wirtschaftsfreundlichkeit und Ökologie, zwischen eisernem Willen zur Steuersenkung und dem Wunsch nach einer nachhaltigen Infrastruktur. Ist das in der Schweiz so fundamental anders?
Sofern es nicht der Klimaschutz sein kann, stellt sich also die Frage, ob es ein anderes politisches Entscheidungsmotiv gibt, das die Grünen und die FDP teilen und das betrachtet werden könnte als der Motor einer neuen gesellschaftlichen Dynamik. Es gibt hier wohl zwei Wirkungsfaktoren. Zum einen die schnell zunehmende Mehrheitsfähigkeit einer progressiven, gesellschaftspolitischen Agenda. Hier gibt es tatsächlich eine gemeinsame Wertebasis des grünen und des liberalen Milieus. In der Bundesrepublik liegt allerdings noch ein zweiter Faktor auf der Hand: die simple Nichtbeteiligung an der bisherigen Regierung. Wenn die Bundestagswahlen eines an den Tag legen, dann dass die jungen Wähler einen Neuanfang wollen: endlich eine Alternative zur ewigen Grossen Koalition, zu den verknöcherten, bisherigen Regierungsparteien.
Erstaunlich ist, dass dieser Erneuerungswunsch sich zwar auf beiden Seiten des politischen Spektrums manifestiert, sowohl zugunsten der linken Grünen als auch zugunsten der letztlich rechts verorteten FDP, dass die äussere Linke (Die Linke) und die äussere Rechte (AfD) davon aber nicht profitieren. Die Bürger wollen Erneuerung, sie haben genug von der Grossen Koalition einer diffusen politischen Mitte. Aber auch die Erneuerung soll stattfinden in eben dieser Mitte. Man will im Grunde ein anderes, hoffentlich effizienteres Team, nicht eine andere, hoffentlich bessere Ideologie.
Es würde einleuchten, wenn diese Haltung eine Folge der Pandemie wäre. Bisher haben Querdenker, Freiheitstrychler und andere Manifestationen der Pandemie-getriebenen Radikalisierung die Schlagzeilen bestimmt. Diese Phänomene sind real, und wir sollten sie ernst nehmen. Eine potenziell viel wirkungsmächtigere Reaktion auf die Covid-Erfahrung könnte jedoch sein, dass die Wählerinnen gegenüber Regierungsversagen empfindlicher werden. Dass sie inkohärente Massnahmenkonzepte, Impftrödelei und schlampige Präventionsstrategien nicht primär als ideologisches, sondern als Managementproblem betrachten. Sie sehnen sich nicht nach Parteienvertretern mit einer anderen Weltanschauung (ausser bezüglich Fragen der gesellschaftspolitischen Modernisierung), sondern mit überzeugenderen Fähigkeiten.
In der aktuellen Lage haben die Bisherigen einen massiven Malus – jedenfalls bei der jungen Bevölkerung. Dieser Tendenz entgegen stand lediglich Olaf Scholz, der von einem seltsamen Kanzlerinnen-Bonus zum Sieg getragen wurde.
Sollte sich diese Entwicklung auch in der Schweiz manifestieren, könnte das sehr einschneidende politische Folgen haben. Auch in der Schweiz gibt es zwei Parteien im Aufwind, die nicht an der Regierung teilnehmen, eine links und eine rechts: die Grünen und die Grünliberalen. Auch sie haben eine gemeinsame Basis, die sich im Wesentlichen auf die Gesellschaftspolitik beschränkt. Auch sie können zu den naheliegenden Alternativen zur SP und zu den Freisinnigen werden. Wenn sie noch einmal, wie schon bei den letzten Wahlen, ein substanzielles Wachstum auf Kosten der Regierungsparteien hinbekommen, wird sich schon 2023 die Frage nach einem grundlegenden Umbau des Bundesrates stellen.
Das einzige europäische Land, das von einer starren, noch viel älteren «grossen Koalition» regiert wird, als das bisher in Deutschland der Fall war, ist schliesslich die Schweiz. Dass hierzulande das Covid-Management professioneller sei als in der Bundesrepublik und weniger Anlass zu Unmut gebe, wäre eine sehr gewagte Hypothese. Wird die «grünliberale» Dynamik greifen wie in der Bundesrepublik? Dann spräche wenig dagegen, dass ein SP-Sitz an die Grünen und ein FDP-Sitz an die Grünliberalen geht. Das Einzige, was momentan noch unentschieden erscheint, ist die Frage, ob die GLP schon bei den nächsten Wahlen genug gross werden wird, um diesen Anspruch glaubwürdig erheben zu können. Sollte das nicht gelingen, wird wohl alles noch einmal beim Alten bleiben, ganz einfach, weil man kaum der SP einen Sitz wegnehmen kann und der noch schwächeren FDP nicht.
Eins aber wird gleich sein wie in Deutschland: Die Erneuerung findet statt in einem ideologischen Rahmen, der sich nicht sehr einschneidend verändern wird. Neue Verantwortliche, altes Programm. Würde das reichen für eine ökologische Wende? Auch in der Schweiz ist das mehr als zweifelhaft.
Illustration: Alex Solman