Schellen-Ueli
Das Land ist in einer ernsten politischen Krise, und Bundesrat Ueli Maurer provoziert mit dem Bruch des Kollegialitätsprinzips. Ist das ein Schweizer Sonderfall? Nein, leider nicht.
Von Daniel Binswanger, 18.09.2021
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«Die Welt als T-Shirt» heisst ein klassischer Essay des Schweizer Kunsthistorikers Beat Wyss. Er denunzierte Ende der 1990er die Infantilisierung eines Kultur- und Mediensystems, in dem alles mit allem austauschbar schien und das letzte Gütekriterium für Kunstproduktion ihr Merchandising-Potenzial geworden war.
«Politik als T-Shirt» wäre wohl der Slogan für die aktuelle Infantilisierung der Schweizer Öffentlichkeit. Polit-Merchandising mit Massentauglichkeit und Durchschlagskraft hat allerdings die fatale Eigenschaft, zu leider sehr ernsthaften Konsequenzen zu führen.
Dass Bundesrat Ueli Maurer eine Provokation vom Stapel lässt, gegen das Kollegialitätsprinzip verstösst und das Regierungshandeln unterminiert, ist weiss Gott nichts Neues. Es ist so sehr nichts Neues, dass man nicht einmal mehr müde gähnen mag. Dennoch ist die immer virtuosere Selbstunterbietung des SVP-Magistraten ein Phänomen, dem wir Beachtung schenken müssen. Leider.
Zum einen macht die bedrohliche sanitarische Situation, in der die Gefahr eines Zusammenbruchs des Spitalsystems weiterhin akut bleibt, den maurerschen Sololauf zu einem beispiellosen Akt der Verantwortungslosigkeit. Maurer hat wie jeder Bundesrat gegenüber der Bevölkerung eine Fürsorgepflicht. Es wäre sein Auftrag, Impfverweigerer und Massnahmenkritiker, auf die er mehr Einfluss haben dürfte als jedes andere Regierungsmitglied, so gut als möglich abzuholen und von der Impfung zu überzeugen. Sich bei den radikalsten Impfskeptikern anzubiedern, ihre Positionen wortlos und unzweideutig zu bekräftigen, hat den gegenteiligen Effekt.
Zum anderen ist die Strategie der permanenten Grenzüberschreitungen weder ein herzerwärmender Fall von Verschrobenheit, der auf Maurers «bodenständigen Charakter» zurückzuführen wäre, noch ist sie ein besonderer Effekt des Schweizer Regierungssystems, den man mit Sonderfall-Stolz belächeln und als unbedenklich verbuchen könnte. In zahlreichen Demokratien tut sich der aggressive Populismus durch exakt dieselben Strategien des permanenten Regelbruchs hervor. Kollegialität als Regierungsprinzip ist dafür keine Voraussetzung. Maurers Freiheitstrychler-Stunt ist nichts als die hässliche Fratze einer radikalisierten Rechten, die sich rund um den Globus beobachten lässt. Und wie wir gerade feststellen: Er entfesselt dieselbe Dynamik der Gewalttätigkeit.
Was ist geschehen? Am letzten Sonntag besuchte der Finanzminister einen Ortsparteianlass der SVP Wald und liess sich dort ablichten in einem T-Shirt mit dem Logo der sogenannten Freiheitstrychler, umgeben von Anhängern, die dasselbe T-Shirt trugen. Trychler gehören an sich zur traditionellen Folklore und sind nicht politischer als Jodlervereine. Die Freiheitstrychler jedoch sind eine radikale Organisation, denunzieren die Schweizer Regierung als Diktatur und tauchen an sämtlichen unbewilligten Demonstrationen auf – auch überall dort, wo zum Sturm der Regierungsgebäude aufgerufen wird.
Diesen Donnerstag, spätabends, fand das Skript der T-Shirt-Aktion die Fortsetzung, die früher oder später kommen musste: Ein Demonstrationszug, der angeführt wurde von den Freiheitstrychlern, endete mit dem Versuch, das Bundeshaus zu stürmen. Die Berner Polizei setzte Gummischrot und Reizgas ein und beklagt einen Verletzten. Begleitet wurde der Angriff aufs Parlament von lautstarken «Ueli, Ueli»-Rufen. Ständeratspräsident Alex Kuprecht von der SVP Schwyz zeigte sich am Freitagmorgen schwer erschüttert und erklärte, er verstehe die Welt nicht mehr.
Vielleicht sollte er mal bei seinem Bundesrat anrufen. Der könnte ihm ein paar Dinge erklären.
Oder ist alles nur ein unglücklicher Zufall, eine bedauerliche Koinzidenz von isolierten Einzelaktionen? Am Freitagnachmittag erklärte Bundesrat Maurer ganz plötzlich, es sei nur ein grosses Missverständnis. Das T-Shirt habe er lediglich fünf Minuten getragen, er habe doch nicht wissen können, wofür die Freiheitstrychler politisch stünden. Woher auch?
In der Regel kommt bei der Volkspartei das Messaging jedoch sehr organisiert und kohärent daher. Am Donnerstagmorgen erschien jedenfalls ein Interview von Christoph Blocher in der NZZ, in dem er die maurersche T-Shirt-Botschaft weder kritisierte noch relativierte, sondern in wohlformulierten Sätzen selber vortrug: Wer, so Blocher, wollte «Solidarität mit freiheitlich Andersdenkenden» verurteilen? Die Freiheitstrychler seien «ehrsame Bürger», «rechtschaffene Leute», «Naturburschen», von denen viele «in ihrem ganzen Leben noch nie beim Doktor» gewesen seien. «Ich teile die Einstellung nicht, aber ich respektiere sie», meinte der Ex-Bundesrat. Und ganz besonders wichtig: Nicht die Trychler seien auf den Intensivstationen, sondern Bürger mit Migrationshintergrund.
Innerhalb von nur vier Tagen hat es die T-Shirt-Botschaft der freiheitlichen Impfverweigerung von einem Bauernhof in Wald auf die Frontseite der NZZ geschafft, ins Herz der bürgerlichen Meinungsmacht. Eines muss man der SVP wirklich zugutehalten: Es wird ihr von den vermeintlich staatstragenden Kräften dermassen eilfertig der rote Teppich ausgerollt, dass es gar nicht nachvollziehbar wäre, wenn die Volkspartei nicht auf ihre Provokationsstrategie setzen würde.
Die oberste Regierungsspitze und der mächtigste Politiker des Landes solidarisieren sich also mit politischen Organisationen, die zum Widerstand gegen «Diktatur» aufrufen, sich an gewalttätigen Aktionen beteiligen und das Parlamentsgebäude stürmen wollen. Das kommt Ihnen irgendwie bekannt vor? Das sollte es tun. Inwiefern unterscheidet sich das trumpsche «We love you», «You are very special people», das er an den Mob richtete, der das Kapitol erstürmte, von Blochers Hommage auf «Naturburschen» und «ehrenwerte Bürger»?
Sicherlich: In der Schweiz wird alles halb so heiss gegessen, noch hat es keine Toten gegeben. Extremismusexperten warnen jedoch nachdrücklich davor, dass wir an dem Punkt stehen, an dem sich das auch ändern könnte. Ob die Führung der Volkspartei damit rechnet?
Der Vergleich mit den USA ist noch aus einem anderen Grund instruktiv: Das Regierungssystem der amerikanischen Demokratie unterscheidet sich zwar stark von demjenigen der Schweiz, aber es gibt eine bemerkenswerte Parallele: Beide Länder haben ein Exekutivmodell, das in besonderem Masse nur dann funktionieren kann, wenn informelle Regeln eingehalten werden. Unter den Bedingungen der aktuellen politischen Radikalisierung macht das beide Länder besonders verwundbar.
In den USA verfügt die Regierung über sehr massive zentralisierte Macht – kann aber durch weitgehende checks and balances am Ausüben dieser Macht auch gehindert und paralysiert werden. Die amerikanische Demokratie ist deshalb darauf angewiesen, dass die checks and balances nicht missbraucht werden und dass die Oppositionspartei beim Ausspielen ihrer Blockademacht nicht so weit geht, wie sie es staatsrechtlich könnte. Es braucht einen informellen Minimalkonsens, der das Regierungshandeln trägt. Inzwischen ist gut untersucht, wie in den USA diese Kultur einer überparteilichen Anständigkeit, die Bedingung für das Funktionieren des Systems ist, über die letzten dreissig Jahre systematisch zerstört wurde, was die Voraussetzungen für den Triumph des Trumpismus schuf.
In der Schweiz verfügt die Landesregierung über vergleichsweise wenig Macht und hat als Kollegialbehörde einen konstanten Balanceakt zu vollführen. In vielen Kommentaren zur T-Shirt-Aktion stand zu lesen, es sei skandalös, dass Bundesrat Maurer das Kollegialitätsprinzip «ritzt». Das ist in dieser Form nicht richtig: Es gehört zur helvetischen Kollegialitätskultur, dass sie keine unverhandelbare Vorgabe ist und dass sie auch mal geritzt werden kann. Bundesräte sind einerseits Mitglieder einer über den Parteien schwebenden Regierung – und andererseits sind sie Parteienvertreterinnen. Nur wenn sich die Bundesräte vollkommen von ihren Parteien entkoppeln würden, könnte die Regierung mit einer einzigen Stimme sprechen und das Kollegialitätsprinzip hundertprozentig umsetzen. Das Ziel des Schweizer Systems ist aber nicht die Entkopplung, sondern die Vermittlung: Die Bundesräte sollen unabhängig von den Parteien die Regierungsentscheide mittragen, aber sie sollen zu den verschiedenen politischen Kräften auch die Verbindung herstellen.
Das Kollegialitätsprinzip steht zwar in der Bundesverfassung, aber es ist weniger ein formelles Gesetz als eine immer wieder neu zu interpretierende Kultur der Zurückhaltung, der Loyalität und des überparteilichen, konstruktiven Verhaltens. Deshalb wird elastisch umgegangen mit der Kollegialität, und es wird akzeptiert, wenn ein Politiker sie wirklich nur ausnahmsweise und nur im Falle eines ganz grundsätzlichen Dissenses unterläuft. Es ist wie im normalen Leben auch: Kollegialität setzt keine absoluten Grenzen, sondern besteht aus einem diffusen Set von Anstandsregeln, welche die Vorbedingung schaffen für das Funktionieren der Zusammenarbeit.
Genau hier liegt jedoch das Problem: Gesetze lassen sich einklagen, vom Anstand gilt das nicht. Niemand kann Ueli Maurer an seinen T-Shirt-Stunts hindern. Seine Regierungskollegen, die jeden Tag darum kämpfen, dass das Spitalsystem nicht zusammenbricht und die Todeszahlen nicht durch die Decke gehen, sind solchem Verhalten ausgeliefert. Und wie massiv und gewaltsam auch immer die politischen Folgen der Freiheitstrychler-Verbrüderung sein mögen: Verbieten kann man diese nicht.
Der Bruch der Regeln, ganz besonders der informellen Regeln, wird zunehmend zum politischen Kampfmittel. Das gilt von der Schweiz genauso wie von anderen Ländern. Die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl hat am Montag in Zürich ihr neues Buch über «Radikalisierten Konservatismus» vorgestellt. Sie analysiert jene populistischen, neurechten Kräfte, die in den verschiedensten westlichen Ländern die Grundlagen der Demokratie unterminieren. Dazu entwirft sie ein nützliches, überall anwendbares Toolkit, um die politischen Strategien dieser Bewegungen zu analysieren. An erster Stelle steht der Regelbruch.
Wer gegen altbewährte Spielregeln verstösst, erregt Aufmerksamkeit, erhält die Chance zu medialer Selbstinszenierung, befeuert die Polarisierung und kann sich, ganz egal, über wie viel Regierungsmacht er de facto verfügt, als Freundin des Volkes, der Underdogs, der Ausgeschlossenen inszenieren – je nach Bedarf sogar im Namen von Respekt, Toleranz und Versöhnung. Es ist kein Zufall, dass Maurer in Sachen Bruch des Kollegialitätsprinzips ein Serientäter ist und lediglich konstant die Dosis erhöht.
Den politischen Kräften, die auf Regelbrüche und das aggressive Anheizen der Polarisierung setzen, bietet sich in der heutigen Lage eine einmalige Chance. Welchen Preis wird die Schweiz für die Krise des Impfwiderstandes, die nicht nur eine epidemiologische, sondern mehr und mehr auch eine politische Krise ist, bezahlen müssen? Er könnte hoch sein.
Illustration: Alex Solman