Die Folgen eines hemmungslosen Abstimmungskampfs
Mit Videos voller drastischer Gewaltszenen haben Unbekannte die Befürworter der Konzernverantwortungsinitiative diffamiert. Das sei ehrverletzend, sagt jetzt der Verein der Initiantinnen und hat Strafanzeige eingereicht.
Von Brigitte Hürlimann, 27.04.2021
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Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt – zumindest dem bekannten Sprichwort nach. Aber was ist mit der Politik? Wie weit darf man beispielsweise in einem Abstimmungskampf gehen, um die eigene Position zu stärken? Und wann wird die Ehre des politischen Gegners derart in den Dreck gezogen, dass die Kampagne vors Strafgericht gehört?
Diese Frage will aktuell der Verein Konzern-Initiative klären. Zwar ist der Abstimmungskampf um die von ihm lancierte Konzernverantwortungsinitiative (Kovi) vorbei. Sie scheiterte am 29. November 2020 am Ständemehr. Der Verein hat aber jüngst entschieden, sich nicht aufzulösen, sondern weiterzukämpfen. Und ebenfalls noch nicht abgeschlossen ist die Aufarbeitung des ungewöhnlich intensiv und gehässig geführten Abstimmungskampfs. Sie wird auch für die künftige politische Auseinandersetzung von Bedeutung sein.
Zwei Videos mit verstörenden Bildern
Am 16. Februar hat der Verein Konzern-Initiative Strafanzeige gegen einen Zürcher SVP-Gemeinderat und allfällige Mittäterinnen, Anstifter oder Gehilfen erstattet. Der Politiker arbeitet für die PR-Agentur Goal, deren Chef Alexander Segert bekannt ist für seine unzimperlichen Werbefeldzüge für die SVP. Hintergrund der Strafanzeige sind zwei bis heute einsehbare Videos, in denen die Kovi-Unterstützerinnen als Randalierer, Linksradikale, Krawallantinnen oder Gewalttäter dargestellt werden.
Der Verein Konzern-Initiative, vertreten durch die Präsidentin Chantal Peyer von «Brot für alle» und Vizepräsident Andreas Missbach von Public Eye, vermutet, dass der SVP-Politiker in seiner Funktion als Goal-Mitarbeiter für die beiden Videos verantwortlich sei – zumindest mitverantwortlich oder an der Verbreitung beteiligt. Er habe einen der Filme als Erster über seinen persönlichen Facebook-Account publik gemacht.
Die Kurzfilme zeigen drastische, verstörende Bilder; Szenen von Anarchie und ausufernder Gewalt; Tötungen, Vergewaltigungen, Vertreibungen, kurz: die Verletzung elementarster Menschenrechte. Kinderleichen sind zu sehen, weinende Frauen, prügelnde Uniformierte, brennende Strassenzüge, Polizisten in Kampfmontur, eingeschlagene Fensterscheiben – und mehr. All das ist in Endzeitästhetik gehüllt, untermalt mit dramatischer Musik und ergänzt mit Textbeiträgen, die einen Zusammenhang zur Konzernverantwortungsinitiative herstellen. Am Ende der Filme erscheint ein Logo mit der Aufschrift «like schweiz».
Der Videobetrachterin wird unter anderem mitgeteilt: «Randalierer, Antifa, Linksradikale und gewalttätige NGO sind voller Hass. Und solche linken Krawallanten wollen uns jetzt vorschreiben, wie die Schweizer Wirtschaft zu funktionieren hat!» Oder: «Am 29. November NEIN zur heuchlerischen Unternehmensverantwortungsinitiative.» Stattdessen brauche es eine NGO-Verantwortungsinitiative.
Das pauschale Verunglimpfen von NGOs in diesem Abstimmungskampf hatte einen Grund: Der Verein Konzern-Initiative, der die Vorlage ins Leben gerufen und an die Urne gebracht hat, setzt sich aus einer breiten Koalition von Nichtregierungsorganisationen zusammen, die in den Bereichen Umwelt, Menschenrechte, Entwicklungspolitik oder Konsumentenschutz tätig sind.
Unterstützt wurde der Verein zudem von Vertretern aus Politik, Forschung, Wirtschaft oder der Landeskirchen. Kurz vor dem Abstimmungstermin prognostizierten die Umfragen eine mögliche Annahme. Landauf, landab prangten an den Häusern orange Kovi-Unterstützungsplakate. Die Nervosität und die Hektik aufseiten der Initiativgegnerinnen nahmen entsprechend zu.
Der gegenseitige Anstand und Respekt nahm im gleichen Masse ab.
Staatsanwaltschaft will nicht ermitteln
Die zwei beschriebenen Anti-Kovi-Videos wurden am 6. und am 10. November 2020 aufgeschaltet und unter anderem von einem Facebook-Profil mit dem Namen «like schweiz» verbreitet. Der St. Galler Rechtsanwalt Thomas Zogg, der den Verein Konzern-Initiative in dieser Strafsache vertritt, geht davon aus, dass die beiden Filme allein im November mehrere hunderttausend Mal angeschaut wurden. Und dass sie gesponsert wurden, um ihre Reichweite zu vergrössern, vermutlich mit rund 30’000 Franken, wie es im Strafantrag heisst.
Aber von wem? Und wer steckt hinter «like schweiz»? Darüber kann der Verein nur mutmassen. Die Urheber der Videos bleiben anonym, sie nennen ihre Namen nicht – das liesse sich allenfalls in einem Strafverfahren abklären.
Falls es überhaupt zum Strafverfahren und zur gerichtlichen Aufarbeitung kommen sollte.
Denn am 18. März, einen guten Monat nach Einreichen der Strafanzeige, traf beim Verein Konzern-Initiative Post von der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland ein: eine Nichtanhandnahmeverfügung.
Was bedeutet, dass die Strafverfolger der Sache nicht nachgehen wollen. Sie sind der Auffassung, dass von ehrverletzenden Inhalten keine Rede sein kann, eine «klare Straflosigkeit vorliegt», dass es nur schon am geringsten Anfangsverdacht mangelt. Dazu muss man wissen, dass es die Aufgabe der Staatsanwältinnen ist, im Zweifel eine Untersuchung durchzuführen. Es liegt später an den Gerichten, einen Beschuldigten im Zweifel freizusprechen.
Assistenz-Staatsanwalt Marc Estermann begründet die Tatsache, dass er den Fall nicht untersuchen will, folgendermassen:
Die beiden Videos nennen den Verein, der Anzeige erstattet hat, nicht namentlich. Erwähnt würden lediglich einzelne Mitglieder des Vereins, nämlich diverse NGO, jedoch nicht «die Gesamtheit dessen Mitglieder». Es werde «pauschal die Frage aufgeworfen», wer die Initiative unterstütze, und nicht suggeriert, die Unterstützer gehörten «gleichzeitig oder ausschliesslich» all jenen Gruppierungen an, die in den Videos dargestellt werden.
Die Filme würden «vom objektiven Zuschauer in einem rein politischen Kontext wahrgenommen». Im Rahmen des demokratischen Diskurses müsse eine «umfassende Kritik an einem Volksbegehren zulässig sein». Die Schwelle zum strafrechtlichen Ehrenschutz werde nicht überschritten. «Sodann weisen die fraglichen Beiträge auch keinen erkennbaren Bezug zum Anzeigeerstatter auf.»
Also Ende Feuer, was die strafrechtliche Aufarbeitung betrifft?
Noch nicht. Aber der Schützengraben wurde verschoben.
Wann ist ein Kampf nicht mehr fair?
Am 6. April verschickte der Verein Konzern-Initiative eine Beschwerde gegen die Nichtanhandnahmeverfügung ans Zürcher Obergericht. Verlangt wird deren Aufhebung – und dass die Staatsanwaltschaft angewiesen werde, eine Strafuntersuchung wegen mehrfacher Verleumdung oder eventuell wegen mehrfacher übler Nachrede einzuleiten. Beide Tatbestände gehören zu den Ehrverletzungsdelikten.
Es liegt nun an der III. Strafkammer des Obergerichts, darüber zu befinden, ob ein genügender Anfangsverdacht gegen den SVP-Politiker und allfällige Mittäterinnen, Anstifter oder Gehilfinnen vorliegt. Dieser äussert sich gegenüber der Republik nicht zur Strafanzeige, eine entsprechende Anfrage blieb unbeantwortet.
Rechtsanwalt Zogg sagt: Mit den beiden Videos sei die Schwelle zum strafrechtlichen Ehrenschutz deutlich überschritten worden. Auch in einem Abstimmungskampf, in dem sich private Akteure fast alles erlauben können – anders als die Behördenvertreter. Diese sind zur Zurückhaltung verpflichtet, weil «die Willensbildung grundsätzlich den gesellschaftlichen und politischen Kräften vorbehalten sein soll», wie es das Bundesgericht festgehalten hat. Abstimmungsempfehlungen und Erläuterungen sind zulässig, doch sie müssen «inhaltlich objektiv und hinreichend vollständig sein».
Behördenmitglieder dürfen nur ausnahmsweise in den Abstimmungskampf eingreifen (und auch nur dann, wenn sie es objektiv, verhältnismässig und transparent tun); wenn es triftige Gründe dazu gibt oder wenn es um die Richtigstellung «offensichtlich falscher Informationen von privater Seite» geht. So die mehrfach bestätigte Haltung des Bundesgerichts.
Ganz anders sieht die Situation der «privaten Akteure» aus. Sie dürfen poltern, übertreiben, sogar Unwahres behaupten und sich dabei auf die verfassungsmässig garantierte Meinungsäusserungsfreiheit berufen. Ihnen obliegt keine Pflicht zur Sachlichkeit, Transparenz, Verhältnismässigkeit oder Fairness. Das Bundesgericht geht davon aus, dass es den Stimmberechtigten zugemutet werden kann, Übertreibungen oder gar unwahre Behauptungen richtig einzuordnen.
Die Schwelle für eine strafrechtliche Sanktionierung der beiden martialischen Anti-Kovi-Videos liegt also sehr hoch, dessen ist sich der Verein bewusst. Rechtsanwalt Zogg verweist in seiner Beschwerdeschrift jedoch auf einen weiteren Grundsatz aus dem höchsten Gericht: dass sich auf die oben genannten Freiheiten im politischen Diskurs nicht berufen kann, wer seine Kampagne anonym führt – was bei den Videos der Fall sei, die ohne Absender veröffentlicht wurden. In einem Urteil aus dem Jahr 2002 schreibt das Bundesgericht, die öffentliche Debatte sei die Seele der direkten Demokratie. Sie müsse fair geführt werden.
Zur Fairness gehört für das Bundesgericht eine Debatte mit offenem Visier. Wer sich nicht daran halte, könne sich nicht auf die weitgehenden Freiheiten und Rechte im politischen Diskurs berufen. Die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland ist bei ihrer Nichtanhandnahme auf diesen höchstrichterlichen Entscheid nicht eingegangen.
Doch was gilt für die Kirchen?
In einer anderen Angelegenheit, die ebenfalls die Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative von letztem November betrifft, hat das Bundesgericht übrigens bereits Verfügungen erlassen – aber nichts entschieden. Obwohl es um eine weitere Frage geht, die für künftige Abstimmungen in der Schweiz von Relevanz ist: Dürfen sich die Landeskirchen in einen Abstimmungskampf einmischen?
Nicht weniger als fünf Beschwerden waren schon vor dem Abstimmungstermin beim Bundesgericht eingegangen, die allesamt forderten, die Landeskirchen und Kirchgemeinden hätten Interventionen im Abstimmungskampf per sofort zu unterlassen. Das höchste Gericht schrieb die Beschwerden Ende März als gegenstandslos ab – weil die Abstimmung vorbei war und die Vorlage abgelehnt worden war. Damit sei das «aktuelle Interesse» an einer Behandlung der Beschwerden dahingefallen; obwohl es um eine grundsätzliche Frage gehe, die wieder auftauchen könnte.
Trotz des anerkannten Klärungsbedarfs setzt sich das Bundesgericht also nicht damit auseinander, wie sich die Kirchen im Abstimmungskampf korrekterweise zu verhalten haben. Man könne die Frage ja später noch beantworten, heisst es aus Lausanne, wenn sich eine Intervention der Kirchen tatsächlich auf das Abstimmungsergebnis ausgewirkt habe.
Diese bundesgerichtliche Zurückhaltung wirkt sich allerdings nicht gerade fördernd auf die Rechtssicherheit aus. Fraglos haben sich die Kirchen im Vorfeld der Kovi aktiv engagiert, sich in die Diskussion eingemischt, vereinzelt gar Banner an die Kirchenhäuser gehievt.
Es sei bedauerlich, schrieb etwa der «Tages-Anzeiger», dass das höchste Gericht «in einer demokratiepolitisch so wichtigen Frage keine Stellung bezieht». Die Gretchenfrage lautet: Müssen sich die steuerfinanzierten Landeskirchen die gleiche Zurückhaltung auferlegen wie die staatlichen Behördenmitglieder? Oder geniessen sie die Freiheiten der privaten Akteurinnen? Oder liegt ihr Spielraum irgendwo dazwischen?
Bei den NGOs wird die Schraube angezogen
Klar ist: Für die NGOs zumindest ist der Spielraum im Nachgang zur Kovi-Abstimmung kleiner geworden. Der «Tages-Anzeiger» machte im Dezember letzten Jahres publik, dass die Hilfswerke von Bundesrat Ignazio Cassis per Brief darauf hingewiesen worden seien, kein Geld der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) für Kampagnen, Informations- und Bildungsarbeit in der Schweiz zu verwenden. Dazu gehörten auch Broschüren oder Infoveranstaltungen an den Schulen.
Gefordert werde eine klare Abgrenzung zwischen Information und Bildung einerseits sowie politischen Kampagnen anderseits – die nicht mit Staatsgeld mitfinanziert werden sollen. Die Verträge zwischen den Hilfswerken und der Deza wurden um eine entsprechende Klausel ergänzt.