Binswanger

Faschismus beginnt mit der Lüge

Der US-Kongress wird attackiert. Es ist ein radikaler Epochenbruch – und war doch erwartbar.

Von Daniel Binswanger, 09.01.2021

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Wann kippt ein politisches System? Wann wird ein marodierender Mob ganz plötzlich zur Gefahr für eine ordentlich gewählte Regierung? An welchem Punkt führt die Ruchlosigkeit einzelner Akteure, die Verselbst­ständigung von Propaganda zur Zerstörung der Demokratie? Nie schienen diese Fragen in den vergangenen Jahrzehnten dringlicher, so dringlich wie wohl seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Diktaturen, Putsche und Revolutionen haben wir seither unzählige gesehen. Aber in Washington? Im Herz der sogenannten Führungs­macht der freien Welt?

Der 6. Januar 2021 könnte die Welt nicht weniger nachhaltig verändern als der 11. September 2001. Was ist die Attacke durch Fanatiker aus entlegenen Kontinenten – selbst wenn sie Tausende Tote kostet – gegen einen Angriff auf die amerikanische Demokratie, der orchestriert wird aus dem Oval Office? Was sagt es aus über eine Gesellschaft, dass so etwas überhaupt in den Bereich des Möglichen fällt? Und wer ist so naiv zu glauben, dass dieser Sturm auf den Kongress eine rein amerikanische Angelegenheit darstellt? Dass er nicht das Potenzial hat, einen Epochen­wechsel einzuläuten für alle westlichen Demokratien?

Es gibt auf diese Frage keine eindeutigen Antworten, denn der Sturm auf das Kapitol war zugleich etwas viel Harmloseres und etwas viel Gravierenderes als ein veritabler Putsch. Die bärtigen MAGA-Freaks in ihren Flintstone- und Wikingerkostümen – offensichtlich ohne klaren Plan, ohne militärisches Back-up – wären niemals imstande gewesen, die Staatsmacht auszuschalten. Der Sturm aufs Kapitol wirkte trotz mehrerer Toter und eines noch viel weiter gehenden Gewalt­potenzials weniger wie eine organisierte Insurrektion als wie das surreale Finale der grossen Donald-Reality-Show.

Aber das Problem liegt nicht nur darin, dass der MAGA-Mob sehr wohl imstande war zu einer symbolischen Grenz­überschreitung, die neue Fakten schafft. Das Problem ist, dass dieser Ausnahme­zustand so gar nicht wie die Ausnahme erscheinen will, sondern wie die logische Fortsetzung einer schon seit Jahren geltenden «Normalität».

Es gibt grosse Unterschiede zwischen dem historischen Faschismus und der trumpschen Mischung aus white supremacy, Verschwörungs­theorie und egomaner Liederlichkeit. Aber es gibt keine trennscharfe Abgrenzung. Wer den trumpschen Regierungs­stil zur Normalität erhebt, wird früher oder später in die völlige Barbarei abgleiten. Das ist die Lektion dieser Woche. Und die trumpsche Normalität gehört schon lange auch zu unserer.

An diesem Mittwoch ist nichts geschehen, was sich nicht vollkommen fugenlos in die Kontinuität der letzten vier Jahre einschreiben würde. Trump ist es gelungen, eine Mehrheit der republikanischen Basis mit seinen Wahlbetrugs­verschwörungs­theorien vollständig zu fanatisieren – aber die Verschwörungs­theorie über Obamas muslimisch-kenianische Herkunft stand am Anfang seiner politischen Karriere. Trump ist ganz explizit einen Pakt mit bewaffneten Bürger­wehren und einem faschistoiden Mob eingegangen – stand back and stand by –, aber schon in seinem ersten Amtsjahr, während der Proteste in Charlottesville, hat Trump die rechtsradikale Gewalt für seine Zwecke benutzt. Damals sprach er von den «very fine people» auf beiden Seiten. Am Mittwoch richtete er sich an die Demonstranten, die soeben das Kapitol verwüstet hatten, mit den Worten: «We love you, you are very special.»

Trumps Versuch, den Kongress mit Gewalt unter Druck zu setzen, um das legitime Ergebnis der Präsidentschafts­wahlen in ihr Gegenteil zu drehen, ist ein frontaler Angriff auf die Grundlagen der amerikanischen Demokratie. Aber unterscheidet er sich fundamental von seinem Versuch, den ukrainischen Präsidenten unter Druck zu setzen, damit dieser sich an einer Desinformations­kampagne beteiligt, die Biden die Wahl schon vorab gekostet hätte? Trumps Präsidentschaft endet, wie sie angefangen und wie sie immer funktioniert hat. Wir sind fassungslos. Aber müssen wir uns wundern?

Der Kern der politischen Gewalt ist die Lüge. Gewalt gibt es in den verschiedensten Formen, und kein politisches System kann als Zwangs­mittel vollständig auf sie verzichten. Aber politische Gewalt lebt vom Anschein der Legitimität. Sie kommt nicht umhin, sich selber als begründet und gerecht darzustellen. Faschismus erkennt man weniger an seinen exzessiven Zwangs­mitteln als an den Propaganda­lügen, die sie rechtfertigen. Mit flächendeckenden Propaganda­lügen leben die Vereinigten Staaten schon viel zu lange. Und auch wenn Trump jetzt von der Bildfläche verschwinden sollte – auch wenn er doch noch impeached oder für seine Anstiftung zum Kapitol-Sturm angeklagt werden sollte –, die Propaganda­lügen werden bleiben. Die Trump-Herrschaft ist die Herrschaft der alternativen Fakten, ein Begriff, den nicht umsonst Trumps kongeniale Kommunikations­chefin Kellyanne Conway geprägt hat. Diese Herrschaft ist ungebrochen.

Das jedenfalls war der Eindruck, den man mitnahm aus den Kongress­debatten zur Zertifizierung von Bidens Sieg, die weitergeführt wurden, sobald der Mob den Ratssaal wieder verlassen hatte. Sie waren noch viel, viel surrealer als die Fotos von den halbnackten Wikingern und den Sicherheits­beamten mit gezogenen Waffen.

Man hätte glauben können, dass die Manöver zur Hinter­treibung einer gerichtlich x-fach geprüften, legitimen Wahl nun sofort und diskussionslos ein Ende finden würden. Weit gefehlt! Trumps absurde Lügen zum Wahl­betrug wurden von einer Mehrheit der republikanischen Mitglieder des Repräsentanten­hauses (und von acht Senatoren) auch nach dem Sturm auf das Parlament weiterhin aufrecht­erhalten. Die Macht dieser Lügen wird das weitere Schicksal der USA entscheidend prägen. Offensichtlich ist sie weiterhin intakt.

Wie entkommen wir der Herrschaft der alternativen Fakten, bevor sie den politischen Prozess zum Entgleisen bringen? Diese Frage stellt sich nicht nur in den USA.

Man betrachte nur, wie das Trump-Phänomen in der Schweizer Publizistik behandelt wird. Natürlich sind die MAGA-Verehrer jetzt etwas betreten, besonders die vor Verehrung glühenden Freaks am rechten Rand. Wetten, dass sie sich bald zurück­melden werden mit den Wahlbetrugs­fantasien, mit denen sie von einschlägigen amerikanischen Websites auch in Zukunft reichhaltigst versorgt werden dürften?

Doch man nehme ein sogenanntes Leitmedium. Es wird sich zum vulgären Volkstribun nicht in aller Offenheit bekennen, aber eine Argumentation entfalten, die eine ideologische Äquivalenz zwischen Trump und Trump-Gegnern konstruiert beziehungsweise sich leider gezwungen sieht, mit den Gegnern noch etwas härter ins Gericht zu gehen. Das ist die gediegenere Variante von «good people on both sides».

«Obwohl eine sehr ungewöhnliche Präsidentschaft gerade dabei ist, auf eine sehr gewöhnliche Weise zu Ende zu gehen, hatten Trumps Gegner vier Jahre lang äusserst erfolgreich das Schreck­gespenst eines autoritären Regimes an die Wand gemalt. Wie konnte dies so gut gelingen, dass die halbe Welt solche Fake-News glaubte?» So hiess es zum Beispiel am 13. November in der NZZ. Trump? Alles kein Problem: Er ist ein bisschen ungewöhnlich, aber alles bleibt gewöhnlich. Seine Gegner hingegen? Sie sind die wahren Propagandisten von Fake-News. Sie «untergraben», wie in dem Artikel auch zu lesen ist, die Demokratie. Es ist die hohe conwaysche Schule. Die politische Lüge hat auch ausserhalb der USA ihre grosse Zeit noch lange nicht hinter sich.

Nein, wir müssen uns nicht davor fürchten, dass schon morgen wild gewordene rechts­populistische Horden das Bundeshaus stürmen werden. Nein, wir sind nicht dabei, ein Eins-zu-eins-Remake des historischen Faschismus zu erleben. Aber der Faschismus nimmt seinen Anfang beim Niedergang des öffentlichen Diskurses. Hier besteht zur Entwarnung nicht der geringste Anlass.

Illustration: Alex Solman

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