Die Corona-Konkordanz
Der Bundesrat setzt Massnahmen zur Stabilisierung der Corona-Fälle durch. Von Senkung ist wenig die Rede. Von Verantwortung schon gar nicht.
Von Daniel Binswanger, 12.12.2020
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Manche Dinge gehen schneller, als man glauben könnte. Letzte Woche noch machte der Nationalrat Schlagzeilen mit einem Ständchen für den Jubilar im Bundesrat. Diese Woche erhoben sich die Volksvertreter zu einer Schweigeminute. Statt parlamentarischem Kindergeburtstag gab es zum ersten Mal überhaupt so etwas wie eine Trauergeste für Corona-Opfer vonseiten der offiziellen Schweiz. Die sich rapide verschärfende epidemiologische Lage scheint in Bern nun doch einen Stimmungswandel zu provozieren. Konstant stabil bleibt vorderhand nur eins: die extrem hohe Zahl der täglichen Toten.
Am Freitag sind nun also endlich weitergehende Massnahmen vom Bundesrat beschlossen worden. In den vornehmlich Westschweizer Kantonen, die noch eine Reproduktionszahl unter 1 haben, dürfen Gastrobetriebe zwar weiterhin bis um 23 Uhr offen bleiben. Aber immerhin: Für die Deutschschweiz ist die Sperrstunde um 19 Uhr nicht gekippt worden. Gemeinsam mit dem faktischen Verbot von Kultur- und Sportveranstaltungen und dem Sonntagsverkaufsverbot dürfte eine signifikante Reduktion der Sozialkontakte erreicht werden.
Allerdings bleibt die Eidgenossenschaft weiterhin auf einem halsbrecherischen Hochrisikopfad. Noch vor ein paar Wochen liessen Bundesrat und wissenschaftliche Taskforce nicht den geringsten Zweifel daran, dass eine schnelle Senkung der Fallzahlen unbedingt angestrebt werden müsse. Jetzt zeigt nur schon die liberale Sperrstundenregelung für Kantone mit einer Reproduktionszahl nahe bei 1, dass man sich mit einer blossen Stabilisierung der Fallzahlen begnügen will.
Das dürfte erstens heissen, dass wir im besten Fall für längere Zeit auf einem sehr hohen Niveau verharren werden, mit dem ständig akuten Risiko, dass die Situation blitzschnell und mit katastrophalen Konsequenzen kippen könnte. Es heisst zweitens, dass die Todeszahlen längerfristig hoch bleiben dürften. Wenn es uns gelingen sollte, die nächsten vier Wochen das aktuelle Niveau nicht zu übersteigen, werden wir über 2000 zusätzliche Opfer zu beklagen haben. Das scheint eingepreist zu sein. Es ist okay, wie unser Finanzminister sagen würde. An der bundesrätlichen Pressekonferenz gab es dazu keine einzige Frage.
Allerdings sollte man sich mit Blick auf die vergangene Woche ohnehin keine grossen Illusionen machen. Das Hauptanliegen der meisten Akteurinnen scheint nicht die Pandemie, sondern ein anderes Problem zu sein: Wie kann man heute, nachdem man über Monate mit letzter Entschlossenheit rigorose Eindämmungsmassnahmen sabotiert und verhindert hat; heute, wo sich die Frage nach der Verantwortung für die katastrophale Lage auf immer dramatischere Weise zu stellen beginnt – wie kann man heute am elegantesten aus der Verantwortung herauskommen? Nichts wäre jetzt notwendiger als Koordination, konstruktive Absprachen und guter Wille. Stattdessen erlebten wir eine Woche der Kakophonie, der taktischen Finten und der schäbigen Moves zur Gesichtswahrung.
Zwar ist es schon zu normalen Zeiten eher selten, dass Politiker sich vordrängen, um für Fehler gradezustehen. Dass sich dies auch in der nationalen Notlage nicht ändert, sollte uns dennoch beunruhigen: Wer heute versucht, sich herauszulügen, wird schon morgen wieder ein gnadenloses Lobbying für irgendwelche Sonderinteressen betreiben. Und die Opfer weiter ignorieren.
Es ereigneten sich diese Woche zwischen Genf und Rorschach erklärungsbedürftige, vernünftig aber nicht erklärbare Dinge. Man nehme den Kanton Aargau. Am letzten Montag veranstaltete Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati eine Pressekonferenz, um der staunenden Öffentlichkeit zu offenbaren, dass trotz sehr hoher und nicht sinkender Fallzahlen im Aargau von einer «dringlichen Notsituation» gar keine Rede sein könne. Von einer Verschärfung der Massnahmen sei tunlichst abzusehen.
Um es anders auszudrücken: Gallati zeigte dem Bundesrat den Stinkefinger. Obwohl die Landesregierung am vorangehenden Freitag klar deklariert hatte, dass die Kantone handeln müssen, und obwohl über das Wochenende telefonische Konsultationen stattgefunden hatten, bemühte sich der SVP-Regierungsrat gleich am Montagmorgen, den Bund zu desavouieren. First things first!
Am Dienstag wurde dem Gesundheitsdirektor dann frontal widersprochen, und zwar vom Chefinfektiologen am Kantonsspital Aarau. Die Situation sei im Gegenteil «kritisch». Es wird in unserem Land zum coronapolitischen Standard: Auch schon im Kanton Schwyz und in Fribourg ist es in den letzten Wochen dazu gekommen, dass Spitalverantwortliche sich mit verzweifelten Appellen direkt an die Öffentlichkeit gewandt haben, weil die Kantonsregierungen es opportuner fanden, die Realität zu ignorieren.
Originell war dann allerdings, was am Mittwoch im Aargau geschah: Die Staatskanzlei teilte mit, dass sie die vom Bundesrat am Dienstagabend in Aussicht gestellten Verschärfungen der Anti-Covid-Massnahmen sehr begrüsse. Selber handeln? Ganz gewiss nicht: Erstens haben wir kein Problem, und zweitens sind wir auf der Seite von Gastro Suisse. Aber wenn der Bund die Verantwortung übernimmt? Wunderbar, wurde ja auch Zeit, dass endlich jemand etwas tut. Wir waschen unsere Hände in Unschuld!
Eine noch etwas machiavellistischere Variante des föderalen Stinkefingers führt uns die Zürcher Kantonsregierung vor. Sie beschloss nicht keine Massnahmen, sondern Massnahmen, die ein schlechter Witz sind (auf Twitter ist der Hashtag #zuerchermassnahmen zum lohnenden Satirekanal geworden). Ein Sonntagsverkaufsverbot – aber erst nach Weihnachten! Ein Vorrücken der Sperrstunde – von 23 auf 22 Uhr!
Warum machte die Zürcher Regierung nicht dasselbe wie die aargauische? Warum wartete sie nicht einfach darauf, dass der Bund ihr die Last des Regierens abnimmt? Weil sie es offenbar für die politisch einträglichere Strategie hielt, den Bundesrat aktiv zu beschädigen. Weil sie durch die Kommunikation Ihrer Pseudobeschlüsse die nötigen Verschärfungen offenbar von vornherein diskreditieren wollte. Um sich dann als Opfer zentralistischer Übergriffigkeit zu stilisieren.
Das Verblüffende ist: Es funktioniert sogar. Als der Bundesrat am Dienstagabend mit einer sofortigen Pressekonferenz auf das Zürcher Manöver reagierte, war er es, der die Schelte erhielt für behördliche Kakophonie und überhastete Kommunikation. Als ob es relevant wäre, wann wer mit wem telefoniert hat und wie das behördliche «Missverständnis» zustande gekommen ist. Als ob die Verantwortungslosigkeit einer Kantonsregierung, die für die Sicherheit von 18 Prozent der Schweizer Bevölkerung zuständig und mit einer erneut exponentiellen Epidemie-Entwicklung konfrontiert ist, sich aber dennoch an blosse politische Kosmetik hält, nicht für sich selber sprechen würde. Als ob der Bundesrat eine andere Wahl gehabt hätte, als diesen sagenhaften Affront postwendend und entschieden zurückzuweisen.
Bemerkenswert scharf war die Kritik, die vom dereinst staatstragenden Freisinn kam. Der Bundesrat, so die FDP in einer Medienmitteilung, spielt «fahrlässig mit der Glaubwürdigkeit aller involvierten Institutionen». Gefordert sei ein «enges Zusammenspiel mit den Kantonen». Dass es an diesem Zusammenspiel hapert, ist aus Sicht des Freisinns offenbar die alleinige Schuld der Landesregierung beziehungsweise der beiden SP-Bundesrätinnen Alain Berset und Simonetta Sommaruga. «Zusammenspiel», das scheint in seiner Substanz zu besagen: Detailhandel, Gastronomie und Skiregionen bekommen ihren Willen. Koste es, was es wolle.
Hier sind wir wohl beim eigentlichen Kern der momentan so grotesken Schweizer Föderalismusposse. Es ist im Grunde kein Föderalismusproblem, es ist ein Konkordanzproblem. Die Landesregierung ist zutiefst gespalten. Und weil diese Spaltung dem Schleier des Kollegialitätsprinzips unterliegt, können jetzt, wo es schiefgeht, die grossen Verhinderer alle Verantwortung von sich weisen. Wer würde sich da genieren?
Tatsache ist: Der Bundesrat hätte schon lange stringentere Massnahmen, eine kohärentere Politik, ein Ampelsystem auf den Weg bringen können – wenn es dafür denn eine Mehrheit gegeben hätte. Er hätte schon am letzten Freitag das einzig Vernünftige, nämlich die landesweite Schliessung der Gastrobetriebe und entsprechende finanzielle Unterstützungsleistungen, beschliessen können. Es gibt dafür aber keine Mehrheit, weil die FDP- und die SVP-Bundesräte bestimmte Brancheninteressen höher gewichten als die Eindämmung der Epidemie. Jetzt, wo die epidemiologische Katastrophe vor der Tür steht, will man für diese kurzsichtige Politik die Verantwortung jedoch nicht übernehmen.
Da zünden die Freisinnigen lieber ein paar staatsrechtliche Nebelpetarden. Und brüsten sich damit, dass sie schon im Frühjahr ein Ampelsystem gefordert haben. Das Ampelsystem wäre in der aktuellen Notlage allerdings vollkommen irrelevant. Sämtliche Schweizer Kantone sind massiv im roten Bereich. Die rechtsbürgerliche Hintertreibung von Eindämmungsmassnahmen hat einen massiven Beitrag dazu geleistet. Aber indem man nun behauptet, die Sozialdemokraten, die ebenfalls für ein Ampelsystem plädieren, würden lediglich die freisinnige Pandemiestrategie übernehmen, versucht die FDP, die Verantwortlichkeiten in ihr Gegenteil zu verdrehen. Falls der Eindruck entsteht, hier werde wieder einmal mit trumpschen Methoden agiert in der Schweizer Politik: Ganz falsch ist er nicht.
In den US-Medien wird ständig darüber spekuliert, wie massiven Schaden es angerichtet hat, dass ein Mann, der das Volksmehr gar nie erobern konnte, zu Corona-Zeiten die Präsidentschaft innehatte. Wie viele Todesfälle wären vermieden worden, wenn Hillary Clinton am Ruder gewesen wäre? Es lässt sich nicht beziffern, aber die Dinge wären anders verlaufen.
Genau dieselbe Frage stellt sich auch für die Schweizer Corona-Politik: SVP und FDP sind gemeinsam massiv übervertreten in der Landesregierung. Der rechtsbürgerliche Block ist weit davon entfernt, eine Bevölkerungsmehrheit hinter sich zu haben. Wie viele Todesfälle wären vermieden worden, wenn im Dezember 2019 statt Ignazio Cassis Regula Rytz in den Bundesrat gewählt worden wäre?
Auch das lässt sich nicht beziffern. Doch die Dinge wären anders verlaufen.
Illustration: Alex Solman