Wir trumpisieren uns
Nicht nur die Covid-Krise schwenkt in der Schweiz auf US-Kurs, sondern auch die politische Kultur.
Von Daniel Binswanger, 21.11.2020
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Selbst unter seinen nicht zahlreichen Schweizer Unterstützern ist unbestritten, dass Donald Trumps Wahlniederlage so einiges mit Corona zu tun hat – mit den extrem hohen Todeszahlen in den USA und mit der verantwortungslosen Handhabung der Krise durch seine Administration. Die Abwahl nach nur einer Amtszeit ist in der Tat nur mässig überraschend: Wählerinnen scheinen es nun einmal nicht zu mögen, wenn man sie beziehungsweise ihre Mitbürger zu Hunderttausenden sterben lässt. Dem Eindruck, dass politisch ganz massiv etwas schiefläuft, kann angesichts eines so epochalen Regierungsversagens nichts mehr entgegengesetzt werden.
Diese Analyse wird kaum jemand in Zweifel ziehen, aber sie erscheint zum heutigen Zeitpunkt sehr viel irritierender als noch vor ein paar Wochen: Die Schweiz hat mittlerweile ihrerseits eine der welthöchsten Covid-Sterblichkeiten vorzuweisen. In der vergangenen Woche war sie im Verhältnis zur Bevölkerungsgrösse rund zweieinhalbmal so hoch wie in den USA. Bei den kumulierten Todeszahlen liegen wir zwar immer noch ein gutes Stück hinter den Vereinigten Staaten, aber so, wie die Dinge sich im Moment entwickeln, holen wir in raschem Tempo auf. Das Corona-Versagen war der ultimative Beweis des Trump-Wahnsinns? Dann sollten auch wir uns ein paar dringliche Fragen zur Gesundheit unserer politischen Verhältnisse stellen.
Auch aus anderen Gründen scheint dies leider angezeigt. Es ist zwar nur ein Zufall des Kalenders und ein Ergebnis der unermüdlichen Manöver zu ihrer Verhinderung, aber es dürfte bezeichnend sein, dass ausgerechnet in dieser dramatischen Phase der knappen Intensivbetten und der hohen Todeszahlen der Abstimmungskampf um die Konzernverantwortungsinitiative (Kovi) seinen Höhepunkt erreicht. Auch die politischen Auseinandersetzungen um eine der umkämpftesten Volksinitiativen aller Zeiten werfen einige grundsätzliche Fragen auf. Wenn die aktuellen Debatten um die Kovi die Richtung vorgeben sollten, wie in diesem Land in Zukunft politische Konflikte ausgetragen werden, dürfte mindestens für uns Schweizerinnen der Trumpismus nicht hinter, sondern vor uns liegen.
Sicherlich: Direktdemokratische Abstimmungskämpfe zeichneten sich noch nie durch übermässige Zimperlichkeit oder überzogene intellektuelle Flughöhe aus. Dass es ruppig und hemdsärmelig zu- und hergeht, dass routinemässig mit Irreführungen operiert wird, ist weiss Gott kein neues Phänomen.
Dennoch hat die Debatte um die Konzernverantwortungsinitiative völlig neue Massstäbe gesetzt: Wohl noch nie wurde ein Abstimmungskampf so aufwendig, so aggressiv und unter Einsatz von so faktenfreier Propaganda geführt. Nicht nur unsere Corona-Bilanz nimmt amerikanische Züge an. Ganz allgemein scheint sich die politische Kultur in der Schweiz gerade im Eilzugstempo zu verändern.
Das böse Wort von den «Trump-Methoden» hat bekanntlich kein Geringerer als Dick Marty geprägt, der Co-Präsident des Initiativkomitees für die Konzernverantwortung. Gemünzt war es in erster Linie auf Bundesrätin Karin Keller-Sutter, die in diesem Abstimmungskampf mit atemberaubender Forschheit agiert. Im Nein-Lager macht man es Marty zum Vorwurf, dass er seine Parteikollegin so hart kritisiert – und man versucht, die Aggressivität der Auseinandersetzung den «moralisierenden» Befürwortern der Kovi anzulasten. Es ist richtig, dass beide Seiten sich nichts schenken. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass unsere Justizministerin so unverfroren mit alternativen Fakten um sich wirft, wie es für Regierungsvertreter doch eher unüblich ist.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein knapper Kommentar, der diese Woche in der NZZ erschien. Unterzeichnet wurde er von einem Oberrichter a. D. und drei altgedienten Rechtsprofessoren. Die vier Experten machen in trockenem Juristensprech ein paar bemerkenswerte Aussagen: «Die Bundesverfassung verpflichtet Regierung und Verwaltung, ihre Stellungnahmen im Vorfeld von Volksabstimmungen inhaltlich richtig und sachlich vorzubringen.»
Leider hielten sich die Landesregierung und die dossierverantwortliche Justizministerin in keiner Weise an diese Verpflichtung, «der Boden ernsthafter rechtlicher Analyse» sei verlassen worden. Weder sei es zutreffend, dass die Initiative eine grosse Zahl von KMU betreffen werde, noch sei die Haftung für Tochterfirmen und wirtschaftlich abhängige Zulieferer ein exotischer Fremdkörper im Schweizer Obligationenrecht, noch sei es im Enferntesten korrekt, von einer «Umkehr der Beweislast» zu reden.
Mit spürbarem Grausen halten die Jus-Professoren der Justizministerin zudem vor, dass sie über die Beweislastumkehr in einer Weise schwadroniert, die nicht nur haltlos ist, sondern den dringenden Verdacht aufkommen lässt, es sei noch nicht einmal der Unterschied zwischen Zivil- und Strafrecht sauber geklärt: «Diese Verwechslung von Straf- und Zivilrecht verunmöglicht eine nüchterne rechtliche Einordnung der Haftungsregeln der Initiative.» Das Problem mit alternativen Fakten ist nun einmal, dass es, wenn man sich erst einmal in ein Paralleluniversum verabschiedet hat, überhaupt kein Halten mehr gibt. Vier Jahre Trump-Präsidentschaft haben vor Augen geführt, wo so etwas enden kann.
Zum Beispiel bei der Banalisierung von faschistoider Hetzpropaganda. Etwas vom Unappetitlichsten am diesjährigen US-Wahlkampf war Trumps Versuch, mit grotesken Verschwörungserzählungen über die Antifa seine Basis zu fanatisieren. Mit identischen Mitteln wird jetzt auch im Kovi-Abstimmungskampf gearbeitet. Die Facebook-Seite «Like Schweiz» hat Videos gegen die Initiative ins Netz gestellt, die eine billige Kopie dieser Hasspropaganda darstellen und jetzt auch hierzulande viral gehen. Über 300’000 Mal wurde ein Video angeklickt, das NGOs als Organisationen mordender Vergewaltiger diffamiert. Das ist Neuland für Schweizer Abstimmungskämpfe.
Das Problem bei der Sache: Diese Videos sind nicht das Produkt von irgendwelchen Spinnern, wie das von den Initiativgegnerinnen reflexartig behauptet worden ist. Gemäss Recherchen des «Tages-Anzeigers» ist «Like Schweiz» aufs Engste verbunden mit dem Stadtzürcher SVP-Gemeinderat Samuel Balsiger, der für die Goal AG, die Werbeagentur von Alexander Segert, arbeitet. Segert, kürzlich porträtiert in der Republik, der seit Jahren für die SVP-Werbekampagnen zuständig ist und auch zur AfD in vielfältigen Beziehungen steht, bringt in Sachen Hetzpropaganda so grandiose Expertise mit, dass die Verbindung nicht erstaunen kann.
Erstaunlich ist etwas anderes: Bisher war Segert der Hauspropagandist des aggressiven Rechtspopulismus. Unter den Wirtschaftsverbänden griff bisher erst der Gewerbeverband auf seine Dienste zurück – oder müssen wir sagen Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler? Im Kovi-Wahlkampf jedoch ist Segert jetzt unterwegs mit einem Mandat von Swiss Holdings. Dieser Wirtschaftsverband ist das Who’s who der wichtigsten Schweizer Grosskonzerne: Roche, ABB, Lafarge Holcim, Glencore.
Es ist nicht mehr die SVP, es ist die Crème de la Crème der Schweizer Wirtschaftselite, die mit dem Scharfmacher vom äussersten rechten Rand im Geschäft ist. Dass aus derselben Küche zeitgleich faschistoide Hasspropaganda zu kommen scheint, interessiert in den Führungsetagen der Grosskonzerne offenbar niemanden.
Der Trumpismus ist treffenderweise als «Plutopopulismus» bezeichnet worden, als der zynische Pakt der amerikanischen Plutokratie mit einem rassistischen Rechtspopulismus, der den Interessen der Milliardäre an der Urne eine Mehrheit verschaffen soll. Mit dem Kovi-Abstimmungskampf macht die Schweiz einen grossen Schritt auf eine helvetische Variante des Plutopopulismus zu: Die Konzerne wollen nach Gutdünken schalten und walten können und von Haftungsklagen nicht behelligt werden. Mit Faktentreue hält man sich da nicht mehr auf. Mit Stilfragen schon gar nicht. Die Hasspropaganda kann es richten? Dann wird man sich an Hasspropaganda nicht stossen.
Es ist immer so gewesen in der Schweiz, dass die Wirtschaftsverbände sehr viel Macht hatten und dass die bürgerlichen Parteien – und ihre Bundesräte – sich häufig auf die Rolle von Erfüllungsgehilfen beschränken mussten. Der alte Filz jedoch trug auch gesellschaftliche Verantwortung. Für die aktuelle Politik der verbrannten Erde wäre er nicht zu haben gewesen.
Die Covid-Todeszahlen verbleiben immer noch in schwindelerregender Höhe. Die Debattenkultur nimmt eine extrem destruktive Wendung. Kein Zweifel: Wir trumpisieren uns. Eine Abwahl wird das Problem nicht lösen. Aber immerhin: Die Annahme der Initiative könnte einen Beitrag leisten.
Illustration: Alex Solman