Gut für Glencore, gut fürs Vaterland?
Um die Konzernverantwortungsinitiative wird hart gekämpft. Am bittersten ist die Auseinandersetzung unter Bürgerlichen.
Von Daniel Binswanger, 31.10.2020
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Selten hat eine Vorlage die bürgerliche Schweiz so tief gespalten wie die Konzernverantwortungsinitiative. Die Kovi – oder das Psychodrama des Schweizer Liberalismus. Es begann mit den nicht enden wollenden Beratungen in beiden Räten, den ungewöhnlichen Abstimmungsverschiebungen, den noch ungewöhnlicheren Last-minute-Gegenvorschlägen unserer Justizministerin und eines Grosskonzerns, den krassen Manövern, die in der Einigungskonferenz der schwächsten Variante zum Sieg verhelfen sollten. Es setzt sich fort im Abstimmungskampf.
Die Gegner sind fassungslos und empört darüber, dass die Initianten eine effektive Kampagne machen. Gutmenschen, die gut organisiert sind? Wo kommen wir da hin! Der wirklich gehässige Clash findet jedoch gar nicht zwischen den politischen Lagern statt. Es ist jener Teil des Abstimmungskampfs, der ausgefochten wird als Bruderzwist im bürgerlichen Lager.
Letztlich ist es simpel: Die Konzernverantwortungsinitiative berührt das Fundament unserer ordnungspolitischen Grundprinzipien. Noch schlimmer, sie rührt an den Kern der Wertevorstellungen von Wirtschaftsfreiheit. Ganz offensichtlich herrscht in der Schweiz – eigentlich doch die kontinentaleuropäische Wiege des Liberalismus – massiver Klärungsbedarf, was es mit diesen Wertevorstellungen überhaupt noch auf sich haben soll.
So kommt es, dass man sich unter «freiheitlichen» Gesinnungsgenossen mit grösster Hingebung anpflaumt. Die GLP-Delegierten beschliessen die Ja-Parole zur Kovi – aber GLP-Nationalrat Martin Bäumle hält in einer internen Mitteilung fest: «Ich verstehe meine Partei immer weniger … tut weh als Gründer.»
Alt-Bundesrat Pascal Couchepin taucht aus dem Corona-Blackout auf und gibt im «Blick» zu bedenken, dass man Lithium für umweltschonende Elektrofahrzeuge nicht gewinnen könne, «ohne die Umwelt im weitesten Sinn zu beschädigen». So ist das also: Umweltzerstörung zum Zweck des Umweltschutzes! Auch findet Couchepin deutliche Worte, um FDP-Parteifreund und Alt-Ständerat Dick Marty zu desavouieren, ein Kovi-Befürworter der ersten Stunde und Co-Präsident des Initiativkomitees. Er erinnere ihn an Robespierre, «der die Menschen enthauptete, um sicherzugehen, dass die Tugenden der Republik durchgesetzt werden». Die Kovi – oder das totalitäre Ideal von blutrünstigen Jakobinern.
Aber nicht nur die gestandenen Herren, auch Vertreterinnen eines sich progressiv gebenden Liberalismus liegen sich in den Haaren. So wirft FDP-Nationalrätin Christa Markwalder – Mitgestalterin des nationalrätlichen Gegenvorschlags, welcher der Initiative weit entgegenkam – der Operation Libero und ihrer Pro-Kovi-Kampagne allen Ernstes vor, sie «verkaufe ihre Seele».
Worauf Libero-Co-Präsidentin Laura Zimmermann repliziert, sie stehe ein für einen «Liberalismus der unternehmerischen Freiheit und gesellschaftlichen Verantwortung» – und dann fröhlich damit fortfährt, Gegner der Initiative als «Halunken» zu bezeichnen. Auch zwischen Akteurinnen, die nicht viel trennen sollte, lässt die Konzernverantwortungsinitiative einen fundamentalen Konflikt aufbrechen.
Dabei ist die Sachlage relativ simpel. Was ist die Basis einer funktionierenden Globalisierung? Die Durchsetzung international verbindlicher Rechtsnormen. Das ist der Sinn der Uno-Konventionen, der WTO, der EU, der Sinn von sämtlichen internationalen Handelsverträgen. Es geht immer um die Kreation von Rechtsräumen mit supranationaler Gültigkeit.
Natürlich ist das Territorialitätsprinzip, also die Hoheitsgewalt der Staaten über ihr Staatsgebiet, nicht ausser Kraft gesetzt, aber die immer solidere Etablierung von internationalen Standards ist die Voraussetzung aller wohlstandsfördernden, grenzüberschreitenden Wirtschaftsaktivität. Investitions- und Patentschutz zum Beispiel sind unverzichtbar für multinationale Konzerne. Gerade die Schweiz hat das allereminenteste Interesse daran, dass Mechanismen zu ihrer Durchsetzung geschaffen worden sind.
Aber Menschenrechte dagegen sollen im globalisierten Wirtschaftsleben nicht überall geschützt sein? Patentschutz ja, Menschenrechte nein? Das ist eine obszöne Konzeption der Globalisierung. Leider kann sie in der Schweiz an gut etablierte Traditionen anknüpfen.
Schliesslich gibt es in einer globalisierten Welt zwei gegenläufige Modelle der Standortpolitik. Entweder man integriert sich so gut wie möglich in die internationalen Wertschöpfungsketten, kooperiert so gut wie möglich mit anderen Staaten und sichert sich Zugang zu Zulieferern und Absatzmärkten. Oder man setzt auf parasitäre Strategien, schafft auf dem eigenen Territorium einen rechtsfreien Raum, der gewisse Unternehmen anzieht und anderen Ländern schadet. Die Eidgenossenschaft verfolgt beide Strategien gleichzeitig.
Zum einen ist die Schweiz ein erfolgreiches Exportland, mit einer starken Position im Maschinenbau und in der Pharma, sie ist hervorragend integriert in den europäischen Binnenmarkt und in internationale Handelsräume. Wir verdienen Geld durch internationale Kooperation.
Zum anderen ist die Schweiz bis heute ein parasitäres Steuerparadies. Die Schwarzgeldindustrie des Private Banking hat zwar inzwischen ein unrühmliches Ende gefunden, aber als Fluchtburg für Unternehmenssteuervermeidung haben wir noch einmal tüchtig zugelegt. Wir verdienen auch viel Geld durch internationale Kooperationsverweigerung: Wir schädigen andere Staaten, indem wir ihnen Steuersubstrat entziehen.
Die parasitäre Standortpolitik hat es der Schweiz unter anderem erlaubt, zum weltführenden Rohstoffhandels-Hub zu werden. Ihre Verteidigerinnen glauben aber offensichtlich, Gewinnsteuervermeidung sei heute nicht mehr genug. Die Konzerne wollen nicht nur geschützt sein vor dem Fiskus. Sie wollen sich auch der juristischen Verantwortung entziehen. Wir sind ein Steuerparadies. Wir sollen aber auch als Verantwortungsparadies punkten.
Natürlich behaupten die Gegner der Konzernverantwortungsinitiative, sie seien selbstverständlich auch für Menschenrechte und Umweltschutz, im Grundsatz sei man sich einig – nur leider sei die Kovi gar nicht vernünftig umsetzbar. Um diesen Punkt zu machen, veranstalten sie allerdings eine Bullshit-Kanonade, die selbst für die Verhältnisse eines Schweizer Abstimmungskampfs ziemlich atemberaubend ist.
So wird behauptet, Schweizer Konzerne trügen plötzlich die volle Haftung für jedes Glied in ihrer Lieferkette. Das ist natürlich Quatsch: Haftbar sind sie nur dort, wo sie auch die wirtschaftliche Kontrolle haben.
Es wird behauptet, der Schweizer Steuerzahler müsse im Fall einer Annahme Beweiserhebungsverfahren in fernen Kontinenten finanzieren. Das ist natürlich Quatsch: Die Konzernverantwortung betrifft das Zivilrecht. Prozesse sind zwar mit Kosten verbunden, aber die Beweiserhebung erfolgt durch Kläger und Beklagte, nicht durch die Justizbehörden.
Es wird behauptet, die Kovi werde zu einer Klageflut und amerikanischen Verhältnissen führen. Das ist natürlich Quatsch: Es gibt im Schweizer Recht keine Sammelklage, nur die Kosten von bewiesenen, konkreten Schäden können eingeklagt werden, und die finanziellen Hürden für eine Zivilrechtsklage sind extrem hoch. Zu einer Klageflut kommt es mit Sicherheit nicht.
Es wird behauptet, die Kovi werde Zehntausende von KMUs betreffen und mit hohem administrativem Aufwand belasten. Das ist natürlich Quatsch: Das Parlament hat es in der Hand, nach Annahme der Initiative zu definieren, wie weit der Anwendungsbereich eingegrenzt wird. Unsere KMU-freundlichen Volksvertreterinnen werden den Teufel tun und die KMUs unverhältnismässig in die Pflicht nehmen.
Schliesslich wird behauptet, die Kovi führe zu einem Standortnachteil der Schweiz gegenüber dem Ausland, weil sie international übliche Standards weit übertreffen würde. Das ist natürlich Quatsch: Zahlreiche Staaten verschärfen ihre Gesetzgebung in diesem Bereich. In Frankreich, in England ist es schon zu entsprechenden Verfahren gekommen. In Deutschland und auf EU-Ebene sind Gesetzgebungsprozesse im Gang. Die Schweiz würde mit der Kovi dem übrigen Europa nicht vorauseilen. Wir wären im vorderen Mittelfeld.
Zugegeben: Auch von der Konzernverantwortungsinitiative darf man sich keine Wunder erwarten. Sie wird die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen, die im Zusammenhang stehen mit den internationalen Wirtschaftsaktivitäten von Schweizer Firmen, sicherlich nur partiell verhindern können. Ein Zaubermittel hat niemand zur Hand. So wird auch bei Annahme der Initiative die gesetzliche Haftung in vielen Fällen umgangen werden können. Dennoch werden die Sorgfaltspflichten das Geschäftsgebaren stark beeinflussen. Und auch dass es hin und wieder zu einer Haftungsklage kommt, wird einen hochwillkommenen Beitrag leisten.
Es ist aber nicht auszuschliessen, dass der stärkste Effekt der Kovi innenpolitischer Natur sein wird. Auf der einen Seite haben wir eine bestimmte, sehr traditionelle Auffassung von Standortpolitik: Steuerparadies, Verantwortungsparadies – was immer gut ist für Glencore, ist gut für Volk und Vaterland. Man redet von Liberalismus, meint aber eigentlich Kungelei. In den bürgerlichen Traditionsparteien hat diese Haltung noch eine Mehrheit, die aber bereits sehr spürbar am Bröckeln ist.
Auf der anderen Seite steht ein Liberalismus, der die parasitäre Standortpolitik – die ohnehin unter immer stärkeren Druck gerät – nicht länger aufrechterhalten will. Für den Wirtschaftsfreiheit und Verantwortung zusammengehören. Der glaubt, dass Globalisierung einhergehen muss mit der Durchsetzung rechtlicher Standards, nicht mit deren strategischer Unterbietung. Und schon gar nicht mit haftungsbefreitem Raubbau.
Diese bürgerlichen Kräfte von morgen stehen bereit: Die FDP hat den Grünliberalen einen weiteren Luxusboulevard eröffnet. Es wäre erstaunlich, wenn sich das elektoral nicht massiv bemerkbar machen würde. Da nützt es vermutlich nicht mehr so viel, wenn Petra Gössi an der «grünen Wende» herumlaboriert. Die neue «Mitte» hingegen muss sich mit einer starken Pro-Kovi-Minderheit arrangieren. Der Erfolg des christlich-sozialen Modernisierungsprojekts wird wesentlich von dieser Auseinandersetzung abhängen.
Die Schweiz hat ehrwürdige liberale Traditionen, die von weit herkommen. Die Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative wird zeigen, ob wir ihre Gefangenen bleiben. Oder ob in diesem Land ein Liberalismus der Zukunft mehrheitsfähig wird.
Illustration: Alex Solman