«Sie wollen an meinem Beispiel beweisen, dass es keine Kuschel­justiz gibt, dass sie hart sind»

Der Kampf von Brian, der als Jugendstraftäter «Carlos» bekannt wurde, geht weiter. Gegen Isolationshaft, für seine Menschen­würde, gegen Schikanen, für seine Zukunft. Besuch bei Brian im Gefängnis Pöschwies.

Von Brigitte Hürlimann (Text) und Florian Kalotay (Bilder), 01.07.2020

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«Mein Name ist Brian. Ich will nicht mehr Carlos sein, das Monster»: Wie wird man ein Stigma los?

Letzten Herbst haben kurz wieder alle über ihn geredet. War er Thema am Stamm­tisch, in der politischen Arena, den sozialen Netzwerken. Spaltete einmal mehr die Nation. Rüttelte die einen auf und erboste die anderen. Was neu war bei dieser jüngsten Runde im Scheinwerfer­licht der Öffentlichkeit: Er selber machte Schluss mit seinem Pseudonym – «Carlos».

Und auch «Mike», wie die Republik ihn zuletzt nannte, weil «Carlos» längst zum Stigma geworden war, will er nicht mehr heissen.

Seine nationale Bekanntheit hatte mit einem Dokumentar­film begonnen, der unter anderem sein Sondersetting zum Thema hatte. Ein medialer Shitstorm folgte, «Carlos» wurde ungerechtfertigt ins Gefängnis gesteckt – zu seinem Schutz, wie die Behörden sagten. Und nicht zum ersten Mal in seinem Leben. Erst das Bundesgericht beendete die unrechtmässige Haft.

Inzwischen ist der Zürcher 24 Jahre alt, steckt erneut im Gefängnis und sagt: «Ich heisse nicht Carlos. Mein richtiger Name ist Brian. Ich will nicht mehr Carlos sein – das Monster, der Unbelehrbare, der Böse und Gefährliche. Ich bin ein Mensch und will wie ein Mensch behandelt werden. Und ich will, dass man mir zuhört, dass man mir glaubt. Ich will meine Geschichte selber erzählen können und nicht nur die anderen über mich reden lassen.»

1. Kurz im Scheinwerferlicht, dann wieder zurück in der Versenkung. Wie geht es Brian jetzt? Ich nehme ihn beim Wort: Er soll selber berichten

Am 30. Oktober 2019 verhandelt das Bezirksgericht Dielsdorf im Zürcher Exil über die jüngsten Anklagen gegen Brian. Das Medien­interesse ist gross. Rund dreissig Vorwürfe listet die Staatsanwaltschaft auf – lauter Vorfälle, die im Justizvollzug geschehen sind, hinter Gefängnismauern. Einfache Körper­verletzung, Beschimpfung, Sachbeschädigung, Gewalt und Drohung gegen Beamte – und der schlimmste Vorwurf: versuchte schwere Körperverletzung.

Für dies alles soll Brian für siebeneinhalb Jahre ins Gefängnis plus verwahrt werden, fordert Staatsanwalt Ulrich Krättli. Ein völlig überrissener Antrag, kontert Verteidiger Thomas Häusermann. Der Hauptvorwurf der versuchten schweren Körperverletzung sei «nicht ansatzweise» erstellt.

Am 6. November 2019 verkündet das Bezirksgericht Dielsdorf sein Urteil: vier Jahre und neun Monate Freiheits­strafe plus eine stationäre Massnahme, auch «kleine Verwahrung» genannt. Sie kann beliebig verlängert werden. Das bedeutet: Die Verurteilten wissen nicht, wann sie wieder in Freiheit entlassen werden. Sie bleiben jahrelang eingesperrt, falls sie nach wie vor als gefährlich eingestuft werden. Auch wenn sie die Gefängnis­strafe längst verbüsst haben.

Dieser Prozess, dieses Urteil: Sie haben Brian letzten Herbst kurz zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit katapultiert. Wie immer begleitet von kontroversen Diskussionen. Danach ist Brian wieder in der Versenkung verschwunden – wortwörtlich. Andere Schlagzeilen verdrängten sein Drama.

Doch was ist mit dem ehemals «bekanntesten Jugend­straftäter der Schweiz» seit diesem Prozess passiert? Wo ist er, was sind seine Perspektiven? Wovon träumt er, worauf hofft er?

Ich nehme Brian beim Wort: Er soll selber berichten. Was nicht ganz einfach ist, denn er befindet sich seit vier Jahren im Gefängnis, seit bald zwei Jahren in Untersuchungs- und Sicherheits­haft und vor allem streng isoliert. Er ist einem äusserst rigiden Haftregime ausgesetzt.

Kurz nach der Urteilseröffnung im November will ich ihn besuchen, mit ihm reden. Um dann vom Zürcher Justizvollzug zu erfahren, wie man dort seinen Fall einschätzt. Vor allem, was die ungewöhnlich harten Haftbedingungen betrifft. Doch beides – Besuch und Antworten – gestaltet sich äusserst harzig.

2. Ein Besuch in der Justiz­vollzugs­anstalt Pöschwies ist schier unmöglich. Nur der Rechtsweg bringt mich voran. Soll die Öffentlichkeit nicht wissen, was mit Brian passiert?

Brian ist in der Sicherheits­abteilung der Justiz­vollzugs­anstalt Pöschwies im zürcherischen Regensdorf inhaftiert. Von Montag bis Freitag darf er eine Stunde lang in den Arrest-Spazierhof, gefesselt an Händen und Füssen. Ausser, es wird ihm wegen «Zwischenfällen» verwehrt.

Es ist die einzige Zeit, die er an der frischen Luft verbringt. Joggen oder sich sonst wie austoben ist wegen der Fesselung unmöglich. Die restlichen 23 Stunden des Tags hockt Brian allein in der Zelle – ohne Arbeit, ohne Freizeit­gestaltung, ohne Weiterbildung. Samstag und Sonntag gibt es keinen Hofgang. Das Fenster lässt sich nicht öffnen, und das Fernseh­gerät befindet sich ausserhalb der Zellentüre, in einem Vorraum. Brian kann nur stehend fernsehen, durch ein Gitter hindurch.

Was macht das mit einem Menschen? Wie erträgt Brian die Isolation, die ständige Gefangenschaft, die fehlenden Gespräche und Kontakte? Es ist über zwei Jahre her, seit ihn seine Familie umarmen konnte. Auch Vater, Mutter und Geschwister dürfen ihn nur hinter einer Trennscheibe besuchen.

Ende November 2019 stelle ich ein Besuchsgesuch ans Bezirksgericht Dielsdorf, zu diesem Zeitpunkt die zuständige Instanz für solche Anfragen. Doch bereits Anfang Dezember wird das Gesuch zunächst per Brief und später, auf meine Aufforderung hin, in Form einer anfechtbaren Verfügung abgelehnt. Mit Begründungen, die mich befremden:

  • Die Persönlichkeitsrechte Brians sowie jene der Geschädigten müssten gewahrt werden.

  • Das erstinstanzliche Urteil sei noch nicht rechtskräftig. Es gelte das Amtsgeheimnis sowie die Unschulds­vermutung des Beschuldigten. Strafverfahren seien grundsätzlich geheim.

  • Die Medien müssten gleichbehandelt werden. Es dürfe nicht nur einem Medium eine Besuchs­erlaubnis erteilt werden und allen anderen nicht.

  • Der erstinstanzliche Prozess gegen Brian habe ein grosses Medien­interesse ausgelöst, der Ansturm sei enorm gewesen. Das wolle man vor dem Berufungs­prozess nicht noch mehr «befeuern». Es sei sicherzustellen, «dass das Obergericht sein Urteil möglichst unbeeinflusst sprechen kann».

Ich akzeptiere diese Verweigerung des Besuchsrechts nicht. Und erhebe Beschwerde vor Obergericht. Unter anderem mit folgenden Argumenten:

  • Der vom Bezirksgericht Dielsdorf angerufene Geheimhaltungsartikel in der Strafprozessordnung stellt keine Rechtsgrundlage dar, um einer Journalistin den Besuch eines Gefängnis­insassen (des Beschuldigten) zu verweigern. Ausserdem liegt keine reale Gefahr der Beeinträchtigung des Strafverfahrens vor, da der erstinstanzliche Prozess bereits stattgefunden hat und das Urteil gefällt worden ist.

  • Als Gerichtsreporterin der Republik habe ich am erstinstanzlichen Prozess teilgenommen, darüber berichtet und keine Persönlichkeitsrechte verletzt; so wie nie in all den Jahren, in denen ich über den «Fall Carlos» berichtete.

  • Die Frage der Gleichbehandlung der Medien stellt sich nicht, da nur Besuche bewilligt werden, die vom Insassen erwünscht sind. Zum Zeitpunkt meiner Gesuchs­einreichung lagen keine weiteren Gesuche von Medien­vertretern vor. Ausserdem war es der ausdrückliche Wunsch des Insassen, von mir besucht zu werden, was er mehrfach über seinen Vater ausrichten liess. Beweisofferte der Republik: Fragt Brian!

  • Es liegt nicht an einem Bezirksgericht, Medienpolitik zu betreiben beziehungsweise zu entscheiden, wie und in welchem Ausmass über einen Prozess berichtet wird. Es gibt ein erhebliches Interesse der Öffentlichkeit, zu erfahren, wie die Justiz­behörden weiter mit diesem Fall umgehen.

Gerne hätte ich erfahren, welchen Argumenten sich das Zürcher Obergericht anschliesst. Doch dann krebst das Bezirksgericht Dielsdorf zurück – mitten im Beschwerde­verfahren.

Am 5. Februar 2020 wird mir die Bewilligung erteilt, Brian zu besuchen. Als Grund für die Kehrtwende wird angegeben, man habe erst jetzt, via Brians Verteidiger, erfahren, dass der Insasse meinen Besuch wünsche. Dieser «explizite und erstmals belegte Wunsch» sei in die Interessen­abwägung eingeflossen und habe zur Bewilligung geführt. Alle anderen Bedenken – die Persönlichkeits­rechte, die Geheimhaltung, das grosse Medien­interesse, der Gleichbehandlungs­grundsatz – spielen plötzlich keine Rolle mehr.

3. Der erste Besuch in der Pöschwies. Eine klaustrophobe Besucher­kabine mit Trennscheibe und miserabler Akustik. Brian, wie halten Sie das ständige Alleinsein aus?

Es ist der 10. März, sechs Tage später wird in der Schweiz der Corona-Lockdown verhängt. Schon jetzt prägt das Virus den Gefängnis­alltag. Der Besucherraum in der Pöschwies, in dem sich die Kabäuschen mit den Trenn­scheiben befinden, ist leer. Ich werde in den Raum Nr. 2 geführt, ein Mitarbeiter öffnet die stahlblaue Türe und schliesst sie hinter mir wieder.

Brian wartet hinter der Scheibe. Und ich frage mich: Wie begrüsst man sich in einer solchen Situation?

Gefesselt an Händen und Füssen – nur so darf Brian von Montag bis Freitag an die frische Luft. Maximal eine Stunde pro Tag.

Wir halten beide die rechte Hand an die Scheibe, das heisst, mein Gegenüber muss zwangsläufig beide Hände hochheben, sie stecken in Handschellen. Für seine Arme und Hände gibt es keinen Spielraum. Was mir sofort auffällt: Die Handgelenke sind blau verfärbt, geschwollen. Die Handschellen hinterlassen rote Abdrücke auf der Haut. Ein elendes Bild.

Ich bitte Brian, mir auch die Fussfesseln zu zeigen. Er hebt seine Beine in die Höhe. Der Spielraum zwischen den Füssen? Vielleicht sechzig Zentimeter? So verbringt er also seine einsame Stunde im Hof. Ein junger Mann, der Sport über alles liebt und dem die Psychiater eine Erwachsenen-ADHS attestieren.

Brian, wie halten Sie das ständige Alleinsein aus, die fehlende Bewegung?
Man muss es aushalten, ich bin ein gläubiger Mensch, das hilft. Es gibt Leute, die haben es viel schwieriger als ich. Ich rappe, höre Musik und schaue Fernsehen. Vor einiger Zeit habe ich einen Kugelschreiber bekommen, nun kann ich auch besser schreiben. Und seit kurzem darf ich mir wieder die Haare schneiden und mich rasieren. Endlich! Es ist kein menschen­würdiger Zustand, in dem ich mich befinde. Es ist noch viel schlimmer als der Vollzug in der Sicherheits­abteilung. Ich bin im Bunker, seit bald zwei Jahren. Wenn sie mich doch nur eine Stunde lang joggen lassen würden. Ich könnte so viel an Aggression und Wut abreagieren. Das würde mir helfen, mit der Situation besser umzugehen und die Emotionen besser zu kontrollieren.

Denken Sie oft an Ihre Zukunft?
Ich habe Träume und Ziele. Ich will Sport machen, vielleicht auch Musik, einfach das, was ich gut kann. Und selbstständig leben, meine Familie unter­stützen. Ich werde hart trainieren, härter als je zuvor. Ich lese viel, doch sie geben mir keine Literatur übers Boxen. Sie wollen an meinem Beispiel beweisen, dass es keine Kuschel­justiz gibt, dass sie hart sind. Die Justiz braucht ein Opfer, und das bin wohl ich. Doch ich gebe nicht auf, lasse mich nicht brechen. Ich bin nicht das Opferlamm der Justiz, ich bin Brian the Lion.

Brian lacht.

Wir diskutieren übers Lauftraining und die richtigen Jogging­schuhe, wir sind beide ein bisschen nervös. Was für das Gespräch erschwerend hinzu­kommt: Die Akustik im Besuchs­raum ist miserabel. Wenn wir uns gut verstehen wollen, müssen wir den Kopf nach unten, in Richtung Mikrofon, senken und können dem Gegenüber nicht mehr in die Augen schauen. Das ist nicht nur unangenehm und unhöflich, sondern auch unbequem.

Brian erzählt, wie er immer noch fassungslos ist, dass man ihn im August 2018 aus dem Normalvollzug in Burgdorf direkt in die Sicherheits­abteilung der Pöschwies versetzt hat, in die Isolierzelle, in ein Spezialregime. Dahin, wo er sich auch heute noch befindet. Und auf den Berufungs­prozess wartet.

Er ist in Sicherheitshaft, die auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Gericht ständig verlängert wird. Andere Täter bleiben bis zum rechtskräftigen Urteil auf freiem Fuss oder begeben sich in den vorzeitigen Strafvollzug – falls sie geständig sind. Bei Brian ist damit zu rechnen, dass er bis zum Berufungs­prozess vor dem Zürcher Obergericht im Gefängnis bleiben muss. Wann der Prozess stattfinden wird, steht noch nicht fest.

Sein Verteidiger Thomas Häusermann wehrte sich vergebens gegen die Fortsetzung der Sicherheits­haft. Er sagt, dass eine Überhaft drohe – das bedeutet, dass die Dauer der Untersuchungs- und Sicherheitshaft jene der Freiheits­strafe übertrifft. Und der Anwalt betont die «in höchstem Masse unhaltbaren Haftbedingungen» seines Mandanten. Besonders stossend: Brian wird in der Pöschwies auch von Aufseherinnen betreut, die ihn im Strafverfahren schwer belasten.

«Man kann mich doch nicht den Leuten ausliefern, die mich angezeigt haben», sagt Brian.

Dann wird die blaue Türe von aussen aufgerissen, und ich werde aufgefordert, den Raum wieder zu verlassen, die Stunde sei vorbei. Ich versuche, den Satz zu beenden und mich vom Mann hinter der Trennscheibe zu verabschieden. Doch es bleiben mir keine drei Minuten, und ich werde nach draussen spediert. Gerne hätte ich zugesehen, wie Brian aus dem Raum gebracht wird.

Das passiere nie, erklärt er mir beim nächsten Gespräch. Und schmunzelt über meine Naivität. Besucher dürften nie zuschauen, wenn die Eskorte mit Schild, Schutzbrille und Helm auftauche und ihn zu- oder abführe.

4. Es gibt Gesetze und internationale Standards zur Einzelhaft, die Recht­sprechung des Europäischen Gerichts­hofs für Menschen­rechte und des Bundes­gerichts. Was mit Brian geschieht, widerspricht allem

Jeden Tag 23 Stunden lang allein in einer karg eingerichteten Zelle. Samstag und Sonntag 48 Stunden lang eingesperrt. Keine Gespräche, kein Austausch mit Mitgefangenen. Gespräche mit Gefängnis­mitarbeitern bei geschlossener Zellentüre nur durch eine geöffnete Klappe. Der Imam, die Sozialarbeiterin, die Aufseher, der Arzt, die Psychologin – wenn sie mit Brian reden wollen, dann geht das immer nur durch diese Klappe.

Damit konfrontiert, schreibt der Justizvollzug: Es gebe im Kanton Zürich keine Isolationshaft. Brian habe viele soziale Interaktions­möglichkeiten und nehme diese auch wahr. «Gegenwärtig ist einzig der Kontakt zu anderen Gefangenen unterbunden. Brian kann Besuche empfangen, mit dem Imam sprechen und regelmässig an Gesprächen mit der Psychiaterin teilnehmen.»

Das «unvergleichbar gewaltbereite, aggressive und renitente» Verhalten des Insassen erlaube es nicht, weniger restriktive Massnahmen anzuordnen. Es gehe um die Schutz­pflichten des Justiz­vollzugs gegenüber Mitgefangenen, Mitarbeiterinnen und Besuchern. Die Sicherheit aller müsse gewährleistet werden. «Solange Brian nicht Abstand zu massiven Gewalthandlungen nimmt, wird eine Öffnung nicht realistisch sein.»

Brians Haftregime muss als schweizweit einzigartig beschrieben werden. Was dabei nicht vergessen gehen darf: Er ist noch nicht rechtskräftig verurteilt, befindet sich in Sicherheitshaft, es gilt die Unschulds­vermutung. Lassen sich derartige Haft­bedingungen mit den internationalen und nationalen Rechts­grundlagen und der Rechtsprechung vereinbaren?

«Nein, ganz und gar nicht», sagt Verteidiger Thomas Häusermann.

«Ja», sagt das Zürcher Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung. Und verweist auf Artikel 78 des Strafgesetzbuchs.

Der Artikel regelt unter anderem, dass Einzelhaft zum Schutz der Gefangenen und von Dritten oder als Disziplinar­sanktion angeordnet werden darf. Das Amt beruft sich ausserdem auf Paragraf 23a im kantonalen Straf- und Justizvollzugsgesetz, der die Massnahmen «zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der betrieblichen Sicherheit oder Ordnung» regelt. Schliesslich wird auch noch die Hausordnung der Pöschwies zitiert.

Was der Justizvollzug nicht erwähnt: die Nelson-Mandela-Regeln der Vereinten Nationen, die Europäische Menschenrechts­konvention, die Bundes­verfassung, die Recht­sprechung der Gerichte im In- und Ausland oder die Expertisen aus der Wissenschaft. All diese Grundlagen widersprechen dem Umgang mit Brian.

Die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung von Gefangenen, Nelson-Mandela-Regeln genannt, halten unter anderem fest:

  • Unter keinen Umständen dürfen Einschränkungen oder Disziplinar­strafen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichkommen. Verboten ist unter anderem eine Langzeit-Einzelhaft.

  • Der Kontakt zu Familien­angehörigen darf nur für einen begrenzten Zeitraum und nur so weit beschränkt werden, als es für die Wahrung von Sicherheit und Ordnung unbedingt erforderlich ist.

  • Einzelhaft im Sinne dieser Regel bedeutet «die Absonderung eines Gefangenen für mindestens 22 Stunden pro Tag ohne wirklichen zwischenmenschlichen Kontakt». Langzeit-Einzelhaft bedeutet: mehr als 15 aufeinanderfolgende Tage Einzelhaft.

Die Europäische Menschenrechtskonvention regelt in Artikel 3, dass niemand «der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung» unterworfen werden darf. Gemäss Bundesgericht liegt eine Verletzung dieser Bestimmung vor, wenn die Haft­bedingungen einen Grad der Erniedrigung und Entwürdigung erreichen, der höher ist, als was der Freiheits­entzug gewöhnlich mit sich bringt. Ausserdem hat das höchste Schweizer Gericht festgehalten, dass der einstündige Spaziergang im Freien verwirklicht werden müsse, dass dieser zu den Minimal­anforderungen gehöre.

Artikel 10 Absatz 2 der Bundesverfassung schützt die persönliche Freiheit. Dazu gehören die körperliche und geistige Unversehrtheit und die Bewegungs­freiheit; Letztere wird bei Strafgefangenen zwar eingeschränkt, aber nicht total aufgehoben. Grundrechte gelten auch für Gefängnis­insassen.

Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Strafe fordert besondere Aufmerk­samkeit für Gefangene in Einzelhaft, «weil diese eine extrem schädigende Auswirkung auf die geistige, körperliche und soziale Gesundheit haben kann». Einzelhaft sei auf ein «absolutes Minimum» zu reduzieren.

Das Schweizer Menschenrechts­portal humanrights.ch bezeichnet die als Einzelhaft ausgestaltete Hoch­sicherheits­haft als die «schärfste Form des Freiheitsentzugs». Einzelhaft stelle «stets eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder gar Folter dar, wenn sie auf unbeschränkte Zeit angeordnet wird oder wenn sie als komplette sensorische oder soziale Isolation ausgestaltet ist».

Hat das alles keine Geltung, soll das alles null und nichtig sein, nur weil der Justizvollzug Brian als gefährlich einstuft?

Brian ist sich bewusst, dass er nicht stets adäquat reagiert, seine Emotionen nicht jederzeit im Griff hat. Und dass ihn seine Vergangenheit als «Carlos», als «berühmtester Jugendstraftäter der Schweiz», immer wieder einholt. Doch wie soll einer vernünftig bleiben oder gar vernünftig werden, wenn er seit bald zwei Jahren mutterseelen­allein in einer trostlosen Zelle hockt? Geht ein Mensch in einer solchen Extrem­situation nicht zwangsläufig zugrunde?

5. «Gefühl des totalen Durchdrehens»: Eine Sympathisantin der RAF beschreibt ihre 867 Tage Isolationshaft in Zürcher Gefängnissen. Die Einzelhaft wird beinahe abgeschafft

Im Juni 1991, da war Brian noch nicht geboren, kam es im Kanton Zürich beinahe zu einer kleinen Sensation. Nur eine einzige Stimme fehlte, und das Kantonsparlament hätte eine Einzelinitiative von Georges Pierre Weil-Goldstein definitiv unterstützt. Sie forderte die Abschaffung der Einzelhaft.

Die Auswirkungen der Einzelhaft, argumentierte Weil, stellten eine massive Verletzung allgemeiner Menschenrechte dar. Die Einzelhaft widerspreche sowohl dem Rehabilitierungs­ziel als auch den Erfordernissen eines rechtsstaatlichen Untersuchungsverfahrens.

Die Unterstützung für das Anliegen, das der Primarlehrer Weil als Bürger eingereicht hatte, war erstaunlich breit, sogar CVP und EVP waren dafür. Die SVP warb moderat für eine Nicht­unterstützung, ohne jedes Gepolter und Justizbashing. Auch der Regierungsrat war dagegen und fand auf der bürgerlichen Seite Unterstützung. 60 Ja-Stimmen hätte es gebraucht, 59 kamen zustande. Ein beachtliches Resultat für einen Vorschlag, der heute wohl kaum eine Chance hätte.

Initiant Weil-Goldstein berief sich in seinem Vorstoss auf wissenschaftliche Untersuchungen – und meint damit in erster Linie die Forschungsarbeit von Reto Volkart. Der Psychologe publizierte in den 1980er-Jahren zusammen mit Fachkollegen drei Studien zur Einzelhaft:

  • In der ersten Studie untersuchte das Team 102 Patienten in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, die aus Gefängnissen eingewiesen worden waren. Die Forscher stellten dabei fest, dass 75 Prozent der Gefängnis­patienten aus der Isolationshaft kamen.

  • In der zweiten Studie verglichen die Forscher 30 Insassen in Einzelhaft mit 28 Gefangenen, die sich im Gemeinschafts­vollzug befanden. Die Forscher kamen zum Ergebnis, «dass psycho­pathologische Symptome während der Einzelhaft weitaus häufiger auftreten als während der Gemeinschafts­haft». Als Symptome werden unter anderem irrationale Angst-, Krankheits- und Verfolgungs­gefühle, schwere Depression, extreme Reizbarkeit, Konzen­trations- und Denkstörungen oder Sinnes­täuschungen genannt. «Die akut gefährlichste Wirkung der Einzelhaft ist die erhöhte Selbstmord­gefahr.»

  • In der dritten Studie ging das Team der Frage nach, worin sich freiwillige und unfreiwillige Isolation unterscheiden. Die Schlussfolgerung: Isolation und Monotonie werden als erträglich oder sogar angenehm empfunden, wenn sie freiwillig stattfinden und vom Isolierten kontrolliert (sprich: jederzeit beendet) werden können. Wird Isolation unfreiwillig angeordnet, löst sie bei den Betroffenen Hilflosigkeit und Ohnmachts­gefühle aus – das sind Kennzeichen von traumatischen Situationen.

Psychologe Volkart wollte konkret wissen, wie Einzelhaft einen Menschen verändert. Zu diesem Zweck interviewte er in den späten 1970er-Jahren Petra Krause, die dem Umfeld der RAF und der Roten Brigaden zugeordnet worden war und in Zürich wegen Sprengstoffdelikten verurteilt wurde. Die deutsch-italienische Doppelbürgerin und Auschwitz-Überlebende verbrachte in Zürcher Gefängnissen 867 Tage in Einzelhaft. Sie fasste gegenüber Volkart ihre Erfahrungen in vier Phasen zusammen:

  1. Gefühl des totalen Durchdrehens.

  2. Gewöhnung, kombiniert mit gestörten Verhaltens­weisen.

  3. Ab circa fünfzehn Monaten ist das Denken, Lesen und Verstehen nur noch in besonders günstigen Verhältnissen möglich. Anfälle von Euphorie und Aggressivität lösen sich ab.

  4. Nach der Freilassung bestehen enorme und lang andauernde Anpassungs­schwierigkeiten.

Krause erwähnt im Interview mit Volkart ihre «aufflackernden aggressiven Tendenzen», den Wunsch, die Aufseher zu verletzen. Sie versuchte, die Isolation mit einem strengen Tagesplan, mit täglicher Gymnastik und Lektüre zu überstehen. Doch sie merkte, dass beides schwieriger und anstrengender wurde, je länger die Isolation anhielt.

Das Denkvermögen sei immer mehr eingeschränkt worden, so Krause, und irgendwann habe sie das Lesen aufgeben müssen. Petra Krause stellte an sich selber eine Persönlichkeitsveränderung fest. Als sie freigelassen und nach Italien ausgeliefert wurde, wog sie noch 37 Kilogramm, musste gestützt werden und trug eine Sonnenbrille, weil sie das Tageslicht nicht mehr ertrug.

Reto Volkart forscht heute nicht mehr zur Einzelhaft. Doch seine Einstellung dazu hat sich nicht verändert: «Ich fordere die Abschaffung, das ist ganz klar. Ausser für Leute, die dies freiwillig tun wollen, ein Time-out benötigen. Auch im Gefängnis braucht es die Möglichkeit für einen Rückzug, doch abgesehen davon muss man die Einzelhaft abschaffen. Eine länger andauernde Isolation kann Folter sein, es greift die seelische und körperliche Integrität an. Da kommt niemand ungeschoren raus. Die Dauer der Einzelhaft spielt nur bedingt eine Rolle, denn es gibt Menschen, die schon innerhalb weniger Stunden durchdrehen, weil sie die Isolation einfach nicht ertragen.»

Zur Situation von Brian will sich der Psychologe nicht äussern, er kenne den Fall nur aus den Medien. Doch als ich ihm die Haftbedingungen, unter denen Brian seit bald zwei Jahren lebt, in groben Zügen schildere, meint er: «Es läuft mir kalt den Rücken runter.»

6. Ein zweistündiges Telefongespräch mit Brian, mitten im Corona-Lockdown. Wie würde er als Gefängnis­direktor mit dem Insassen Brian umgehen?

Es ist der Beginn der Lockdown-Woche Nummer vier, Anfang April. Fast alle sind daheim: am Arbeiten, Lernen oder einfach nur am Ausharren. Wie im Gefängnis, denke ich – aber nein, der Vergleich ist völlig unangebracht. Mein Fenster steht sperrangelweit offen, die Sonne scheint in die Stube, die Katze der Nachbarn springt auf den Fenstersims und schaut den Vögeln zu, am Abend ist ein Wald­spaziergang geplant.

Kurz nach 14 Uhr klingelt wie vereinbart das Telefon. Unterdrückte Nummer. Am anderen Ende der Leitung meldet sich Brian aus der Arrestzelle.

Wie geht es Ihnen?
Muss, muss. Ich warte seit zwei Wochen auf einen Entscheid, was meine Verlegung in ein anderes Gefängnis betrifft. Ich muss unbedingt weg von der Pöschwies, hier geht es einfach nicht, die Situation ist unmöglich. Man kann mich doch nicht im Ungewissen lassen, das ist das Schlimmste, was man einem Insassen antun kann. Ich muss irgendwo anknüpfen können. Und ich hatte so gehofft, den Ramadan in einem anderen Gefängnis verbringen zu dürfen. Die Spielchen, die hier stattfinden, machen mich wütend. Ich werde provoziert, gehänselt und schikaniert, doch wer glaubt mir schon? Es gibt keine Zeugen, und die Angestellten halten zusammen. Wenn die Spielchen beginnen, werde ich hässig. Doch auch wenn ich mich korrekt benehme, bringt es nichts, keine Verbesserungen. Es ist schon zu viel passiert in der Pöschwies, ich muss hier weg. Ich habe immer gesagt: Bitte, steckt mich nicht in diese Abteilung, nicht zu den Aufsehern, die mich angezeigt haben. Aber ich bin und bleibe der einzige Schuldige.

Wenn Sie Gefängnisdirektor wären, wie würden Sie mit Brian umgehen?
Ich würde mit ihm reden, Auge in Auge. Ich würde ihn fragen: Was willst du, wie kann ich dir helfen? Und dann würde ich ihm eine Chance geben. Ihm die Vor- und Nachteile erklären, das ist doch kein Hokuspokus! Ich bin in einem Gefängnis, in dem die schlimmsten Verbrecher untergebracht sind – Mörder, Vergewaltiger, Kinderschänder. Ich habe all dies nicht getan, doch die anderen werden viel besser behandelt als ich. Man müsste mir eine Perspektive geben, eine Motivation, einen Funken Hoffnung – so wie damals im Sondersetting. Doch sie geben mir das Gefühl, ein Monster zu sein, Hannibal Lecter. Ich sei gefährlich sagen sie, sie hätten Angst vor mir. Vor den Mördern haben sie keine Angst. Sie erwarten von mir ein menschliches Verhalten und behandeln mich wie ein Tier.

Geschwollene Handgelenke: Die Fesseln hinterlassen Spuren.

Aber Sie könnten doch beweisen, dass Sie es besser machen, als es die Vollzugs­fachleute erwarten.
Wenn ich das könnte, wäre ich nicht in der Situation, in der ich mich befinde. Ich bin kein Engel, das weiss ich. Die Ehre ist mir wichtig, und ich will korrekt behandelt werden. Dann verhalte ich mich auch korrekt. Sie dürfen mich nicht in der Einzelhaft halten, mich isolieren, schon gar nicht so lange. In der Isolation steigen Wut und Aggression hoch. Das ganze Leben läuft an einem vorbei. Doch über meine Wange fliesst keine Träne, das würde als Schwäche betrachtet. Im Gefängnis darf man nicht schwach sein, das ist hier wie im Dschungel, nur die Starken überleben. Es ist auch der beste Ort für eine kriminelle Ausbildung – jede Fachrichtung ist vorhanden.

Was sehen Sie, wenn Sie aus dem Fenster schauen? Wie verbringen Sie die Tage in der Zelle?
Seit die Folie am Fenster weg ist, sehe ich den Himmel, ein Stück Mauer, ein bisschen Grün und Baumkronen. Manchmal fliegt ein Raubvogel vorbei. Ich kann das Fenster nicht öffnen. Ich bin froh, wenn schlechtes Wetter ist, bei schönem Wetter ist es schwieriger, eingesperrt zu sein. Ich versuche, in der Zelle Sport zu machen, Rumpfbeugen, Liegestütze, Schattenboxen, jeden Tag etwas anderes. Doch an manchen Tagen fehlt mir die Motivation dazu. Und ich bekomme zu wenig frische Kleider, um Sport machen zu können. Ich gehe in der Zelle auf und ab, wie ein Tiger im Käfig. Drei Schritte vorwärts, drei Schritte zurück. Ich habe zugenommen, das stört mich. Aber ich weiss, dass ich die Kilos loswerde, sobald ich wieder Sport machen kann. Wenn ich nur joggen könnte! Immer allein zu sein, ist schlimm. Gesunde Menschen können in der Isolation durchdrehen, den Verstand verlieren. Ich habe solche Dokumentar­filme gesehen. Manchmal denke ich: Wenn sie mich mit zwölf hätten boxen lassen, vielleicht wäre alles anders gekommen. Das Boxen hilft gegen Wut und Hass. Es ist mein Traum, mein Ziel. Ich möchte nur im Ring kämpfen müssen, auf der ganzen Welt und gegen die stärksten Leute.

7. Brian, der Täter und Beschuldigte, ist auch Geschädigter und Kläger. Seine Resignation in der Isolation nimmt zu, doch ein Projekt eröffnet ihm neue Perspektiven

In der Öffentlichkeit wird Brian als notorischer Straftäter wahrgenommen. Weit weniger bekannt ist, dass er auch als Kläger und Geschädigter auftritt, sich mit rechtlichen Schritten wehrt – es ist ein Kampf mit Argumenten, ganz ohne Fäuste. Die bevorstehenden Prozesse, die ausstehenden Entscheide und Urteile werden den Justizvollzug prägen.

  • Die Zürcher Staatsanwaltschaft muss einen Vorfall von April 2019 in der Pöschwies untersuchen, der auf Video dokumentiert ist. Beschuldigt sind fünf Aufseher. Sie sollen den gefesselten Insassen auf den Hofgang führen, als es im Gang zu einem Gerangel kommt. Auf dem Video ist zu sehen, dass Brian geschlagen wurde, als er bereits überwältigt auf dem Boden lag. Das Obergericht, das der Staatsanwaltschaft – entgegen deren Antrag – die Ermächtigung zur Straf­untersuchung erteilt, schreibt von «mehreren, teils sehr starken Schlägen» gegen den Insassen. Und: Brians Aussagen seien «nicht a priori unglaubhaft».

  • Rechtsanwalt Thomas Häusermann fordert im Dezember 2019 die Zürcher Staats­anwaltschaft auf, wegen Amtsgeheimnis­verletzung tätig zu werden. Im November war in einer Boulevardzeitung ein Artikel publiziert worden, der das Verhalten Brians beim Hofgang schildert. Die Zeitung beruft sich auf «gut unterrichtete Polizeikreise» und auf einen «Insider».

  • Rechtsanwalt Häusermann will vom Bundesgericht erfahren, welche Instanz im Kanton Zürich generell für Strafvollzugs­fragen zuständig ist, konkret für die Frage der Gefängnis­verlegung von Brian sowie für sein Haftregime. Das Verwaltungs­gericht hatte im Februar dieses Jahres entschieden, die Verfahrens­leitung sei dafür zuständig. Das wäre derzeit das Obergericht, weil dort die Berufung hängig ist. Das Obergericht hingegen hatte die Vollzugs­behörden als die zuständige Instanz bezeichnet. Wegen dieser Uneinigkeit und der Bedeutung der aufgeworfenen Fragen streben Brian und sein Verteidiger ein höchstgerichtliches Urteil an.

  • Rechtsanwalt Markus Bischoff hat vor dem Zürcher Verwaltungs­gericht Klage erhoben, weil Brian im Sommer 2017 bei einem Aufenthalt in der Hochsicherheits­abteilung der Psychiatrischen Universitäts­klinik während sieben Tagen kein Hofgang gewährt wurde.

  • Im Januar 2017 wird Brian im Gefängnis Pfäffikon erniedrigend behandelt, was zwei Gutachten bestätigen. Rechtsanwalt Bischoff macht deshalb vor dem Bezirksgericht Zürich Staatshaftung geltend und verlangt vom Staat eine Genugtuung für Brian. Brian musste unter anderem auf dem nackten Boden einer unterkühlten Zelle schlafen, erhielt nur einen Poncho ohne Unterwäsche zum Anziehen und ungenügende Nahrung. Er durfte nicht duschen und nicht auf den Hofgang und musste 24 Stunden lang Fussfesseln tragen.

Mit diesen Verfahren streben die Anwälte Klarheit an im Strafvollzug, im Umgang mit Inhaftierten. Es geht um Fragen, die über den Einzelfall hinaus von Bedeutung sind. Von deren Klärung alle Gefangenen profitieren können.

Mein zweiter Besuch in der Pöschwies steht an, er ist problemlos gewährt worden. Dieses Mal darf ich mich zwei Stunden lang mit Brian unterhalten. Wieder in der Kabine mit der Trennscheibe. Es ist Anfang Juni, Brian trägt keinen Strickpullover mehr wie noch im März, sondern ein T-Shirt. Eigene Kleidung wird ihm nicht erlaubt, es sind Anstalts­kleider.

Der Kleiderbezug und das Kleider­waschen sind ein stetes Ärgernis für den Gefangenen. Er berichtet, wie es manchmal mit der frischen Wäsche nicht klappe, dass er sich einmal habe nackt auf den Boden legen müssen, bevor er die Wäsche bekommen habe, dass man ihm auch schon zu kleine Kleider gebracht habe oder solche mit Mottenlöchern.

Der Justizvollzug erwidert: «Diese Darstellung ist eindeutig falsch.» Es habe zwar kurzfristig Probleme gegeben, Brian mit frischer Wäsche zu versorgen. Doch der Austausch sei auch behindert worden, weil der Insasse versucht habe, das Personal durch die Versorgungs­klappe gewalttätig anzugreifen. «Eine Anweisung, sich nackt auf den Boden zu legen, gab es nie.»

Wie das Besuchsrecht trafen auch diese Stellungnahmen des Zürcher Amts für Justizvollzug und Wieder­eingliederung («Was für ein doofer, neuer Name», sagt Brian) nicht ohne vorgängiges Hickhack ein – obwohl sich das Amt vor meinem ersten Besuch bei Brian ausbedungen hatte, zu allfälligen Vorwürfen des Insassen Stellung nehmen zu können. Meine Fragen, die ich schriftlich einreichen musste, wollte das Amt zunächst nicht beantworten: weil sie «das Recht auf Persönlichkeits­schutz des Inhaftierten und das Amts­geheimnis in grober Weise» verletzen würden. Erst als Brian via Verteidiger ausrichten liess, er sei mit der Beantwortung meiner Fragen ausdrücklich einverstanden, trafen die schriftlichen Antworten ein.

Brian, wie sieht es mit der Verlegung in ein anderes Gefängnis aus?
Man hat mir mitgeteilt, dass keine Verlegung möglich sei. Das hat mich wütend gemacht. Das war von Anfang an eine Farce. Wenn sie es ernst meinten, wäre es sehr wohl möglich, dann könnten sie die Verlegung einfach anordnen. Doch ich merke seit einer Woche, dass draussen im Gang gearbeitet wird. Vermutlich bauen sie einen neuen Zugang zum Spazierhof, damit ich ohne Fesseln und ohne Eskorte in den Hofgang kann, jeden Tag. Nach zwei Jahren merken sie plötzlich, dass es nicht geht, wie sie mit mir umgehen? Aber die Bauarbeiten bedeuten auch, dass sie keine Verlegung planen, nie in Betracht gezogen haben. Sie lügen und wundern sich, dass ich das Vertrauen in den Staat verliere. Hier im Gefängnis halten alle zusammen und decken sich gegenseitig, das ist doch auch kriminell. Man glaubt ihnen, weil sie für den Staat arbeiten – mir glaubt niemand. Ich habe die Nase voll von all den schönen Paragrafen. Sie halten sich auch nicht dran.

Der Staat hält sich nicht an die Gesetze?
Sie wissen genau, dass sie mich nicht so lange isolieren dürfen. Und dass ich Anrecht auf eine Stunde Hofgang habe. Sie erzählen abstruse Dinge. Wissen Sie, was im Urteil des Bezirksgerichts Dielsdorf steht? Ich habe es genau gelesen, Seite für Seite. Sie behaupten, ich hätte beim Ausraster im Büro des Abteilungsleiters (der zur Anklage wegen versuchter schwerer Körperverletzung führte, Anm. der Red.) meine Augenfarbe gewechselt. Entschuldigung, aber was soll das? Ich kann doch meine Augenfarbe nicht wechseln! Die Aufseher provozieren und schikanieren mich, machen rassistische Sprüche, aber das hört ausser ihnen und mir niemand. Wenn ich davon erzähle, glaubt mir keiner. Das Wasser wird plötzlich abgestellt. Erlaubte Telefonanrufe mit meiner Familie klappen aus fadenscheinigen Gründen nicht oder werden mit Pfeiftönen gestört. Beim Essen fehlt meist die Etikette aus der Küche, sodass ich nicht weiss, ob mir alles gebracht wird. Ist die Etikette ausnahmsweise dran, so staune ich, wie vielfältig das Menü ist – da gibt es sogar Joghurt, ein Dessert, manchmal einen Eistee.

Schreiben Sie weiterhin? Rap-Texte und Briefe?
Im Moment fällt es mir schwer. Es ist schwierig in meiner Zelle. Die wäre eigentlich für einen kurzen Aufenthalt vorgesehen und eingerichtet. Es gibt ein gemauertes Bett, einen kleinen, gemauerten Tisch und einen gemauerten Stuhl. Ich habe keine Matratze, sondern eine Matte, das Bett ist steinhart. Anfänglich hatte ich auch kein Kissen. Es gibt keine richtige Toilette, nur ein Loch. Am schlimmsten aber sind die fehlende Bewegung und die fehlenden Kontakte zu anderen Menschen. Direkte Kontakte. Daher möchte ich versetzt werden, es geht einfach nicht mehr. Ich will weg von diesen Aufsehern, ihnen nicht mehr ausgeliefert sein. Ich will beweisen, dass ich ein anderer Mensch sein kann, auch im Vollzug. Hier habe ich keine Chance dazu.

Brian beschreibt seinen Gefängnisalltag in ausführlichen Briefen; es sind Briefe, die an den Theatermacher Daniel Riniker gerichtet sind. Die beiden fast gleichaltrigen Männer stehen seit einem halben Jahr in Kontakt – bisher ausschliesslich schriftlich, gesehen haben sie sich noch nie. Das sollte sich demnächst ändern; ein Besuchsgesuch Rinikers ist in diesen Tagen bewilligt worden. In ihrem schriftlichen Dialog unterhalten sie sich über Brians Erfahrungen, Lehren und Erkenntnisse aus dem «Fall Carlos».

Ziel des Austauschs ist es, Brians Erzählung künstlerisch umzusetzen, in einer gleichberechtigten Kooperation – nicht über seinen Kopf hinweg. Brian hat sich auf die Idee eingelassen. Daniel Riniker lotet nun mit einer Gruppe freischaffender Künstlerinnen die Möglichkeiten aus, den Dialog performativ umzusetzen. Er verfolgt den Fall, seit 2013 der Dokumentarfilm über Jugendanwalt Hansueli Gürber ausgestrahlt worden ist. Riniker findet, Brian habe einen Anspruch darauf, sich selber zu präsentieren, selber zu Wort zu kommen.

Was wäre gewesen, wenn dieser Dokumentarfilm nicht ausgestrahlt, das Sondersetting nicht abrupt abgebrochen worden wäre? Brian schon als Zwölfjähriger hätte boxen dürfen? Oder wenn er heute, als Erwachsener, in ein anderes Gefängnis verlegt worden wäre, einem weniger restriktiven Regime ausgesetzt? Brian lehnt sich in der Pöschwies, in der Spezialzelle, in seiner Isolation und Frustration, nach wie vor gegen alle auf. Es kommt zu neuen Zwischen­fällen und neuen Anzeigen gegen ihn. Das beeinflusst den bevorstehenden Berufungs­prozess vor Obergericht.

Die Spirale dreht sich unaufhörlich nach unten.

Meine Besuchszeit ist schon wieder abgelaufen, die zwei Stunden sind um.

Ganz kurz nur kommen wir noch auf die Polizeigewalt in den USA, auf George Floyd, zu sprechen. Doch ich bin bereits ein erstes Mal aufgefordert worden, den Raum zu verlassen. Brian verfolgt das Weltgeschehen, so gut es geht, am Fernsehen. «Es gibt viele Fälle wie jenen von George Floyd», sagt er. «Die Demonstrationen auf der ganzen Welt sind Anlass für Hoffnung.»

Anlass für Hoffnung. Das sind Brians Abschiedsworte, bevor ich aus der Kabine trete. Er bleibt sitzen, bis die Türe geschlossen ist.

Dann tritt bei ihm die Eskorte ein.

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