«Hygiene-Demo» gegen die Beschränkungen wegen der Corona-Pandemie am 2. Mai in Berlin. Christian Mang/Reuters

Was Wissen schafft

Als Antwort auf Corona-Verschwörungs­theorien und die «Nur ein Schnupfen»-Fraktion wird der blosse Verweis auf Daten, Fakten und Forschung nicht reichen. Im Gegenteil: Das kann auch zu einem Bumerang werden. Was tun?

Eine Analyse von Nils Markwardt, 07.05.2020

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Im Ausnahme­zustand hat sich politisch plötzlich vieles verschoben. Mandats­träger, die zuvor auf die Selbst­regulierung des Marktes setzten, entdecken nun die Lust am staats­dirigistischen Durchregieren; Geld, das vermeintlich nicht da war, wird von Staaten jetzt im grossen Stil ausgeschüttet; die globalisierte Mobilität, die sich stets nur zu beschleunigen schien, ist in vielen Bereichen stillgelegt.

Anderes hingegen verläuft im Corona-Diskurs durchaus so, wie es zu erwarten war. Allem voran die Tatsache, dass sich in der Debatte um die wissenschaftliche und politische Einordnung des Virus schnell eine Front der «Zweifler» bildete.

Auf Regierungsebene wäre da etwa US-Präsident Donald Trump, der die Gefahr von Covid-19 lange verharmloste. Oder sein brasilianischer Amtskollege Jair Bolsonaro, der das bis heute tut. Ebenso auf publizistischer Ebene. So warnte Roger Köppel angesichts der bis dato relativ niedrigen Anzahl an Corona-Toten in der Schweiz jüngst vor einer «medial-epidemiologisch befeuerten Politpanik» und wähnte das Land schon auf dem Weg in die Diktatur. Mit ähnlichen Argumenten hatte in Deutschland zuvor bereits der ehemalige SPD-Bundestags­abgeordnete Wolfgang Wodarg für Aufsehen gesorgt. Dessen These: Covid-19 sei harmloser als eine normale Grippe, und Virologen würden die ganze Sache nur aufblasen, um Aufmerksamkeit und Forschungs­mittel abzuräumen. Damit war er insbesondere im Netz auf grosse Resonanz gestossen.

In vielen Ländern formiert sich schliesslich auch ein zunehmender, oft von Rechts­populisten befeuerter Strassen­protest, der sich gegen die corona­bedingten Kontakt­beschränkungen wendet. Etwa in den USA, wo bewaffnete Trump-Anhänger buchstäblich gegen den Shutdown mobilmachen – und vor wenigen Tagen beispiels­weise das Parlamentsgebäude in Michigan stürmten. Und in Deutschland, wo etwa der «Demokratische Widerstand», ein obskures Bündnis aus Verschwörungs­theoretikern, Anti­kapitalistinnen und Rechts­extremen, auf einer Demonstration vor «Impf­terrorismus» und einem «dystopischen Digital- und Pharma­konzern­kartell» warnte.

Charakteristisch für diese (Quer-)Front der «Zweifler» ist, dass es ihnen nicht um eine rationale Debatte über die Ausbalancierung von Infektions­schutz, freiheitlichen Grund­rechten sowie ökonomischen Folge­schäden geht; sondern dass sie die jeweils verhängten Corona-Massnahmen per se als «Panik­mache» verbuchen oder gar als Teil einer gross angelegten Verschwörung begreifen.

Warum kommt das alles nicht überraschend?

Weil sich hier Muster wiederholen, die man aus der Debatte über den Klima­wandel oder den Erfahrungen mit Rechts­populisten kennt, historisch aber ebenso aus den Diskussionen über den Zusammen­hang von Tabak­konsum und Krebs­erkrankungen. Sprich: Bestimmte Gruppen lehnen wissenschaftliche Fakten ab, unterstellen Forscherinnen eigen­nützige Motive und verwerfen die sogenannte «Mainstream»-Bericht­erstattung als «gleichgeschaltet» und manipulativ.

Plumper Positivismus ist keine gute Antwort

Was hält man solch raunenden bis verschwörungs­theoretischen Argumentationen entgegen? Für alle Vertreter eines aufgeklärten Rationalismus heisst die Antwort wieder einmal: Sie müssen die Kraft der Fakten, die Legitimität wissenschaftlicher Verfahren sowie der sich daraus ergebenden Autorität der Wissenschafts­gemeinde verteidigen. Dementsprechend vernimmt man dieser Tage ja auch immer wieder das zweifellos notwendige Plädoyer: Hört auf die Wissenschaft! Oder konkreter: Schaut auf Zahlen, Statistiken und Modell­rechnungen, hört auf wissenschaftliche Institutionen und Experten, vertraut den Verfahren der Wissenschaftsgemeinde. Und mit ebendiesem Plädoyer könnte der Text dann auch enden. Könnte.

Leider jedoch liegt die Sache etwas komplizierter.

Denn die Forderung, schlichtweg auf die Wissenschaft zu hören, mag angesichts von publizistischen Profil­neurotikerinnen, Verschwörungs­theoretikern und postfaktischen Populistinnen zunächst so richtig wie nötig sein.

Dennoch birgt sie selbst Probleme. Genauer gesagt: gleich mehrere. Sie müssen selbstbewusst benannt werden, und damit muss die bloss reflexhafte Anrufung wissenschaftlicher Autorität auf den Prüfstand gestellt werden. Nicht um eine Hintertür für unterdessen eindeutig widerlegte Thesen zu öffnen, allen voran jene, dass Covid-19 harmloser als die saisonale Grippe sei. Und erst recht nicht, um Verschwörungs­theorien auch nur ansatz­weise hoffähig zu machen. Vielmehr braucht es diesen differenzierten Umgang, um beim zweifellos notwendigen Rekurs auf wissenschaftliche Erkenntnisse nicht in einen plumpen Positivismus zurückzufallen, der für die Demokratie langfristig ebenfalls gefährlich werden kann. Oder zugespitzter gesagt: um Wissenschaft nicht selbst zu einer Glaubens­frage zu degradieren. Ein differenzierter Umgang mit wissenschaftlicher Autorität könnte ausserdem dabei helfen, dass Desinformations­kampagnen weniger Resonanz­räume finden.

Drei Gründe also, warum wir es uns mit dem Verweis auf die Wissenschaft nicht zu einfach machen sollten.

1. Der falsche Singular

Zunächst der offen­sichtlichste und banalste Grund, warum man sich nicht einfach auf die Wissenschaft berufen kann: weil es die Wissenschaft nicht gibt. Schon deshalb nicht, weil sie sich in eine Vielzahl von Disziplinen aufteilt und sich selbst innerhalb einzelner Disziplinen, etwa der Virologie, wiederum in hoch spezialisierte Teil­bereiche auffächert. Vor allem aber auch, weil Wissenschaft – in den Worten der amerikanischen Wissenschafts­historikerin Naomi Oreskes – eine Form der «organisierten Skepsis» ist. Einer Skepsis, die auch wissenschaftlichen Konsens produziert, aber eben gerade erst durch langwierige, von Zweifeln angetriebene Überprüfungen.

Natürlich gibt es unzählige wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse, etwa die Tatsache, dass sich die Erde um die Sonne dreht oder die Klima­krise im Wesentlichen menschen­gemacht ist. Doch gerade bei der Erforschung neuer Phänomene wie dem Sars-CoV-2-Virus offenbart sich die Wissenschaft oft zunächst einmal «nur» als Versammlung verschiedener Erkenntnisse: Ergebnisse, die sich bisweilen ergänzen, aber eben auch durchaus widersprechen und allesamt je nach Daten­lage auch wieder ändern können.

Dass in vielen Fällen die Wissenschaft also nicht im Sinne eines gesicherten Einheits­wissens angerufen werden kann, führt die Corona-Krise geradezu exemplarisch vor: etwa wenn führende Virologen ihre Einschätzungen im Lauf der vergangenen Wochen selbst immer wieder geändert haben. Oder wenn es nach wie vor einen Disput um den Nutzen der Masken­pflicht gibt, wie sie viele Expertinnen mittlerweile für notwendig halten – während der Präsident des Weltärzte­bundes, Frank Ulrich Montgomery, sie in dieser Form erst kürzlich für «lächerlich» erklärte.

Wollte man sich vor diesem Hintergrund nun auf die Wissenschaft berufen, müsste also mindestens klar werden, dass damit nicht nur konsensuelles Tatsachen­wissen gemeint ist, sondern auch und vor allem das System Wissenschaft. Und das bedeutet: ein Zusammen­spiel von historisch gewachsenen Verfahren, Prozeduren und Institutionen, das nicht zuletzt vom Zweifeln und Überprüfen lebt – und das gerade deshalb «Wahrheit» produzieren kann.

2. Falsche Propheten

Damit aber entsteht schon das nächste Problem. Denn so richtig es ist, diesen System­charakter der Wissenschaft zu betonen, führt dies innerhalb der demokratischen – also der nicht­wissenschaftlichen – Debatte mitunter zu einem Kollateral­schaden. Das notwendige Beharren auf den Wert wissenschaftlicher Institutionen und Verfahren erzeugt bisweilen nämlich den paradoxen Effekt, dass Desinformations­kampagnen geradezu davon profitieren. Und zwar deshalb, weil sie sich selbst die Autorität des wissenschaftlichen Systems zunutze machen.

Oder anders gesagt: Desinformations­kampagnen versuchen wissenschaftliche Erkenntnisse oft mit wissenschaftlich wirkenden Mitteln zu unterlaufen.

Eines der prominenten Beispiele dafür: die Debatten um die krebs­erzeugende Wirkung des Rauchens. Die Strategie einiger mit der Tabak­industrie verbundenen Wissenschaftler – es waren oft Physiker wie der berüchtigte Fred Singer – bestand in der Regel nämlich nicht einfach darin, bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse der Krebs­forschung komplett zu leugnen. Wie Naomi Oreskes und Erik M. Conway in ihrem 2010 erschienenen Buch «Merchants of Doubt» gezeigt haben, bestand das Vorgehen vielmehr darin, Zweifel an bestehenden Studien zu säen oder auf eine vermeintlich unsichere Daten­lage zu verweisen. Die damit verknüpfte Botschaft: Potenzielle Regulierungen durch die Politik seien unzulässig, weil es zunächst noch wesentlich mehr Forschung benötige.

Für viele Beobachterinnen wirkte das alles völlig im Einklang mit dem urwissenschaftlichen Gebot des Zweifelns und Überprüfens. Zumal Singer und Co., ausgestattet mit der Autorität von Universitäts­professuren, ihre Wirkung auch durch ihre akademischen Titel und Positionen sicherten. Schliesslich sprachen hier Vertreter der Wissenschaft.

Ähnliches kennt man auch aus dem Bereich der «Klima­skeptiker» – oder eben aus der Corona-Debatte. Dass ein Wolfgang Wodarg mit seinen Thesen so viel Verbreitung findet, dürfte nicht zuletzt auch daran liegen, dass er Medizin studiert hat und eine internistische sowie pneumologische Facharzt­ausbildung absolvierte. Bei vielen Menschen kommt dadurch an: Hier spricht jemand mit der Autorität wissenschaftlicher Ausbildung.

Nach vergleichbarem Muster verweist Roger Köppel auf den (renommierten) schwedischen Epidemiologen Johan Giesecke. Der behauptet, die weltweit verhängten Corona-Massnahmen würden am Ende keine Auswirkungen auf die relative Sterbe­rate haben, da die Zahl der an Covid-19 Verstorbenen im Verhältnis zur Bevölkerung überall mehr oder weniger gleich sein werde. Und schliesslich streut selbst das obskure Bündnis vom «Demokratischen Widerstand» in einem kürzlich veröffentlichten verschwörungs­theoretischen Pamphlet Zitate von Wissenschaftlern ein und versucht so den Eindruck zu erwecken, ebenfalls die Wissenschaft auf seiner Seite zu haben. (Dass dabei Zitate mitunter sinnentstellend aus dem Zusammen­hang gerissen wurden, kommt hinzu.)

Als rationale Reaktion auf all das könnte man nun betonen, dass Wodarg zwar ausgebildeter Mediziner, aber eben kein Epidemiologe und erst recht nicht in der Forschung tätig ist. Ebenso liesse sich darauf verweisen, dass Gieseckes Prognose hochgradig spekulativ ist – und Schweden seinen halben Corona-Sonderweg momentan mit einer vergleichs­weise hohen Todes­rate bezahlt. Zudem könnte man immer wieder das Präventions­paradox erklären, also den Umstand, dass das Ausbleiben von noch mehr Toten gerade nicht gegen die Corona-Massnahmen spricht, sondern vielmehr ihre Wirkung dokumentieren kann. Und schliesslich liessen sich auch missbrauchte Zitate richtig einordnen.

Allein: Es bleibt das letztlich nicht vollständig aufzulösende Dilemma, dass ein «Hört auf die Wissenschaft!» paradoxer­weise auch den Resonanz­raum für publizistisches Geraune oder gar Desinformations­kampagnen schaffen kann – weil Letztere oft eine (pseudo-)wissenschaftliche Autorität für ihre Belange in Anspruch nehmen.

3. Falsche Schlüsse

Die Wissenschaft ist auch deshalb nicht einfach da, weil sie in gewisser Hinsicht immer gemacht und konstruiert ist. Und zwar in dem Sinne, dass erstens ihre Verfahren und Prozeduren sich historisch erst Stück für Stück heraus­bilden mussten. Und dass zweitens Forschung sich bis heute stets im Spannungs­feld veränderbarer ökonomischer, sozialer, kultureller und technischer Einflüsse bewegt.

Tatsachen, so bemerkte die Wissenschafts­historikerin Lorraine Daston, werden insofern immer erst geschaffen, als dass sie das Ergebnis geregelter Untersuchungen von Daten sind. Die Umstände und Rahmen­bedingungen dieser Untersuchungen aber unterliegen einem historischen Wandel.

Nun gibt es heute Peer-Review-Verfahren und – zumindest in demokratischen Ländern – die grund­rechtlich verankerte Freiheit der Forschung. Trotzdem ist Wissenschaft natürlich auch im 21. Jahr­hundert auf bestimmte politische Rahmen­bedingungen angewiesen, muss zunehmend finanzielle Drittmittel einwerben, teilweise reproduziert sie auch gesellschaftliche Verhältnisse, etwa in Form einer Unter­repräsentation von Frauen in Schlüsselpositionen.

Auch deshalb haben sich in den vergangenen Jahr­zehnten unzählige Regal­meter an geistes- und sozial­wissenschaftlicher Literatur angesammelt, die sich kritisch mit dem Komplex von Macht und Wissen auseinander­setzen. Exemplarisch mag dafür Michel Foucault stehen. In «Die Ordnung des Diskurses», seiner 1970 gehaltenen Antritts­vorlesung am Collège de France, konstatierte der Philosoph, dass die «Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen».

Einerseits ist diese Kontrolle des Diskurses im Kontext moderner Wissenschaft notwendig. Dies, weil nämlich differenziert werden muss, welche Aussagen in die Produktion von «Wahrheit» einfliessen dürfen und sollen – und welche nicht. Dass in eine wissenschaftliche Beschreibung einer Pflanze etwa nicht ihre symbolischen oder mythischen Zuschreibungen eingehen sollten, erscheint uns heute selbstverständlich – den Menschen der Antike wäre es noch ganz anders gegangen.

Anderseits vermag der Wille zur Wahrheit, diese in Foucaults Worten «gewaltige Ausschliessungs­maschinerie», aber eben auch Sprech­akte auszuschliessen, weil sie im Kontrast zu den herrschenden Regeln und Konventionen als «unsinnig», tabuisiert oder gar «wahnsinnig» gelten. Für Foucault hiess das eben nicht, dass sie deshalb auch tatsächlich «unwahr» sein müssen – und das sind Sätze, die man heute, in einem anderen historischen Kontext, mit einiger Beklemmung liest:

Es ist immer möglich, dass man im Raum eines wilden Aussen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven «Polizei» gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muss.

Aus: Michel Foucault, «Die Ordnung des Diskurses».

Foucault spielt hier auf die mendelsche Vererbungs­lehre an, die von Botanikern im 19. Jahr­hundert zunächst deshalb abgelehnt wurde, weil es für ihr Verständnis einen ganz neuen theoretischen Horizont, ganz andere Begriffe brauchte. «Mendel war ein wahres Monstrum, weshalb die Wissenschaft nicht von ihm sprechen konnte.»

Spätestens hier wird es kompliziert.

Denn einerseits lässt sich die Wissenschaft also auch deshalb nicht mehr einfach in positivistischer Manier anrufen, weil man aus guten Gründen nicht mehr hinter die Diskurs­analyse zurückkann. Sprich: Uns ist bewusst, dass Wissenschaft auf spezifische Weise in Macht-Wissen-Komplexe eingebunden ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: dass der Vorläufer des World Wide Web von der Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa) des US-Verteidigungs­ministeriums mitfinanziert wurde.

Aber anderseits darf man aus diesem Bewusstsein wiederum auch nicht die falschen Schlüsse ziehen. Denn so wenig wie die Darpa-Finanzierung für Verschwörungs­theorien taugt, so wenig bedeutet diskurs­analytische Wissenschafts­kritik, dass es keine Wahrheit gäbe oder Wissenschaft am Ende «irgendwie immer relativ» wäre.

Das Problem ist nur: Wer heute die foucaultsche Rede von «diskursiver Polizei» oder «Ausschliessungs­maschinerie» liest, dem wird schnell bewusst, wie sehr diese zum Vokabular von Klimawandel­leugnerinnen oder Corona-«Zweiflern» avanciert ist. Und wie sehr eine verkürzte und vulgäre Lesart der Diskurs­analyse dieser Tage anschluss­fähig für verschwörungs­theoretische oder post­faktische Kampagnen geworden ist. Schliesslich sehen sich diese ja auch in einem «Aussen», wo die eigentliche Wahrheit gesprochen wird, die aber durch eine herrschende Diskurs­kontrolle stumm gestellt werden soll. Dafür kann man Foucault und seine Nachfolgerinnen selbst­verständlich nicht direkt verantwortlich machen. Man kann diesen Umstand aber auch nicht einfach vom Tisch wischen.

Und jetzt?

Einer, der dieses Problem sehr genau erkannt hat, ist der Wissenschafts­soziologe Bruno Latour. Als Vertreter der sogenannten Science Studies hat Latour selbst immer wieder den sozial­konstruktivistischen Charakter der Wissenschaft betont. In seinem 2007 erschienenen Essay «Elend der Kritik» merkte er durchaus selbstkritisch an:

Natürlich sind Verschwörungs­theorien absurde Entstellungen unserer eigenen Argumentation, aber das ändert nichts daran, dass diese Waffen die unseren sind, auch wenn sie über unklar gezogene Grenzen geschmuggelt wurden und der falschen Partei in die Hände gerieten. Trotz aller Desinformation ist unser Waren­zeichen wie in Stahl geprägt noch immer leicht zu erkennen: Made in Criticalland.

Aus: Bruno Latour, «Elend der Kritik».

Wie einen Weg finden, weder den einen noch den anderen Fehler zu machen, wenn man sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse beruft? Also weder in einen vulgären, für Verschwörungs­theorien anschluss­fähigen Radikal­konstruktivismus zu verfallen, für den «alles relativ» ist; noch zurück in einen plumpen Positivismus zu kippen, der den sozial­konstruktiven Charakter von Wissenschaft völlig verkennt?

Latours Vorschlag besteht darin, den diskurs­analytischen Blick auf wissenschaftliche Erkenntnisse beizubehalten, aber gewissermassen seine Richtung umzukehren. Das heisst: Wenn man beispielsweise beleuchtet, in welche ökonomischen, kulturellen, technischen Verhältnisse eine Studie eingesponnen ist, dann soll dies nicht mehr als Subtraktion geschehen – bei der man so lange alles «Konstruierte» abzieht, bis am Ende nur nackter Relativismus übrig bleibt. Stattdessen müsse es darum gehen, eine Addition zu vollziehen, das heisst: Wissenschaftskritik als Versammlung verschiedener institutioneller Rahmenbedingungen, technischer Instrumente oder kultureller Implikationen zu begreifen.

Ganz konkret bedeutet das Folgendes: In öffentlichen Debatten käme es nicht einfach nur darauf an, was die Wissenschaft sagt, sondern viel stärker auch darauf, wie und vor allem warum sie es tut. Dabei ginge es nicht um relativistische Denunziation, sondern um Transparenz. Was es dafür braucht:

  • Wissenschaftler, die willens und fähig sind, ihre Forschung zu erklären, so wie es Charité-Virologe Christian Drosten in seinem Podcast fast ideal­typisch vorführt;

  • einen hochwertigen Wissenschafts­journalismus;

  • ein ausreichend grosses und interessiertes Publikum;

  • und schliesslich eine Art von latourscher Wissenschafts­kritikerin, die sich, wie Latour selbst, ihrer eigenen ambivalenten Position bewusst ist.

Für eine demokratische Öffentlichkeit ist das, zugegeben, eine ziemliche Herausforderung. Aber eine lohnenswerte.

Zum Autor

Nils Markwardt, 1986 in Grevesmühlen (Mecklenburg-Vorpommern) geboren, studierte Literatur- und Sozial­wissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist leitender Redaktor des «Philosophie Magazins». Für die Republik schrieb er zuletzt über rechten Terror und über die Landtagswahlen in Ostdeutschland.

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