Binswanger

Ein Tanz auf dünnem Eis

Der Exit aus dem Covid-Lockdown wird zur politischen Bewährungsprobe. Die üblichen Verdächtigen machen Stunk. Aber bisher ist es weniger heftig, als zu befürchten stand.

Von Daniel Binswanger, 18.04.2020

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Zwei Dinge sind in dieser nach­österlichen Woche zur quälenden Gewiss­heit geworden. Erstens: Es gibt keine Gewiss­heit. Zwar schicken sich die europäischen Länder, die schon einen deutlichen Rück­gang der Fall­zuwächse hinbekommen haben – darunter Öster­reich, Deutsch­land und die Schweiz –, dazu an, ihre Exit-Pläne auszurollen. Obwohl es Unter­schiede gibt, obwohl die Österreicher zeitlich etwas voraus­gegangen sind, herrscht im Grunde überall dieselbe Haltung. In den Worten der deutschen Kanzlerin: Der Spiel­raum ist eng, das Eis ist dünn.

Nicht Aufbruch ist das Gebot der Stunde, sondern Zurück­haltung. Wir lösen eine Gleichung mit vielen Unbekannten, die Entscheidungs­träger navigieren auf Sicht. Auch in den Ländern, die die Ansteckungs­kurve erfolgreich geglättet haben, ist das Risiko real, dass die Neuinfektionen wieder zunehmen. Niemand kann mit Sicherheit prognostizieren, wie die Lockerung der Schutz­massnahmen – die Intensivierung des öffentlichen Verkehrs, die Reaktivierung von Detail­handel und personen­bezogenen Dienst­leistungen, die Wieder­eröffnung der Schulen – sich konkret auswirken wird auf die Dynamik der Epidemie. Werden die Hygiene­konzepte greifen? Wird das Social Distancing auch dann hinreichend verbindlich bleiben, wenn das Wirtschafts­leben sich wenigstens zu Teilen normalisiert? R0 > 1, R0 < 1? So ganz genau weiss das niemand, weshalb es richtig ist, dass die Behörden sich mit Vorsicht voran­tasten. Wir vollziehen ein Echtzeit­experiment, das nicht scheitern darf.

Zweitens aber steht fest: Der wirtschaft­liche Einbruch ist horrend. Der am letzten Dienstag publizierte «World Economic Outlook» des IWF lässt daran keine Zweifel. 3 Prozent soll die globale Wirtschafts­leistung 2020 schrumpfen. Zum Vergleich: Im Krisenjahr 2009 schrumpfte sie um 0,1 Prozent.

Und diese 3 Prozent Negativ­wachstum sind laut IWF das aller­optimistischste Szenario. Es setzt voraus, dass die Welt im zweiten Quartal den Höhe­punkt der Krise bereits hinter sich lässt und in der zweiten Jahres­hälfte schon ein kräftiger Rebound stattfinden kann. Falls dem nicht so ist, falls der Lockdown in weiten Teilen des Globus länger andauern muss oder im Herbst eine zweite Welle kommt, wird der Einbruch sehr viel grösser sein. Der IWF rechnete in diesem Fall mit einem Rück­gang der Weltwirtschafts­leistung von bis zu 11 Prozent. Das wäre eine Krise, welche die Dimensionen der Grossen Depression annimmt.

Selbst vor dieser Drohkulisse schafft die Schweiz es jedoch, als ihre eigene Comedy-Version aufzutreten: Baumärkte und Garten­center müssen wieder­eröffnet werden mit oberster Priorität. Irgendwie ist es herz­erwärmend. Mag die Welt auch unter­gehen, der Schreber­garten will saniert sein! Coiffeure gehören bei uns zu den Aller­ersten, die wieder Kunden empfangen dürfen, während Buch­handlungen geschlossen bleiben. Deutsch­land macht das in umgekehrter Reihen­folge. Da kommen erst die Bücher – und dann die Dauer­welle. Diese Dichter und Denker!

Vermutlich ist es jedoch gar nicht so entscheidend, mit welcher exakten Gruppe von Dienst­leistern und Geschäften die Lockerungen eingeleitet werden. Wichtig ist, dass es sich nur um eine reduzierte Auswahl handelt, dass noch nicht zu viele Leute gleich­zeitig aus ihren Wohnungen gelockt, dass Einkaufs­meilen und Innen­städte nicht zu überstürzt belebt werden. Der Bundesrat wird zwar angegriffen, weil nicht einsichtig ist, weshalb man Blumen schon ab dem 26. April, Kleider aber erst ab dem 11. Mai einkaufen darf. Das wirkt in der Tat willkürlich, aber das Prinzip einer gestaffelten Öffnung ist richtig.

Die irritierende Frage, weshalb wir das eine tun können, das andere aber lassen müssen, wird uns so schnell nicht mehr verlassen – umso mehr, als der Bundesrat immer wieder zu steilen Begründungen greift. Vor vier Wochen hat man die Schulen geschlossen, weil auch Kinder das Virus übertragen können. Jetzt öffnet man die Schulen wieder – weil Kinder «keine Virus­schleudern» seien. Die beiden Aussagen sind nicht notwendiger­weise wider­sprüchlich, aber einmal ist das Glas halb voll, und plötzlich ist es halb leer.

Ebenfalls nicht zwingend wider­sprüchlich, aber doch mit grosser Dialektik aufgeladen ist die Ansage, dass man Primar­schüler zwar wieder gefahrlos in Klassen­zimmern zusammen­pferchen kann, dass aber dieselben Kinder weiterhin mit absoluter Strikt­heit von ihren Gross­eltern getrennt werden sollen. Sicherlich liegt das daran, dass man Risiko­gruppen auch vor sehr geringer Ansteckungs­gefahr schützen will. Aber was ist mit Kindern, bei denen ein Eltern­teil einer Risiko­gruppe angehört? Werden die vom Unter­richt ausgeschlossen?

Überhaupt herrscht Konfusion in der Frage der Schul­öffnung. Österreich ist vorgeprescht beim Detail­handel, will die Schulen aber deutlich später und nur für Abschluss­klassen öffnen. Die deutschen Bundes­länder – sie sind unter­einander jedoch uneins – gehen wohl eben­falls diesen Weg. Nur die Schweiz forciert die schnelle Wieder­eröffnung aller obligatorischen Schul­stufen. Eine der beiden Strategien ist falsch.

Auch über andere Fragen dürfte es weitere Auseinander­setzungen geben: über Masken, über digitales Contact Tracing, zunehmend wohl auch über die behördliche Test­strategie, deren sehr restriktive Natur bisher verblüffend wider­spruchslos hingenommen wird. Der Cocktail aus weit­gehender epidemiologischer Unsicher­heit und enormem wirtschaft­lichem Druck ist politisch explosiv.

Doch wider Erwarten – obwohl sich letzte Woche alle warmzu­laufen schienen – ist das ganz grosse partei­politische Hickhack fürs Erste ausgeblieben. In der SVP hat zwar der Blocher-Martullo-Flügel auf vollen Krawall­modus geschaltet, alle anderen Kräfte aber bleiben relativ konstruktiv.

Sicherlich zeigen sich ein paar Gewerbe­verbände enttäuscht. Und ja, bevor wir es vergessen: Ein Editorial des NZZ-Chefredaktors erklärt in bizarren Windungen, dass zwar die Ärzte von Bergamo – als eigen­verantwortliche Individuen! – grosse Helden sind, dass aber das italienische Gesundheits­system – als kollektivistischer Staats­apparat! – einen Pfuhl der Ineffizienz darstellt. Es entsteht noch nicht einmal der Eindruck, der Autor selber glaube an den Nonsens, den er vorträgt: «In Deutsch­land und der Schweiz gibt es eher zu viele Akut­spitäler, die Corona-Krise ändert am Reform­bedarf nichts.» Wir wünschen alles Gute. Wenn selbst die Chef­ideologen des Anti-Etatismus mit so dünnem Stimmchen zu predigen beginnen, könnten sich ein paar mentale Blockaden in diesem Land tatsächlich lösen.

Ewig wird der relative Burg­friede allerdings nicht halten: Das politische Absturz­potenzial ist enorm. Aber es steht zu hoffen, dass der kooperative Geist noch weiter­trägt. Wir befinden uns in einer Situation radikaler Ungewiss­heit und stehen unter gigantischem wirtschaft­lichem Druck. Sicher ist da nur eins: Nur kooperatives Handeln – nach innen und nach aussen – wird uns erlauben, aus dieser Krise wieder herauszukommen.

Illustration: Alex Solman

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