«Die Grünen haben viel politisches Kapital vernichtet»

Den Glauben an die Linke hat er verloren, die Grünen kann er nicht wählen und beim Thema Medien bricht er zusammen – Schriftsteller Lukas Bärfuss zieht gnadenlos Bilanz und sagt doch: «Ich bin kein Kulturpessimist.»

Ein Interview von Daniel Binswanger, Christof Moser (Text) und Gregory Gilbert-Lodge (Illustrationen), 28.12.2019

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Lukas Bärfuss, vor vier Jahren, kurz vor den Wahlen 2015, haben Sie in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» einen Text veröffentlicht, der sehr viel auslöste: «Die Schweiz ist des Wahnsinns». Sie warnten darin vor dem Rechts­rutsch, der dann auch kam. Jetzt, vier Jahre später, kam der Links­rutsch, die Frauen­wahl, die grüne Welle. Ist alles wieder gut?
Das ist etwas komplizierter. Was wir, glaube ich, festhalten können: Im Schweizer System spielt die Verteilung der Partei­zugehörigkeiten im nationalen Parlament keine entscheidende Rolle mehr für die Politik, die dann tatsächlich gemacht wird. Die bürgerliche Mehrheit in den letzten vier Jahren hat es nicht geschafft, ihre Agenda durchzusetzen. Den Grünen wird es vermutlich genauso gehen.

Die Grünen werden an der Schweizer Politik nichts ändern?
Jedenfalls weniger, als man gemeinhin annimmt. Die Referenden und die Initiativen werden sie zurück­binden. So, wie es auch die Rechten erleben mussten. Dass das Parlament jünger und weiblicher geworden ist, wird grösseren Einfluss haben als die Stimmen­gewinne der Grünen. Die Bundesrats­wahlen haben es gezeigt. Da ist die grüne Welle bereits zerschellt.

War das eine Enttäuschung für Sie?
Ich habe wenig Mitleid mit Politikerinnen, welche die Grosswetter­lage so falsch einschätzen wie jetzt die Partei­führung der Grünen. Strategisch war das ziemlich erbärmlich.

Die Kandidatur? Die Art und Weise der Kandidatur?
Es gab ein Bild, das die Aussichtslosigkeit des Unter­fangens von allem Anfang an offenbarte: Frau Rytz gibt am 21. November in Bern ihre Bundesrats­kandidatur bekannt – und sie steht allein da. Niemand bei sich. Nicht ihr Fraktions­chef, niemand von der SP, niemand von der CVP, kein Grünliberaler. Einfach niemand. Offenbar waren die Präsidentin vom Landfrauen­verband und ein Namenloser von den Jungen Grünen vor Ort, um Frau Rytz zu unterstützen. Ich weiss gar nicht, mit welchen Adjektiven man das qualifizieren soll.

Es fehlte an Partnern?
Die Vorstellung, die Grünliberalen seien Verbündete, nur weil sie dasselbe Adjektiv im Namen tragen, war eine völlige Fehl­einschätzung. Man musste ja nur einen x-beliebigen politischen Kolumnisten lesen, zum Beispiel Herrn Binswanger, um das zu verstehen. Das ist unentschuldbar. Die Grünen haben viel politisches Kapital vernichtet.

Mussten die Grünen nach dem Wahlsieg nicht ganz einfach kandidieren, um Druck aufzusetzen?
Auf wen haben sie Druck aufgesetzt? Auf die CVP?

Es war ein «acte de présence». Hätten sie nicht kandidiert, würden Sie das jetzt kritisieren.
Jedenfalls hat Frau Rytz jetzt zweimal hinter­einander bei wichtigen Wahlen eine deutliche Niederlage erlebt. Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie man mit Wahl­niederlagen Druck aufbauen kann. Entscheidend wird jetzt sein, ob die Grünen in den Kommissionen gute Kompromisse aushandeln können, Vorlagen, die vor dem Volk eine Chance haben. Im typischen Klein-Klein des Schweizer Räder­werks wird auf lange Sicht der Unterschied gemacht. Aber zu den beiden wichtigsten Vorlagen der nächsten Legislatur hört man von den Grünen leider sehr wenig. Ich meine die AHV-Reform und das Rahmen­abkommen.

Und die Umweltpolitik? Das CO2-Gesetz, die Konzern­verantwortungs­initiative …
Im Vergleich zur AHV-Reform sind das Sandkasten­spiele. Niemand hat eine Vorstellung, wie es mit den Sozial­werken weitergehen soll. Im Sommer gab es zur AHV die neue Überbrückungs­vorlage von Bundesrat Berset – und alle Parteien waren sofort dagegen. Und dabei ist die Entwicklung der Demografie atemberaubend. Seit 1998 ist die Lebens­erwartung der männlichen Bevölkerung von 76 auf 81 Jahre gestiegen. In zwanzig Jahren eine Steigerung um fünf Jahre! Das hat Konsequenzen für die gesamte Gesellschaft. Andere Themen sind auch wichtig, aber sie haben niemals diese Dringlichkeit und Sprengkraft.

Die AHV ist unbestritten ein zentrales Thema. Sie scheinen persönlich alarmiert zu sein.
Sie beide sind Angestellte. Ich nicht. Ich bin selbstständig erwerbend und bezahle meine AHV-Beiträge selbst. Das sind derzeit 11 Prozent meines Brutto­einkommens. Ich bin nicht sicher, wie hoch meine Rente sein wird. Die AHV ist im Jahr 2036, wenn ich ins Pensions­alter komme, nicht mehr gesichert.

Können wir uns trotzdem darauf einigen, dass auch die Klimapolitik zu den grossen Themen zählt?
Ja, multilateral ist das die grosse Kiste, keine Frage. In der Schweizer Innen­politik wird es beim CO2-Gesetz keine fundamentale Veränderung geben, höchstens etwas für die Galerie. Subventionen für grüne Technologien, ein paar neue Innovationsparks.

Die Schweiz ist des Wahnsinns – das war Ihre Diagnose vor vier Jahren. Wenn Sie schon nicht an die grüne Wende glauben: Setzen Sie auf eine gewisse Rückkehr der Vernunft in die Schweizer Politik?
Ich glaube eher an Interessen als an Vernunft in der Politik. Das eigene Interesse ist immer vernünftig, während das fremde Interesse immer unvernünftig ist. Was mich viel mehr beschäftigt: Die Politik als solche scheint zu verschwinden.

Das sagen Sie am Ende eines Jahres, in dem Hundert­tausende Frauen auf die Strasse gingen und die Klima­jugend den Takt vorgab. Ist das nicht eine Rückkehr der Politik?
Politik ist mehr als der Ausdruck eines Unbehagens. Politik verlangt Entscheidungen. Und damit haben wir Menschen des Spätkapitalismus grosse Probleme. Ich muss noch einmal auf die AHV zu sprechen kommen. Wir stecken in dieser Frage fest, solange jeder nur seinen Besitz­stand wahren will. Warum sollten Frauen ein tieferes Rentenalter haben? Ursprünglich war das Argument dafür übrigens ziemlich absurd: weil die Ehefrauen in der Regel jünger sind als ihre Männer und damit die Eheleute gemeinsam in die Rente gehen können. Schliesslich brauche der Mann jemanden, der für ihn sorge. Heute argumentiert man mit einer Kompensation der Lasten, die Frauen vor allem durch die unbezahlte Arbeit zu tragen hätten. Es wäre doch viel vernünftiger, wenn wir diese Frage von den Geschlechtern entkoppeln würden: Es sollte für unterschiedliche Berufe unterschiedliche Rentenalter geben, egal, wer sie ausübt, ob Frau oder Mann.

In Frankreich nimmt die Regierung gerade gigantische Streiks in Kauf, weil sie Renten-Sonder­regelungen aufheben will.
Ja, aber les cheminots, die Eisenbahner, vor allem die Lokomotiv­führer, hatten vor hundert Jahren einen völlig anderen Beruf. Sie bedienten Dampf­lokomotiven – eine lebens­gefährliche Arbeit mit einem sehr hohen Verschleiss. Heute schippt man keine Kohle mehr, man drückt Knöpfe. Es ist nicht einsichtig, warum man diesen Beruf nicht bis 65 machen sollte. Und sie werden übrigens auch bald automatisiert werden. Es sind andere Berufe, die hohe Ausfall­raten haben, Berufe in der Pflege, in der Bildung. Und warum diskutieren wir nicht die Lebens­arbeitszeit? Die Belastung zwischen dem 30. und dem 40. Lebensjahr ist heute höher als zwischen dem 60. und dem 70. Wenn die Kinder klein sind, sollte man gleichzeitig Karriere machen. Wenn wir da mehr Zeit hätten, könnte man doch ab 60 etwas länger arbeiten. Wo sind die guten, vor allem auch linken Vorschläge in diese Richtung? Ich sehe sie nicht, auch international nicht. Das ist tragisch.

Wo sehen Sie denn hin?
In den letzten Tagen zum Beispiel in «Jacobin», ein sozialistisches Magazin aus New York, das international eine ziemliche Verbreitung findet. In der Analyse ist das alles wahnsinnig inspirierend und wunderbar, aber sobald es um die konkreten Alternativen geht, bleiben die Vorschläge leider ziemlich dürftig. Hier müsste doch die Politik beginnen. Wenn man auf die Strasse gehen muss, ist es zu spät.

Demonstrationen sind ein Symptom der Abwesenheit von Politik? Gehört das nackte Kräfte­messen nicht auch zur Politik?
Vielleicht. Ich glaube trotzdem, dass die Veränderungen institutionell passieren müssen und nicht nur auf der Ebene der persönlichen Mentalität.

Die Mentalität zu verändern geht doch den politischen Prozessen voraus!
Waren das in diesem Jahr, zum Beispiel in der Klimafrage, nicht geradezu tektonische Verschiebungen für Schweizer Verhältnisse?
Das ist richtig. Ich will das nicht kleinreden. Klimapolitisch war 2019 wahrscheinlich das Jahr des Durchbruchs. Man kann das Thema nicht mehr negieren. Trotzdem gibt es dann am Ende des Jahres – Madrid. Eine UN-Klima­konferenz ohne Fortschritte. Das gehört leider auch zum Bild.

Punkt für Sie.
Es gibt einfach viel schlechte Politik. Schauen wir nach Grossbritannien. Boris Johnson hat das ohne Zweifel ziemlich clever gemacht. Get Brexit done war eine wirkungsvolle Verkürzung. Aber letztlich verdankt er seinen Sieg der Dummheit von Labour und den Liberal Democrats. Es ist verrückt: Es gibt in Grossbritannien mittlerweile eine Mehrheit gegen den Brexit, aber die Parteien hassen sich so, dass man sich im Majorz­system gegenseitig die Stimmen wegnimmt!

Sie klingen aufgebracht.
Es tut mir leid für meine Freunde in Grossbritannien. Ich habe mir gerade die Wahlergebnisse in London City angeschaut. Dort hat ein Tory gegenüber der letzten Wahl fast 7 Prozent verloren und trotzdem mit 40 Prozent der Stimmen das Mandat bekommen. Der Kandidat der Liberal Democrats gewinnt fast 20 Prozent, aber der Labour-Kandidat nimmt ihm die notwendigen Stimmen ab. London City! T-o-t-a-l Anti-Brexit. Sie haben dort eigentlich zwei Drittel der Stimmen. Und trotzdem holt ein Brexiteer das Mandat. Und so sieht es im ganzen Land aus. Da muss man doch einfach sagen: Ihr habt es nicht besser verdient.

Extrem viel schlechte Politik, sagen Sie. Und meinen: extrem viel schlechte linke Politik.
Ich sehe zurzeit ausschliesslich schlechte linke Politik, ja. Wo ist die gute linke Politik? In Deutschland? Da kriege ich Schmerzen. Schlimm. Frankreich? Mélenchon mit seinen antideutschen Ressentiments. Grossbritannien? Niemals hätte ich Corbyn gewählt.

Niemals?
Corbyn ist antieuropäisch und hat eine antisemitische Schlagseite. Unmöglich.

Auch in den USA stehen wieder wichtige Wahlen an.
Und während sich die Demokraten an ihrem aussichts­losen Impeachment berauschen, fragt sich der interessierte Beobachter, wen sie als Kandidaten aufstellen werden. Joe Biden? Biden, der als Vizepräsident für die Ukraine zuständig war, während sein Sohn dort mit obskuren Mandaten ziemlich viel Geld verdiente? Egal, wie man zu Donald Trump steht: Hat er da leider nicht einen verdammten Punkt? Und waren dieser Filz und diese Korruption nicht schon bei der letzten Wahl mit Hillary Clinton das Problem? Ich erinnere mich noch genau, wie ich an einem Tag im Spätherbst 2016 in meiner Küche stand, als Bernie Sanders das Handtuch warf, weil er weniger Geld auftreiben konnte. Und ich fragte mich, was passieren müsste, damit ich Hillary wählen würde. Und ich fand genau eine einzige denkbare Situation: Wenn der Gegen­kandidat Trump heissen würde. Und jetzt wieder das Gleiche mit Biden? Wie sollen sich mit diesem Herrn breite Schichten inspirieren und mobilisieren lassen? Ich zweifle sehr daran.

Was ist mit Elizabeth Warren?
Eine kluge, interessante Kandidatin. Aber eine nationale Wahl gewinnen in den USA? Unmöglich.

Sie ist noch im Rennen.
Unmöglich.

Verstehen wir Sie richtig? Die zentristische, geldaffine Linke geht aus Ihrer Sicht nicht, denn sie hat ein Korruptions­problem. Die linken Linken gehen für Sie auch nicht, weil sie keine nationalen Wahlen gewinnen in den USA. Was wäre dann die Linke, von der Sie träumen? Träumen Sie noch von der Linken?
(denkt länger nach) Nein, ehrlich gesagt träume ich seit zwanzig Jahren nicht mehr von der Linken. Die Situation in Grossbritannien verdanken wir zu wesentlichen Teilen der Politik von Tony Blair und New Labour. Und in Deutschland begannen die politischen Probleme mit den schröderschen Reformen.

Dann müsste es Sie doch zuversichtlich stimmen, dass die SPD von Hartz IV abrückt. Schlägt das Pendel nicht zurück?
Welches Pendel? Es gibt kein Pendel, das zurück­schlagen kann. Das ist ein falsches Bild. Wir leben in einem sich ausdehnenden Universum. (lacht) Die Zeit ist irreversibel. Das sind Vorstellungen von gestern, sie werden im 21. Jahrhundert nicht funktionieren.

Wenn Sie sagen, New Labour vor zwanzig Jahren markierte Ihren persönlichen Bruch mit der Linken, heisst das doch: Für Sie muss die Linke linker sein. In die Mitte zu gehen, war ein Fehler.
Erstens glaube ich nicht, dass die Linke in die Mitte ging. Gerade die Mitte hat doch verloren. Aber meiner Ansicht nach hätte die Linke vor allem internationalistischer, also multilateraler werden sollen. Die Hartz-IV-Reformen in Deutschland waren aber nationalistisch und haben die Solidarität innerhalb der EU untergraben. Die Krisen in Griechenland, Spanien und Italien sind direkte Folgen davon. Von der Linken hätte ich eine europäische Integration in Richtung Schulden­union erwartet.

Sie träumen also doch: von einer europäischen Linken!
Ja, aber stattdessen triumphierten nationalistische Strömungen: Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, Labour in Grossbritannien: alle antieuropäisch. Von der italienischen Linken müssen wir gar nicht mehr reden, die ist pulverisiert. Die Linke in Deutschland ist übel nationalistisch, und Mélenchon in Frankreich punktet mit antideutschen Ressentiments.

Man könnte auch sagen: Die deutsche Linke hat die Niedriglohn­politik mitgetragen und die europäische Spirale der Lohn­zurückhaltung in Gang gesetzt. Mélenchon reagiert jetzt darauf und fordert eine Schulden­union, weil er Deutschland in die Pflicht nehmen will. Ist das nicht genau Ihre Position?
Das ist einfach die dialektische Gegen­position zum deutschen Wirtschafts­nationalismus. Mélenchon gewinnt seine Wähler mit antideutschen Ressentiments und mit seinem Einstehen für den öffentlichen Dienst.

Also erst wieder links wählen, wenn ein Konzept für supranationale Solidarität vorliegt?
Und wenn die Linke neue Antworten hat in ihrem Kerngeschäft: der Arbeit. Was beinhaltet Arbeit? Was ist die Zukunft der Erwerbs­arbeit? Wie müssen die Sozial­werke aussehen? Darauf braucht es Antworten. Für mich ist es schwierig geworden, eine linke Partei zu wählen aus eigenem Interesse. Es ist nur noch etwas Weltanschauliches, eigentlich nur noch eine Mentalitäts­wahl.

Und das grüne Element? Ist das bei Ihnen kein Faktor?
Grün ist für mich nach wie vor nicht wählbar, keine Frage.

Das war nicht die Frage. Aber jetzt müssen Sie uns das erklären. Warum könnten Sie nicht Grün wählen?
Im Zweckartikel der Grünen Partei Schweiz steht, dass sie «der langfristigen Erhaltung der natürlichen Lebens­grundlagen Priorität einräumt». Sie setzt sich damit in einen Widerspruch zur humanistischen Tradition des aufgeklärten Staates. Eine ökologische Politik kann auch totalitär grundiert sein, das lehrt die Geschichte.

Dieser Traditions­strang ist für Sie bis heute so dominant, dass er die Grünen unwählbar macht?
Nach meiner Überzeugung soll jede Politik den einzelnen Menschen in den Mittel­punkt stellen. Nicht die Wirtschaft, nicht die Nation und auch nicht die Ökologie. Die Natur ist mir gegenüber völlig gleichgültig, es ist ihr egal, ob es mich gibt oder nicht. Sie ist ohne Zweifel eine Notwendigkeit für meine Existenz, das stimmt, aber umgekehrt ist das nicht der Fall. Der Schutz der ökologischen Rahmen­bedingungen ist nur dann sinnvoll, wenn er im Interesse des einzelnen Menschen geschieht. Es gibt keinen Selbst­zweck in der Ökologie.

Da würde die überwiegende Mehrheit der grünen Politiker Ihnen wohl zustimmen, auch wenn innerhalb der grünen Bewegung antihumanistische Strömungen existieren.
Die unsäglichen Äusserungen von Roger Hallam, dem Chef von Extinction Rebellion, sind kein Zufall. Es ist noch nicht allzu lange her, da trat der ökologische Anti­humanismus hierzulande mit der Ecopop-Initiative in Erscheinung. Ich mag keine Ideologien, auch keine ökologischen. Und davon gibt es eine ganze Menge. Die Haltung zur Bio- und zur Gentechnologie ist mir zu undifferenziert. Weltweit ist die Entwicklung durch nationale Forschungs- und Denkverbote nicht aufzuhalten. Dasselbe mit der Atomenergie. Und wäre Kernkraft wirklich keine Option in unserer Situation?

In Deutschland war es eine CDU-Kanzlerin, die den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen hat. Sie ist ökonomisch nicht mehr tragbar. Und die Frage der Endlagerung radioaktiver Abfälle ist nun wirklich kein vernachlässigbares Problem.
Sie haben recht. Ein riesiges Problem, genauso wie die Erwärmung des Planeten. Und im Gegensatz zur europäischen Wohlstands­gesellschaft gibt es in Asien und Afrika ein paar Milliarden Menschen, die der Armut entkommen wollen. Sie werden sich die billigen Energie­träger nicht nehmen lassen. Das ist das grösste Problem, das ich mit den Grünen habe. Die ökologischen Heraus­forderungen lassen sich nur multilateral lösen. Doch niemand macht sich wirklich dafür stark. Man findet im Partei­programm dazu nur sehr schwammige Worte. Und das hat leider eine lange Tradition. Die Ablehnung des EWR der Grünen war ein politischer Fehler historischen Ausmasses. Es waren ideologische Ressentiments gegen ein neoliberales patriarchales Projekt, die gegen den Beitritt vorgebracht wurden. Und wem verhalfen sie damit zum Sieg? Den neoliberalen patriarchalen Kräften. Da kriege ich auch nach dreissig Jahren noch einen dicken Hals.

Lassen wir das mal so stehen. Es gibt noch andere Themen, die Sie immer wieder wütend gemacht haben, zum Beispiel die Entwicklung der Schweizer Medien.
Aargh! (bricht theatralisch zusammen)

Jetzt sind Sie wirklich irritiert!
Hören Sie: Ich glaube an den Menschen. Ich bin kein Zyniker. Ich glaube, dass man sich für das Wohl der eigenen Kinder anstrengen sollte und dass jeder Einzelne eine Verantwortung trägt für den Zustand seiner Gesellschaft. Man sollte wahrhaftig und anständig sein. Unter diesem Gesichts­punkt schmerzen mich manche Entwicklungen.

Wir waren bei den Schweizer Medien.
Wer selber zum Subjekt der Bericht­erstattung wird, merkt, wie die Sorgfalt und die Verantwortung aus den Medien verschwinden. Es ist nicht klar, ob es aus Inkompetenz oder Bösartigkeit geschieht. Aber das Resultat ist dasselbe. Auch in der Republik fallen mir Dinge auf, die mich stören.

Wir sind ganz Ohr.
Wenn zum Beispiel über einen hohen Militär, der im Bodluv-Geschäft für seine Fehler den politischen und beruflichen Preis mit seiner Versetzung bezahlt hat, der Satz steht, er gelte weitherum als unfähig, da frage ich mich: Was ist weitherum? Drei Gewährsleute? Vier? Welche? Das ist unseriös. Darauf kannst du als Angegriffener nichts entgegen. Es sind genau solche Aussagen, die dich treffen und die das Klima vergiften. Der Massstab muss sein, ob man die Kritik an einer Person vor den Kindern dieser Person rechtfertigen kann oder nicht.

Da könnten Sie einen Punkt haben. Im grossen Ganzen: Sehen Sie Ihre in «Die Schweiz ist des Wahnsinns» gemachten Voraussagen zum Niedergang der Öffentlichkeit bestätigt?
Entschuldigung? Was mit der «Neuen Zürcher Zeitung» passiert, ist offensichtlich. Und Tamedia hat das Media aus dem Namen gestrichen und geht den Weg der totalen Ökonomisierung.

Die Verleger lobbyieren jetzt für staatliche Gelder.
Das Geld aus der Werbung fliesst fast vollumfänglich ins Silicon Valley. Es geht nicht bloss ein Geschäfts­modell verloren, sondern die Struktur der Öffentlichkeit an sich. Das müsste längst ein Thema sein für die Schweizer Regierung. Die Verleger selber haben in dieser Frage keine Glaubwürdigkeit. Sie wollen Geld verdienen. Was wir hier diskutieren, wäre eine Kernaufgabe der Politik.

Die Rettung der Öffentlichkeit?
Eine funktionierende Öffentlichkeit ist für ein Staats­wesen so notwendig wie die Infrastruktur. Im neunzehnten Jahrhundert hat man die Eisenbahn verstaatlicht. Wir profitieren heute noch davon. Welche Partei, welcher Politiker entwickelt Vorschläge, wie die Öffentlichkeit im einundzwanzigsten Jahrhundert aussehen soll? Und genau das meine ich doch, wenn ich sage: Es gibt überhaupt gar keine Politik!

Wir waren beim Journalismus.
Ja, stattdessen wird der Service public von allen Seiten angegriffen. Die Resultate sind leider schmerzhaft sichtbar. Wollen wir mal schauen, welche Informationen das SRF-Portal zuerst anzeigt? (holt sein Smartphone hervor, tippt SRF ein und beginnt zu scrollen) Zuoberst: Skirennen. CS-Affäre. Mehr Sport. Wetter. Schweizer Mundart. Feel good. Im Netz heiss diskutiert. Die Stars und das Luxushotel. Die Kult-Auswanderer. (steckt sein Smartphone wieder weg) Das ist deprimierend und irrelevant. Und es ist gebühren­finanziert. Mit 1,2 Milliarden Franken.

Reden wir über Ihre Büchner-Preis-Rede und den Kleinkrieg der NZZ gegen Lukas Bärfuss …
… es waren bislang vier Artikel. Da kann man kaum mehr von Kleinkrieg reden …

Okay: Feldzug. In Ihrer Rede ging es um Entnazifizierung, darum, dass sie nicht oder zu wenig stattgefunden hat. Das sind Aussagen, die in Deutschland praktisch unbestritten sind. Aber die NZZ massregelt Sie deswegen wie einen Schulbuben.
Ich bin halt kein Akademiker. Das will man mich offenbar spüren lassen. Es macht einen etwas wehmütig. Ich erinnere mich zurück an die Zeiten Ende der 1990er-Jahre, als Verrisse noch ernst zu nehmen waren, Verrisse mit Substanz. Da ging es um die Sache. Das war brutal, aber es war sachlich. Ich habe nie verlangt, dass man die Sachen, die ich mache, gut finden muss.

Die heutige Polemik beurteilen Sie anders?
Es ist etwas ganz anderes, ob man mich für meine Werke kritisiert oder ob man historische Fakten leugnet. Und die Fakten sind glasklar: Es hat keine Entnazifizierung stattgefunden. In Deutschland ist das unbestritten und gut dokumentiert (holt wieder das Smartphone hervor) … Moment … (wischt über den Bildschirm) … Hier ein Buch aus dem C.-H.-Beck-Verlag, 1984 erschienen, «Deutsche Rechtsgeschichte» von Ulrich Eisenhardt. Seite 386: «Für das Gebiet der Bundes­republik wurden insgesamt über 3,6 Millionen Fälle bearbeitet. In den westlichen Zonen war die Entnazifizierung als Versuch der Säuberung von Justiz, Verwaltung, Erziehungs­wesen und Wirtschaft ein Fehlschlag. Mit Ausnahme der strafrechtlich Verurteilten kehrten fast alle Personen in ihre Aufgaben­gebiete zurück.» Hier geht es um mehr als um eine Feuilleton-Fehde. Es geht um die Frage, wie wir den nächsten Generationen unsere Geschichte vermitteln. Und da möchte ich alle Demokratinnen und Demokraten aufrufen: Bitte erzählt die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Scheut euch nicht, Dinge weiterzugeben, von denen ihr glaubt, sie seien zu bekannt, um überhaupt noch erwähnt zu werden. Sie sind es nicht.

Weil sonst alles vergessen geht?
Weil historisches Wissen verloren und vergessen geht. In diesem Jahr wurden die Menschen volljährig, die den 11. September 2001 nicht erlebt haben. So schnell geht es. Wir dürfen uns nicht im Hickhack mit irgend­welchen Zürcher Lokal­blättern verlieren. Die Sache ist zu wichtig. Die Referenz­punkte verschwinden, die letzten Zeuginnen verschwinden. Wenn die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano zur besten Sendezeit sagt, die Entnazifizierung habe nicht stattgefunden und dass die Nazis nicht verschwunden sind, dann wagt niemand zu widersprechen. Ihre Autorität steht ausser Frage. Wenn der Primar­schüler Bärfuss kommt und ihre Aussage wiederholt, kann man eine Polemik daraus machen. Das ist die Situation, vor der wir stehen.

Auch weil es heute wieder um alles geht? Stichwort AfD?
Wir fühlen es alle. Und wir dürfen uns nicht lähmen lassen. Das Vergessen müssen wir mit allem Enthusiasmus bekämpfen. Ich gebe Ihnen ein konkretes Beispiel, warum Erinnerung so wichtig ist. Ich war kürzlich in Leipzig im Alten Rathaus zu einer Lesung eingeladen. Es waren viele Menschen da, einige der klügsten Köpfe der Stadt sassen im Publikum. Ich fragte in den Saal, wer gewusst habe, dass der frühere sächsische Minister­präsident Kurt Biedenkopf der Schwieger­sohn von Fritz Ries sei – einem Industriellen, der eine Gummi­fabrik in Auschwitz besass, der sein Vermögen, das er mit Zwangs­arbeitern gemacht hatte, zum grössten Teil behalten durfte und der in der Nachkriegs­zeit zum Financier der ersten Generation der Union wurde, vor allem von Franz Josef Strauss und von Helmut Kohl. Niemand wusste das. Niemand. Und jetzt setzen Sie das in Perspektive: Es gab in Sachsen den rechtsextremen Terror der NSU, und die Frage steht und stand im Raum, ob der sächsische Verfassungs­schutz rechtsextrem unterwandert ist. Und Biedenkopf ist für Sätze berühmt wie: «Die Sachsen sind nicht so» und «Es gibt keine Nazis in Sachsen». Heisst es nicht immer, der Fisch stinke vom Kopf her? Warum hat das niemand thematisiert? Warum ist er damit durch­gekommen? Warum ist die Erinnerung nicht lebendig geblieben?

Warum?
Ich sehe vor allem zwei Gründe: Erstens wurden die Verlage, die diese Verstrickungen in den Siebziger­jahren publizierten, vor allem aus Stasi-Archiven gefüttert. Zweitens war die Linke nach dem RAF-Mord an Hanns Martin Schleyer in dieser Frage zusätzlich diskreditiert. Schleyer war SS-Offizier gewesen und wurde zum Opfer von Links­terroristen. Mit dem Ende der sozial­liberalen Koalition kam unter Kohl die sogenannte geistig-moralische Wende, und das bedeutete eben auch, die alten Nazi-Netzwerke zu integrieren.

Es wird Ihnen vorgeworfen, dass Sie das deutsche Bemühen um Vergangenheits­bewältigung nicht angemessen gewürdigt haben.
Natürlich hat es dieses Bemühen gegeben, aber das hebt das Problem der fehlenden Entnazifizierung nicht auf. Raphael Gross, der Direktor des Deutschen Historischen Museums in Berlin, hat das in seinem Interview mit der Republik exzellent auf den Punkt gebracht, als er fragte: Was ist eigentlich mit der Mordlust passiert? Bis 1945 sind alle Nazi-Anhänger davon ausgegangen, dass Gegner einfach umgebracht werden. Mord ist eine ziemlich ausser­gewöhnliche politische Strategie. Wenn du die Beseitigung des politischen Gegners im Arsenal deiner Kampf­mittel hast, was machst du in einer Demokratie damit? Wie beeinflusst das deine Lebens­haltung, wenn du Staatsrechts­professor bist wie Theodor Maunz und Generationen von Juristen ausbildest? Maunz hat bis an sein Lebensende in rechtsextremen Blättern publiziert. Sein Grundrechts­kommentar steht in jeder Anwalts­kanzlei. Der spätere Bundes­präsident Roman Herzog war sein Schüler. In meiner Rede habe ich das ideologische Profil von Maunz so beschrieben: Von Montag bis Freitag war er Demokrat, von Freitag­abend bis Montagfrüh war er Nazi – und ein Nazi bringt seine politischen Gegner um. Das ist seine wesentliche Eigenschaft. Als ich mein Stück über Helmut Kohl schrieb, «Der Elefantengeist», bin ich ständig auf solche Dinge gestossen. Erstaunlich vieles ist unerforscht.

Kohl ist für Sie eine Schlüssel­figur für die Kontinuität zwischen der Nazizeit und der späteren Bundesrepublik.
Er wollte die Nazis integrieren, in seine Partei und in die Gesellschaft. Er ging davon aus, es sei der beste Weg, um sie zu neutralisieren. Und wenn es schiefging, hat er den Unschuldigen gespielt. Als er auf Staats­besuch in Israel war, war er erstaunt, dass es einen Skandal gab, weil er ein paar alte Nazis im Gepäck hatte. Dasselbe mit dem Besuch auf dem Soldaten­friedhof von Bitburg. (1985 kam es zu heftigen Debatten, weil der damalige Bundes­kanzler Kohl gemeinsam mit Staatsgast Ronald Reagan einen Soldaten­friedhof besuchte, auf dem auch Mitglieder der Waffen-SS bestattet sind; Anm. d. R.) Die AfD ist Fleisch vom Fleische der CDU und der CSU. Der Unterschied zu damals ist: Helmut Kohl hat Politiker vom Schlage eines Gauland noch in der CDU halten können. Angela Merkel gelingt das nicht mehr.

Die teilweise extrem rechte Gesinnung ist also nicht neu, sie hat sich nur anders organisiert?
Es gibt in jeder Gesellschaft zwischen 20 und 30 Prozent Fremden­feinde und Antidemokraten. Es muss darum gehen, sie in der Minderheit zu halten. Der Soziologe Ivan Krastev meint, in Deutschland würden wir eine Normalisierung erleben. In Frankreich gibt es den Front national, in der Schweiz gibt es die SVP. In Deutschland waren die entsprechenden Kräfte kaum sichtbar, weil sie bis vor kurzem in der CDU verschwanden.

Wir lesen Bärfuss jetzt einmal ein bisschen Bärfuss vor. In einem Essay zu Walter Benjamin schreiben Sie: «Durch eine Propaganda der Bedrohung werden die Ideale der Aufklärung und mit ihr die bürgerliche Mehrheits­gesellschaft zerrieben. Eine zu Tode verängstigte Gesellschaft, die sich nicht mehr für ihre eigenen Ideale der Freiheit und Menschlichkeit begeistern will, sucht sich andere, böse Geister.» Ist das eine Gegenwarts­beschreibung?
Vielleicht. Wir haben als Gesellschaft nichts so sehr zu fürchten wie die Furcht. Neulich hat mich eine Zeitung einen selbst ernannten Kultur­pessimisten genannt. Nichts könnte falscher sein! Kultur­pessimismus ist der Anfang vom Ende.

Sie verwahren sich dagegen, ein Pessimist zu sein. Aber Sie zeichnen ein schwarzes Bild der Gegenwart und sagen, die Politik finde nicht mehr statt.
Meine Generation ist ziemlich wehleidig. Wir fürchten die politische Auseinander­setzung. Oder wir beherrschen sie nicht mehr richtig. Ich weiss nicht genau, wann das passiert ist. Wann wir der Illusion verfallen sind, der Fortschritt sei ein Selbstläufer und es werde jetzt nur noch vorwärtsgehen. Geschichte ist kein Ochsengang. Sie ist ein Rössel­sprung. Sie verläuft im Zickzack. Wir in der Schweiz könnten unseren Erfahrungs­vorsprung ins Spiel bringen. Wir führen die Auseinander­setzung mit dem Rechts­populismus jetzt schon seit dreissig Jahren.

Wir nutzen diesen Vorsprung nicht?
Die Linke steht häufig zu spät auf. Sie liest zu wenig, sie ist zu faul. Ein Schlüssel­erlebnis hatte ich, als ich das Gespräch zwischen Jean-Claude Juncker und Christoph Blocher im Schauspiel­haus Zürich moderierte. Da sammelten die SVP-Partei­soldaten im Foyer des Pfauen Unter­schriften für die nächste Volks­initiative. Da habe ich meinen Hut gezogen. Hat jemals ein Linker dasselbe im Albisgüetli gemacht? Vor einigen Wochen war ich in der Hanns-Seidel-Stiftung eingeladen, der CSU-Stiftung von Bayern. Ich habe dort mit Leuten gesprochen, die die tagtägliche Auseinander­setzung führen mit dem Rechts­radikalismus. Alle haben gesagt: Wir müssen früher aufstehen, uns besser informieren, fitter werden. Wir haben ein Schnarchnasen­problem. Der fitteste im Raum diktiert die Politik.

Sie selber sind ein engagierter public intellectual, scheuen sich nicht, in die Arena zu steigen, zum Beispiel mit Ihren «Blick»-Texten. Aber in Ihrem Werk, das merken Sie ja selber in der Büchner-Preis-Rede an, ist man immer ganz nahe an der Gewalt, an der Bestialität, am Zusammen­bruch der Zivilisation. Ihr erster grosser Roman ist ein Roman über einen Genozid. Es ist ein Leitmotiv in Ihrem Werk: der ständig drohende Einbruch von scheusslichster Gewalt in das scheinbar normale Leben. Aber zugleich sagen Sie: Ich bin kein Pessimist.
Vielleicht ist das ein Rufen im Wald, um die eigene Angst zu überwinden. Aber was ich in der Büchner-Rede kurz erzählt habe, war wirklich bestimmend für mich. Ich erinnere mich an den Mauerfall 89, ich erinnere mich auch noch an den Sturm auf das Weisse Haus in Moskau. Und an Sarajevo, das mich traumatisiert hat. Ich hielt das damals nicht mehr für möglich. Der Genozid in Ruanda war für mich unter anderem eine Möglichkeit, auch über die europäische Gewalt zu reden. Ich hätte damals nicht über Jugoslawien schreiben können. Vielleicht spielt auch meine Herkunfts­geschichte da hinein.

In welchem Sinn?
Mein leiblicher Vater, meine Mutter, mein Stiefvater haben alle irgendwie versucht, den gesellschaftlichen Fortschritt mitzumachen, die 68er-Ideale in ihrem Leben produktiv umzusetzen. Sie sind alle kläglich gescheitert.

Sie erlebten das als Scheitern an ideologischen Ansprüchen? Oder an individuellen Lebens­konzepten, die einfach nicht realistisch waren?
Das ist nicht so klar unterscheidbar, das individuelle und das gesellschaftliche Scheitern.

Vielleicht. Aber wie haben Sie das interpretiert?
Wenn du am Nachmittag die hegelsche Dialektik diskutiert hast, wenn du davon ausgehst, dass es im deutschen Idealismus so etwas wie eine Teleologie gibt, einen Geschichts­sinn, eine Entwicklung hin zur Vollendung, und dann liegst du abends in Thun in der Denner-Unterführung auf irgendeinem Karton, so wie ich es als jugendlicher Obdachloser gemacht habe …

Sie haben mit Ihrer Mutter über hegelschen Idealismus diskutiert?
Nein, das tat ich mit meinen Freunden. Vielleicht kommt es daher, dass ich den Menschen für zu allem fähig halte, im Guten wie im Schlechten.

Auch so ein Leitmotiv: Das Gute ist ganz nahe beim Schlechten. Ihr letzter Essay-Band «Krieg und Liebe» beginnt mit einem Essay über den japanischen Schriftsteller Tadayoshi Sakurai, mit einer Art Engführung von Krieg und Liebe. Sie sagen, es sei das Bedürfnis nach Verbrüderung, das in den Krieg führe. Das eine kann ins andere kippen. Und in «Malinois», Ihrem kürzlich veröffentlichten Erzähl­band, geht es häufig auch um solche Zuspitzungen. Zum Beispiel in der Titel­geschichte, die in einer Liebes­nacht neben einem verreckenden Kampfhund endet.
Diese Rasse ist ja gerade berühmt geworden. Abu Bakr al-Baghdadi, der Führer des IS, wurde von einem Malinois erledigt – und in der österreichischen Armee gab es einen Hunde­führer, der kürzlich von seinem eigenen Malinois getötet wurde. Ich mag keine abgerichteten Tiere und Hunde schon gar nicht. Menschen kannst du täuschen, aber Hunde nicht. Wenn die Bullen mit den Hunden kamen, das war immer ein Problem.

Sie meinen jetzt bei Drogen?
Zum Beispiel. Sie riechen alles, auch um die Ecken herum. Aber es stimmt: Als Künstler habe ich gegen diese Kollektiv­bestrebungen immer revoltiert. Ganz stark. Vereine, Kirchen, Parteien: Für mich ist das schwierig.

Sie verhandeln in Ihrem Werk die grossen historischen Bögen. Aber es gibt in Ihrem Erzählband auch sehr viele Milieu­schilderungen, auch in Ihren Romanen «Koala» und «Hagard». Es sind genaue, atmosphärisch dichte Beschreibungen von etwas, was wir jetzt mal den Schweizer Provinzmief nennen: Agglo­szenerien, die Schweiz der Autobahn­raststätten, Shoppingcenter, entlegene Käffer. Sie schildern Kiffer, Rand­ständige, prekäre Verhältnisse. Und auch da ist man immer ganz nahe an der Gewalt. Sie ist Teil Ihrer Alltags­phänomenologie.
Das ist wahr. Das taucht ja auch an anderer Stelle auf, zum Beispiel in meinem Text für den «SonntagsBlick» über Familienmorde.

Ein Bärfuss-Thema?
Durchaus. Auch so ein Selbstbetrug: die Heiligkeit der Familien. Dabei gibt es keinen gefährlicheren Ort. Dass die Familie entgegen allen Erfahrungen eine Sehnsucht bleibt, ist schon ziemlich unverständlich, auch ökonomisch. Kinder zu zweit aufzuziehen, ist einfach dumm. Die Kinder leiden darunter, die Eltern leiden darunter. Und auch die Gesellschaft. Die bürgerliche Kleinfamilie ist eine geschichtliche Fehl­entwicklung. Das gibt es halt manchmal.

Einerseits gibt es bei Ihnen dieses Bewusstsein vom Abgrund, der immer hinter allem lauert. Andererseits sagten Sie auch in diesem Gespräch wieder: Ich glaube an den Menschen. Worauf beruht dieser Idealismus?
Ich glaube, die Frage ist letztlich sehr einfach: Ist dir deine eigene Existenz so kostbar, dass du sie unter allen Umständen verteidigst, oder bist du bereit, diese Existenz notfalls hinzugeben für eine Sache, die wichtiger ist? Weichst du vor der Gewalt oder nicht? Bist du erpressbar, weil du um deine physische oder psychische Integrität fürchtest oder um deine wirtschaftliche Existenz fürchtest?

Sie sind mutig?
Ich möchte gerne, ja, ich versuche es. Ich war einmal in meinem Leben schon ganz unten. Vielleicht habe ich deshalb etwas weniger Angst. Ich weiss, dass es auch dort ein Glück gibt. Es ist nicht toll auf der Strasse, ganz sicher nicht, aber es ist nicht das Ende. Das Ende ist, wenn man aus Feigheit nicht mehr für das einsteht, was einem wichtig ist.

Wofür treten Sie ein? Für welche Werte muss man seine Angst überwinden?
Das Wichtigste ist die Hinwendung zu meinen Mitmenschen. Nichts ist kostbarer. Bei den eigenen Kindern ist es offensichtlich. Für sie würde jeder von einer Sekunde auf die andere alles hergeben, sogar das eigene Leben, sogar mit Freuden. Das Ideal muss sein, dass wir diese Haltung bei jedem Menschen empfinden, bei jedem. Für den Geringsten. Für den Unsympathischsten. Das ist für mich der Kern der Brüderlichkeit, der Solidarität, die Schnur, die Linie, das, was nicht zu verhandeln ist.

Ist Heldentum nicht auch ein bisschen suspekt?
Es kommt darauf an, welches Heldentum. Natürlich weiss ich, wie korrumpierbar das ist. Wie stark solche Vorbilder politisch instrumentalisiert werden können. Die Gesellschaft sollte sich auf eine Weise entwickeln, dass Heroismus gar nicht nötig ist. Aber so weit sind wir noch nicht, fürchte ich.

Was ist für Sie die Beziehung zwischen Engagement und Literatur?
Für mich bedeutet Literatur mehr als einen hübschen Zeitvertreib. Sie ist transformatorisch. Für mich gab es keine andere Möglichkeit als die Literatur, das ist auch heute so, ich hatte nie einen Plan B.

Bisher brauchen Sie den auch nicht.
Das stimmt. Ich bin ein glücklicher Mensch. Ich weiss, wie gesegnet ich bin, und ich bin echt dankbar. Aber wie gesagt: Es gibt einen Anspruch, der nicht verhandelbar ist. Er ist Teil der Kunst und der Literatur. Ich sehe übrigens auch, dass diese Haltung auf junge Menschen eine Wirkung hat.

Wo sehen Sie das?
Kürzlich war ich in der Reitschule Bern im Rössli, und es kamen 400 25-Jährige. Dann denke ich, cool. Oder wenn ich an der Hochschule unterrichte und über das Ethos des Schreibens spreche, dann wird mir zugehört. Menschen planen ihr Leben nicht nach Karriere­chancen. Überhaupt nicht. Menschen haben ein Bewusstsein für die eigene Endlichkeit und für die grossen Fragen, die sich ihnen stellen. Wenn man sie nicht darauf anspricht, dann geben sie auch keine Antworten. Aber wenn man sie anspricht, wird vieles möglich.

Dann werden sie auch mutig?
Ja, Mut muss man üben. Dabei hilft die Einsicht, dass wir alle sterben müssen: Bis dahin sind wir frei. Ich würde gerne für meinen Mut in Erinnerung bleiben. Und das ist es, was ich meinen Kindern sage: Seid mutig und versucht etwas. Und es gibt nur weniges, was mir eine grössere Zufriedenheit schenkt, als wenn ich Courage gezeigt habe.

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