Am Gericht

Sie war einmal Schweizerin. Doch das ist egal

Eine Belgierin soll das Aufenthalts­recht in der Schweiz verlieren, weil sie wirtschaftlich zu wenig integriert ist. Dabei wurde sie als Schweizerin in der Schweiz geboren. Wie kann so was sein?

Von Brigitte Hürlimann, 06.11.2019

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Überzeugen Sie sich selber: Lesen Sie 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich Probe:

Erst seit knapp 30 Jahren werden Schweizerinnen im Bürger­rechts­gesetz nicht mehr diskriminiert, und für Männer wie Frauen gelten die gleichen Bürger­rechts­regeln. Zwischen 1953 und 1992 mussten die Frauen bei der Eheschliessung mit einem Ausländer die Erklärung abgeben, Schweizerin bleiben zu wollen, sonst verloren sie den Schweizer Pass. Noch dramatischer und ungerechter war die Situation vor 1953: Damals verloren Schweizerinnen das Bürger­recht automatisch, wenn sie einen Ausländer heirateten. Ganz anders der Fall bei Schweizer Männern, die Ausländerinnen heirateten: Sie behielten das Bürgerrecht – und ihre ausländischen Frauen wurden mit der Trauung automatisch Schweizerinnen.

Die diskriminierende Gesetz­gebung hatte für viele Frauen gravierende Folgen, vor allem während des Zweiten Weltkriegs. Doch auch die Ungerechtigkeit der bis 1992 geltenden Erklärungs­regel hallt bis heute nach. Das zeigt der Fall einer Belgierin am Bundes­verwaltungs­gericht in St. Gallen, die aus der Schweiz weggewiesen werden soll: als wirtschaftlich zu wenig integrierte EU-Bürgerin, die jahrelang Sozial­hilfe bezog.

Weder das Staats­sekretariat für Migration (SEM) noch das Gericht sind der Ansicht, dass es dem gesunden Menschen­verstand oder dem Gerechtigkeits­gefühl widerspricht, wenn eine Frau wegen einer früheren, diskriminierenden Gesetz­gebung ihre alte Heimat verlassen muss. Beide Instanzen spulen den Fall nach den heute geltenden Gesetzen für EU-Bürger ab, foutieren sich ums Gesamtbild, schauen nicht zurück.

Das mag juristisch korrekt sein, aber ist es auch nachvollziehbar? Und wirklich die einzige Lösung für diesen Fall?

Ort: Bundesverwaltungsgericht St. Gallen
Datum: 20. August 2019
Fall-Nr.: F-4332/2018
Thema: Bewilligung des Aufenthalts aus wichtigen Gründen

Die Frau, um die es hier geht, ist heute 63 Jahre alt. Sie wird 1956 in der Schweiz geboren, als Kind von Schweizer Eltern. Als sie 10 Jahre alt ist, trennen sich die Eltern. Die Mutter zieht mit ihrer kleinen Tochter nach Belgien, heiratet einen Belgier und verliert dadurch die Schweizer Staats­bürger­schaft – weil sie keine anderweitige Erklärung abgegeben hat. Ihre Tochter bleibt Schweizerin, bis sie ebenfalls heiratet: in Belgien, einen Belgier. Und wie zuvor schon die Mutter gibt auch sie keine Erklärung ab, weiterhin Schweizerin bleiben zu wollen.

Nach dem damals geltenden Bürger­rechts­gesetz verliert die Beschwerde­führerin als Ehefrau eines Belgiers das schweizerische Bürger­recht. Und, es kann nicht genug betont werden: Dieser komplett unterschiedliche Umgang zwischen Schweizerinnen, die Ausländer heiraten, und Schweizern, die Ausländerinnen heiraten, war frauendiskriminierend.

Das bestreitet eigentlich niemand.

1998 kommt eine Tochter der Beschwerde­führerin auf die Welt; in Belgien, als Belgierin. 2005 kehrt die Mutter mit dem damals 7-jährigen Mädchen zurück in die Schweiz, in den Kanton Waadt. Sie hält sich seither als EU-Bürgerin gestützt aufs Freizügigkeits­abkommen in ihrer früheren Heimat auf. Die Aufenthalts­bewilligungen werden regelmässig erneuert. Bis 2015, zehn Jahre nach ihrer Rückkehr.

Grund für die aufenthalts­rechtlichen Probleme: die andauernd schwierige finanzielle Situation der allein­erziehenden Mutter.

Der Belgierin fällt es schwer, beruflich und wirtschaftlich Fuss zu fassen, genug Geld für sich und ihre Tochter zu verdienen. Zwischen 2007 und 2016 bezieht sie rund 264’000 Franken an Sozialhilfe, das sind knapp 30’000 Franken pro Jahr. Das wird ihr nun zum Verhängnis, und das ist der einzige Grund, warum sie und ihre Tochter die Schweiz verlassen sollen. Dies, obwohl die heute 63-jährige Frau inzwischen eine 50-Prozent-Stelle gefunden hat und vom Kanton Waadt eine Überbrückungs­rente bekommt. Und obwohl sich ihre Tochter noch in Ausbildung befindet und mit einem Stipendium unterstützt wird.

Und eben: Obwohl die Frau bis zum zehnten Lebens­jahr als Schweizerin in der Schweiz lebte und sich seit ihrer Rückkehr aus Belgien vor 14 Jahren ununterbrochen hier aufhält. Macht insgesamt 24 Jahre in der Schweiz. Doch sowohl das SEM als auch das Bundes­verwaltungs­gericht halten eine Ausweisung von Mutter und Tochter als zulässig und zumutbar. Die Unterlegenen akzeptieren den Entscheid nicht und haben ihn vor Bundes­gericht gezogen. Das höchst­gerichtliche Urteil steht noch aus.

Hauptthema im Verfahren vor dem Bundes­verwaltungs­gericht in St. Gallen ist die Frage, ob den beiden Belgierinnen eine Aufenthalts­bewilligung aus wichtigen Gründen erteilt werden kann. Wie zuvor schon das SEM verneint auch das Gericht die Frage – wegen der prekären finanziellen Situation beziehungs­weise wegen der fehlenden wirtschaftlichen Integration. Die Voraussetzungen für eine Anwendung der Härtefall­bestimmung von Artikel 20 der Verordnung über die Einführung des freien Personenverkehrs lägen nicht vor.

Das Gericht schreibt: Dass die Beschwerde­führerin einmal Schweizerin gewesen sei, spiele in diesem Verfahren überhaupt keine Rolle: «ne joue aucun rôle».

Als langjährige Sozialhilfe­empfängerin erfüllt die 63-Jährige weder die Voraussetzungen für einen Aufenthalt als Berufs­tätige noch als Nicht­berufstätige, darum wird das Vorliegen wichtiger Gründe geprüft, die Anwendung der einschlägigen Härtefall­bestimmung. Diese soll jedoch nur ausnahmsweise und unter sehr restriktiven Bedingungen zum Zuge kommen. Im Falle der 63-jährigen Ex-Schweizerin gelingt die Anrufung der Härtefall­bestimmung nicht.

Zumindest vorerst nicht. Es bleibt abzuwarten, wie das Bundes­gericht die Sache beurteilen wird.

Das Bundes­verwaltungs­gericht hatte auch noch andere Möglichkeiten geprüft, ausserhalb des Freizügigkeits­abkommens, um der Belgierin und ihrer Tochter weiterhin einen Aufenthalt in der Schweiz zu ermöglichen. Das dreiköpfige Gerichts­gremium erwähnt die Möglichkeit einer Wieder­einbürgerung, stellt aber fest, aus den Akten seien keine derartigen Bemühungen ersichtlich. Und es verweist von sich aus auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), konkret auf Artikel 8, der das Recht auf ein Privat- und Familien­leben garantiert. Doch das Gericht sieht auch gestützt auf die EMRK keine Möglichkeit für einen Verbleib von Mutter und Tochter in der Schweiz.

Das Bundesverwaltungs­gericht muss von Amtes wegen dafür sorgen, dass bei der Beurteilung eines Falls die richtigen Rechts­normen angewandt werden. «Es ist also nicht an die rechtlichen Überlegungen der Parteien gebunden», sagt Rocco Maglio, Medien­beauftragter am Bundes­verwaltungsgericht.

Schade, hat das Gericht nicht auch noch einen Blick aufs Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau geworfen, das von der Uno-Generalversammlung 1979 verabschiedet und 1997 von der Schweiz ratifiziert worden war. Das Übereinkommen präzisiert, was unter Diskriminierung zu verstehen ist. Angewandt auf den Fall der 63-jährigen Belgierin und Ex-Schweizerin, gibt es jedoch ein gewichtiges Problem: Das heutige Recht ist nicht mehr diskriminierend. Es war die frühere, ungerechte Gesetzgebung, die zum Verlust ihres Bürger­rechts führte und heute ihr Aufenthalts­recht gefährdet.

Kann dies vor Gericht geltend gemacht werden, mit reellen Chancen auf Erfolg?

«Vom Diskriminierungs­verbot allein kann kein Aufenthalts­recht abgeleitet werden», sagt die Berner Rechts­anwältin Barbara von Rütte, die am Max-Planck-Institut in Göttingen über die Staats­bürgerschaft im Völker­recht forscht. «Im konkreten Fall geht es um die Heilung einer früheren, diskriminierenden Regel, die bis heute nachwirkt. Ein Anknüpfungs­punkt ist für die Gerichte schwierig, das sehe ich ein. Aber vielleicht könnte aufgrund dieser Vorgeschichte doch ein Härtefall bejaht werden?»

Von Rütte kennt das Urteil des Bundes­verwaltungs­gerichts, und es ist ihr aufgefallen, dass der Aspekt der Diskriminierung nicht erwähnt wird. Es werde sehr formalistisch argumentiert, findet sie, und es gebe auch keine Auseinander­setzung mit der früheren Bürger­rechts­gesetz­gebung: «Das big picture fehlt.»

Welche Auswirkungen das damalige Unrecht hatte, stellt Silke Margherita Redolfi eindrücklich in ihrer jüngst publizierten Dissertation mit dem Titel «Die verlorenen Töchter» dar. Redolfi beschreibt die rechtliche Situation und den Lebens­alltag ausgebürgerter Schweizerinnen vor 1953; also jene Zeit, in der das Bürger­recht automatisch verloren ging und nicht mit einer Erklärung beibehalten werden konnte. Zwischen 1885 und 1953 hätten mehr als 85’000 Schweizerinnen das Bürger­recht verloren, schreibt die Autorin.

Ein Schwerpunkt ihrer wissenschaftlichen Untersuchung ist der Situation jener Frauen gewidmet, die während des Zweiten Weltkriegs wegen der Eheschliessung mit einem Ausländer den Schweizer Pass verloren. Redolfi berichtet unter anderem von Jüdinnen Schweizer Herkunft, die in den Vernichtungs­lagern der National­sozialisten starben – die Schweizer Behörden hatten sie im Stich gelassen.

«Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir leider keine Möglichkeit sehen, in dem von Ihnen gewünschten Sinne in dieser Sache zu intervenieren, da die Frau Berr durch ihre Heirat ihr Schweizer­bürger­recht verloren hat», wird aus einem Schreiben des Eidgenössischen Politischen Departements von 1944 zitiert. Die Eltern der ausgebürgerten Tochter Lea Berr baten die Behörden vergebens um Hilfe. Sie hatten erfahren, dass ihre Tochter, deren französischer Ehemann Ernest und der kleine Enkelsohn Alain in Frankreich von der Gestapo verhaftet und anschliessend deportiert worden waren.

Die Schweizer Tochter wurde am 15. April 1944 in Auschwitz ermordet, zusammen mit ihrem Kleinkind, unmittelbar nach der Ankunft im Lager. Der französische Ehemann wurde für Zwangs­arbeiten eingesetzt und ein knappes Jahr später im Konzentrations­lager Mauthausen umgebracht.

Urteil des Verwaltungsgerichts F-4332/2018 vom 20. August 2019, noch nicht rechtskräftig.

Illustration: Till Lauer

Sie sind sich immer noch nicht sicher, ob die Republik etwas für Sie ist? Dann testen Sie uns! Für 21 Tage, kostenlos und unverbindlich: