Binswanger

Die Grenzen des liberalen Feminismus

Im Schweizer Wahlkampf spielen Frauen eine wichtigere Rolle denn je. Wie wird sich die Bewegung entwickeln? Aufschlussreich ist ein Blick auf die USA.

Von Daniel Binswanger, 21.09.2019

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Es besteht kein Zweifel, dass der Schweizer Parlaments­wahl­kampf von der Umwelt- und der Gleichstellungs­frage dominiert wird. Die breiten, die Partei­grenzen überschreitenden Bewegungen des Klima- und des Frauen­streiks haben ihr Mobilisierungs­potenzial bereits im Vorfeld der Wahlen eindrücklich unter Beweis gestellt. Weniger klar ist, wie diese Dynamik die Stimmen­anteile zwischen den traditionellen politischen Lagern verschieben wird, insbesondere entlang der Links-rechts-Achse.

Zum einen liess sich in vielen Kantonsrats­wahlen ein eindeutiger Links­rutsch beobachten, so etwa in Zürich, Baselland oder Luzern. Dass sich dieser Trend aufgrund von Zugewinnen der Grünen fortsetzen wird, ist zu erwarten. Zum anderen aber beginnen gerade die Umwelt- und die Gleichstellungs­politik, die politischen Lager zu transzendieren. Den linken Grünen ist mit den Grün­liberalen bürgerliche Konkurrenz erwachsen, und seit ihrer abrupten Klima-Kehrtwende versucht nun selbst die FDP in ökologischen Fragen zu punkten.

Auch die Gleichstellungs­politik wird zu einem eigentlichen Vektor der Überparteilichkeit. Noch nie sind so viele Kandidatinnen zu den Parlaments­wahlen angetreten, insbesondere auf bürgerlicher Seite, wo noch grösserer Nachhol­bedarf besteht als bei der Linken. Mit «Helvetia ruft» ist sogar eine «partei­politisch neutrale» Kampagne entstanden, die sich der Förderung und Unterstützung von kandidierenden Frauen verschrieben hat. Sind das nun die Wahlen des feministischen Aufbruchs? Oder ist die Forderung nach einem massiv höheren Frauen­anteil in der Politik so konsens­fähig geworden, dass sie von ihrer eigentlichen politischen Virulenz bereits wieder zu verlieren beginnt?

Es geht um schicksalshafte Fragen in diesem Schweizer Wahlkampf, aber seltsamerweise verläuft die Auseinander­setzung eher geruhsamer als in anderen Jahren. Mit dem Wahlkampf­slogan «Langweilig. Aber gut» trifft die BDP die allgemeine Stimmungs­lage besser, als man es hätte befürchten können. Wo wird das hinführen?

Wer über Entwicklungen in der Schweizer Politik spekulieren will, ist in der Regel nicht schlecht beraten, einen Blick auf die USA zu werfen. Die neoliberale Revolution der 1980er-Jahre, die «Third Way»-Linke der Clinton-Zeit, die neokonservative Wende, der Rechts­populismus – häufig sind die Vereinigten Staaten Taktgeber für ideologische Paradigmen­wechsel, die sich andernorts erst später manifestieren. Auch in den USA herrscht mit dem Beginn der demokratischen Primär­wahlen bereits Wahl­kampf – und diese Woche ist es richtig spannend geworden.

Plötzlich wird eine Politikerin, die schon beinahe alle abgeschrieben haben, zur Favoritin für die Nominierung zur demokratischen Präsidentschafts­kandidatin: Elizabeth Warren. Zwar liegt sie in den Umfragen immer noch hinter Joe Biden, der Abstand verringert sich jedoch kontinuierlich, und Warren ist plötzlich in der Rolle der aussichts­reichen Herausforderin des Ex-Vize-Präsidenten. Diese Woche hatte sie im Washington Square Park in New York einen Wahlkampf­auftritt, der enorme Publikumsmassen mobilisierte und starke Resonanz erzeugte. Hat Elizabeth Warren eine reale Chance, ins Weisse Haus einzuziehen? Es würde einen radikalen Epochen­wechsel bedeuten – und einiges aussagen über die Zukunfts­perspektiven feministischer Politik.

Wofür steht Warren? Zunächst ist sie eine Frau. Wäre – wenn sie Erfolg hätte – die erste Präsidentin der amerikanischen Geschichte, würde verwirklichen, woran Hillary Clinton so kläglich gescheitert ist. Zum anderen aber steht sie im ideologischen Spektrum der Demokraten sehr weit links.

In ihrer New Yorker Rede gab es zwei wesentliche Ansagen: Erstens die amerikanische Politik leidet an systemischer Korruption. Die Trump-Administration ist vollständig korrupt – ein Vorwurf, der fast täglich durch Enthüllungen über persönliche Vorteils­nahme, seltsame Geschäfts­beziehungen und familiäre Verstrickungen validiert wird. Aber Trump ist gemäss Warren nicht die Ursache für den Niedergang der ethischen Standards in der amerikanischen Politik, sondern lediglich das Symptom. Die Ursache ist der ausser Rand und Band geratene Einfluss von big money – der Pharma, der Finanz­industrie, der Reichtums­eliten, die fast nach Belieben die eigenen Interessen durchsetzen und dem Allgemein­interesse schaden können. Das ist klassisch links­populistische Systemkritik – wir gegen die Plutokraten – und auch nicht weit entfernt von Trumps (völlig leerem) Wahlkampf­versprechen, den «Washingtoner Sumpf» auszutrocknen. Der Unterschied ist allerdings, dass die ehemalige Harvard-Professorin und Verbraucher­schützerin Warren ganz präzise weiss, wovon sie redet, und dass wenig Zweifel besteht an ihrer Entschlossenheit, mit Reformen tatsächlich ernst zu machen.

Warrens zweite Ansage war der Wille zu substanzieller Umverteilung: Wird sie Präsidentin, will sie eine Steuer von zwei Prozent für alle Vermögens­werte über 50 Millionen Dollar einführen. Das würde die immer weiter aufgehende dramatische Schere in der amerikanischen Vermögens­verteilung relativ drastisch wieder verringern und wäre eine sehr einschneidende Massnahme. Dennoch könnte sie mehrheits­fähig werden aufgrund des hohen Freibetrags. Ist es wirklich eine vordringliche staatliche Aufgabe, Vermögen von über 50 Millionen Dollar eine immer weitere, möglichst mühelose Expansion zu sichern? Ginge der Welt so fürchterlich viel verloren, wenn es etwas weniger Super­jachten, Privatjets und Luxusvillen gäbe? Der Katalog all der Dinge, die man mit diesen Steuer­einnahmen finanzieren könnte, ist beeindruckend. Krippen, Schulen, Studien­gebühren: Das gesamte marode Kinder­betreuungs-, Schul- und Bildungs­system der Vereinigten Staaten könnte öffentlich gestützt und es könnten Bedingungen geschaffen werden, die reale Chancen­gleichheit gewährleisten. Warrens Ansagen erscheinen geradezu revolutionär. Doch angesichts der amerikanischen Ungleichheits­entwicklung machen sie verdammt viel Sinn.

Ihre Kandidatur – und das Scheitern von Clinton – wirft auch die Frage auf, ob nicht eine Form des Links­populismus der politische Raum des künftigen Feminismus sein wird. Am pointiertesten artikuliert diese Frage heute wohl die Feministin Nancy Fraser, deren gemeinsam mit Cinzia Arruzza und Tithi Bhattacharya verfasstes Manifest «Feminismus für die 99%» kürzlich auf Deutsch erschienen ist.

Der Text ist zunächst eine scharfe Abrechnung mit dem «liberalen Feminismus», den die Autorinnen exemplarisch von Hillary Clinton und Facebook-COO Sheryl Sandberg verkörpert sehen. Kann Feminismus wirklich darin bestehen, die Diversität in Direktions­etagen und Verwaltungs­räten zu erhöhen? Sandberg ist innerhalb kürzester Zeit von der gefeierten feministischen «Lean In»-Autorin zu einem weiteren Symbol des Big-Tech-Zynismus und der politischen Verheerungen geworden, die Facebook über den Planeten gebracht hat. Clintons Niederlage hat der übelsten, reaktionären US-Administration seit Generationen Tür und Tor geöffnet, gemäss den Autorinnen, weil «die von viel Tamtam begleitete Kandidatur Hillary Clintons das Interesse wählender Frauen nicht zu erwecken vermochte». Man muss dem anti­kapitalistischen Pathos von Fraser und ihrer Mitstreiterinnen nicht zwingend zustimmen, aber dass ein bestimmter «liberaler Feminismus» in den USA an Zugkraft verloren hat und für grosse Teile der weiblichen Bevölkerung ganz einfach irrelevant bleibt, dürfte kaum von der Hand zu weisen sein.

Die Vorboten einer neuen Ära sehen die Autorinnen des Manifests in den rund um den Globus sich entwickelnden Frauen­streiks. Hier sei eine neue politische Dynamik im Gange, die wirklich in die Breite ausstrahle. Mit Elizabeth Warren manifestiert sich nun die Exponentin jenes «progressiven Populismus», den Nancy Fraser kürzlich in einem Interview mit dem «Philosophie Magazin» beschworen hat. Wenn der liberale, meritokratische Feminismus die Menschen nicht erreicht, dann muss ein populistischer, konkrete Umverteilungs­forderungen stellender Feminismus in die Bresche springen – oder der antifeministische, reaktionäre Populismus wird weiterhin das Feld beherrschen.

Sind diese amerikanischen Entwicklungen für die Schweiz relevant? Ganz offensichtlich nicht für diesen Wahlkampf. Aber längerfristig stellen sich bei uns dieselben Fragen. Der Frauen­streik hat ein gewaltiges Mobilisierungs­potenzial an den Tag gelegt, aber sein politischer Nieder­schlag bleibt diffus. Und auch wenn die Einkommens­verteilung in der Schweiz sehr viel ausgeglichener ist als in den Vereinigten Staaten, werden sich Fragen der Umverteilung künftig dringlicher stellen – in der Europa­politik, bei der Renten­reform und nicht zuletzt in der Familienpolitik.

Wird Helvetias feministischer Weckruf partei­politisch neutral bleiben? Man wird sehen, wie weit der Schweizer Sonderweg führen kann.

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