Im Reich der Mitte

Die CVP will das Land zusammenhalten – und sich so vor dem Zerfall retten. Kann das klappen? Eine Reise durch Stammlande und Parteigeschichte.

Von Urs Bruderer, 27.03.2019

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«Neue Zeit – neue Aufgaben»: die Delegiertenversammlung der Konservativ-Christlichsozialen Volkspartei am 23. November 1968 in Olten. Ghisleni/Photopress-Archiv/Keystone

Nachrufe zu Lebzeiten ärgern zwar den Betroffenen, aber der ist ja mutmasslich nicht mehr lange da. Während die Verwandtschaft sich freut und über die Aufteilung des Erbes nachdenkt.

Auf die CVP wurden schon viele Nachrufe geschrieben. Der Fall scheint klar: Sie blutet aus. Konstanter Wähler­verlust seit Jahrzehnten. Letztes Wochen­ende ging der Trend in Zürich weiter. Die Partei fiel auf 4,3 Prozent, ein neuer Negativ­rekord: Bis in die 1980er-Jahre war die CVP mit ihrem christlichsozialen Flügel im Kanton Zwinglis ein fester politischer Wert und holte regelmässig um die 11 Prozent.

Die CVP? Eine Milieu­partei, deren Milieu sich aufgelöst hat. Ein fast geschlossenes Kapitel der Schweizer Geschichte. What’s next?

Das ist eine echte Frage. Denn das auf Kompromisse ausgelegte politische System der Schweiz kann eine Volks­partei in der Mitte gut gebrauchen. Oder besser: konnte? Die politische Lähmung der vergangenen Jahre im Bundes­haus lässt sich auch mit der Schwäche der CVP erklären. Sie ist (im Ständerat) noch zu gross, als dass das rechts­bürgerliche Lager durchregieren könnte. Aber (im Nationalrat) zu klein, um das Zünglein an der Waage zu spielen.

Was also kommt als Nächstes? Kippt das System von der Konkordanz zur Konkurrenz? Oder übernehmen neue Parteien die Rolle der CVP?

Die Fragen kommen zu früh. Weil der Fall CVP weniger klar ist, als er scheint. In der Mitte der Schweizer Politik sitzt eine uniform schillernde Partei voller sich nicht widersprechender Widersprüche.

Schweizer Durchschnitt

Für einmal keine Mehrzweck­halle, sondern eine urbane Location. Ende Januar 2019 lädt die CVP zur Delegierten­versammlung ins «Stage One» in Zürich-Oerlikon. Aber auch eine Event­halle sieht nach Schweizer Durchschnitt aus, wenn sie von der CVP gefüllt wird.

Daran ist nichts falsch. Denn die CVP versteht sich als Volkspartei. Merkwürdig ist nur, dass nicht nur die versammelte Masse, sondern jede und jeder einzelne Delegierte den Schweizer Durchschnitt zu verkörpern scheint. Die Männer tragen lieber bequeme als bestechende Jacketts. Die Kleider der Frauen lassen an PKZ denken und nicht an Paris. Hier und da ein Jung­politiker, der seinen Ehrgeiz in einen engen Anzug zwängt. Wenig Extravaganz, kaum Migrations­hintergrund, kein Prolo, kein Protz.

Dafür viel rosige, wohlgenährte Zufriedenheit.

«Viele Leute heute», sagt einer in der Schlange beim Einlass.

«Die sind alle wegen Doris gekommen», ein anderer.

«Danke, Doris!», steht auf der Gross­leinwand unter dem Bild der strahlenden abtretenden CVP-Bundes­rätin Doris Leuthard. «Danke, Doris» sagen Rednerinnen und Redner in unzähligen Varianten.

Die Wahl von Doris Leuthard in den Bundesrat 2006 bescherte der CVP ein Jahr später bei den Wahlen einen einsamen Erfolg: Sie legte zu. Nur einen Zehntel­prozentpunkt zwar, aber seither spricht man vom Leuthard-Effekt. Weil die Partei in allen anderen nationalen Wahlen der vergangenen vierzig Jahre verlor: von 21,3 Prozent (1979) auf 11,6 Prozent (2015). Dieses Jahr könnte sie laut einer Umfrage des «Tages-Anzeigers» sogar auf unter 10 Prozent fallen. (Dass die CVP laut einer Umfrage von SRF kaum verliert, wird weniger oft erwähnt.)

«CVP im Dialog mit dem Bürger»: Nationalrat Leo Schürmann und der Zürcher Stadtrat Max Koller (rechts) diskutieren das neue Motto (undatierte Aufnahme um 1974).Keystone

Doris Leuthard reagiert auf das Danke ihrer Partei mit dem strahlenden Lachen und der hemdsärmeligen Schlag­fertigkeit, die sie so beliebt machten. «Dann werde ich jetzt Platten­legerin», sagt sie zu ihrem Abschieds­geschenk, einem Objekt der Aargauer Künstlerin Ruth Maria Obrist: gebohrte Platten, die sich in unzähligen Kombinationen aufhängen lassen.

Und dann sagt sie, die den Niedergang der CVP in den vergangenen zwanzig Jahren mehr als jede andere Person aufgehalten haben soll, noch dies: Sie werde sich jetzt, nach ihrem Rücktritt, erst mal für ein halbes Jahr verabschieden. (Was sie nicht daran hinderte, sich einen Monat später in den Verwaltungsrat von Coop wählen zu lassen.)

Zwei Schlüsse aus der Delegierten­versammlung. Erstens: Der Leuthard-Effekt ist vorbei – und das in einem Wahljahr. Zweitens: Die CVP erinnert derzeit eher an ein Konzentrat als an die Breite der Schweizer Gesellschaft.

Und-und-und-Strategie

Vor lauter Danke und Doris ging an der Delegierten­versammlung beinahe unter, dass Partei­präsident Gerhard Pfister seine Wahlkampf­strategie ankündigte.

Pfister ging vom Globalen aus. Er sprach von der gespaltenen Gesellschaft in den USA. Vom durchgeschüttelten Frankreich und den gilets jaunes. Von der AfD, die in Deutschland das Vertrauen in Staat und Politik untergrabe. Von der italienischen Regierung, die systematisch Ängste schüre. «Der Zusammenhalt in den westlichen Demokratien schwindet.» Noch sei hierzulande alles besser. «Aber die Polparteien wenden sich von der Konkordanz ab, von der Arbeit am Ausgleich, am Zusammenhalt», so Pfister. SVP, FDP und SP beharrten auf Maximal­forderungen, wollten nur noch Souveränität, nur noch Freiheit, nur noch Solidarität. Drei von vier Volks­parteien verweigerten den Kompromiss.

Einzig die CVP setze sich für Freiheit und Gemeinschaft ein. Für die Wirtschaft und soziale Verantwortung. Für eine souveräne und weltoffene Schweiz. Und, und, und. «Nur die CVP macht eine Politik der dargebotenen Hand. Andere Parteien machen eine Politik der hohlen Hand. Oder eine des kalten Herzens.»

Während die Konkurrenz auf Polarisierung setze, nehme die CVP ihre historische Mission wahr, so Pfister: «die des Bindeglieds». Das Wahljahr werde zum Jahr der Konkordanz. Zum Jahr der CVP und ihrer einzigartigen Rolle als echter Volkspartei.

Kurz: Der CVP-Präsident variierte eine Rede lang nur einen einzigen Satz. Es ist der Wahlkampf­slogan seiner Partei: «Wir halten die Schweiz zusammen.»

Schwächelndes Scharnier

Der Slogan ist mehr als Propaganda: Er trifft zu. «Nur die CVP kann heute noch als eindeutig staatstragende Partei bezeichnet werden», sagt der Schweizer Politik­wissenschafter Claude Longchamp.

Der CVP-nahe Historiker Urs Altermatt geht noch weiter: Für ihn ist der Slogan schon seit präzis sechzig Jahren wahr. Er beschreibt die CVP als «das Scharnier» in der Regierung, das «eine Brücken­funktion» wahrnehme zwischen Freisinn und Sozial­demokratie. Und zwar seit der Einführung der Zauber­formel 1959.

Ohne Motto, dafür mit Stimmung: Am 15. Mai 1977 wird bei den Christlichdemokraten ausgiebig getanzt. Keystone

Seither galt die Regel, dass FDP, CVP und SP je zwei Bundesräte stellen und die SVP einen. Eine Regel, die «den Christlich­demokraten wie keiner andern Regierungs­partei auf den Leib, auf ihre ideologischen Traditionen und auf ihr Sozial­profil geschrieben war», so Altermatt.

Doch schnell zeigten sich die Gefahren der Rolle einer vermittelnden Mitte. Die CVP arbeitete an Mehrheiten, die anderen Regierungs­parteien an Positionen. Schon 1971 versuchte die CVP, daraus ein Programm zu machen: Sie erklärte sich zur «dynamischen Mitte». Und paktierte mal mit links, mal mit rechts.

Zwar gewann die CVP damit Abstimmung um Abstimmung, verlor aber Wahl um Wahl. Das Scharnier wird schwach und schwächer. Nach den Wahlen 2003 führte der schleichende Nieder­gang zu einem brutalen Macht­verlust. Die SVP eroberte mit Christoph Blocher den zweiten CVP-Bundesratssitz.

Wer die Schweiz zusammenhalten will, kann zerrieben werden. Gewählt werden Parteien für ihre Positionen in den Medien, nicht für ihre Rolle im Staat.

Flügelkämpfchen

Wenn es in einer Partei nicht gut läuft, hört man stets zwei Ratschläge: Die Partei sollte sich nach links bewegen. Und sie sollte sich nach rechts bewegen.

Mit dem Wähler­schwund setzten in der CVP die Flügel­diskussionen ein. Sie prägen die Wahrnehmung der Partei bis heute: In den katholischen Stamm­landen braucht sie angeblich ein möglichst konservatives Profil. Doch für die urbanen Kantone ein möglichst sozialliberales.

Dazu gehören ausgerechnet die vier bevölkerungs­reichsten Kantone Zürich, Bern, Waadt und Aargau. Sie stellen 94 von 200 National­räten. Bei den letzten Wahlen hat die CVP in diesen vier Kantonen insgesamt vier Sitze gewonnen, total: 4 von 94.*

Ein Dilemma: Mit einem Links­kurs vergrault die Partei ihre Stamm­wähler. Auf dem rechten Weg gewinnt sie die neuen Wählerinnen nicht, die sie dringend braucht.

Und so wird die CVP oft porträtiert: als verzweifelte Ehe zwischen stockkonservativem Dorf­könig mit Drittweltladen-Frau.

Doch die Wirklichkeit ist komplizierter. Das kann man zum Beispiel im Bundeshaus sehen.

«Etre humain, voir loin» und «Wir wollen menschliche Werte»: Parteipräsident Hans Wyer (rechts, am Rednerpult) spricht im Oktober 1981 in Rapperswil.Keystone

Für die Zürcher CVP sitzt Philipp Kutter im Nationalrat. Er nippt in der Cafeteria des Bundes­hauses in weissem Hemd und Krawatte an einem Kaffee. «Die CVP ist die sozialste bürgerliche Partei und die einzige, die sich zu sozialer Verantwortung bekennt.» Seine grossen braunen Augen strahlen Ruhe aus, aber seine Hände spielen mit allem, was auf dem Tisch zu greifen ist.

Für Kutter ist die CVP die Partei des Zusammenhalts. «Mit grenzenlosem Individualismus kann man einen CVPler jagen. Die Schweiz kommt nicht voran, wenn jeder für sich allein trainiert. Wir sind nicht die Partei der Fitness­studios, sondern der Sportvereine.»

Seine Kurzformel für die CVP? «Bürgerlich mit Herz», sagt Kutter.

Nur – warum haben dann CVP und Kutter eben mit dafür gestimmt, die IV-Kinder­renten zu kürzen? Kutter kennt das Geschäft nicht gut und will es nicht kommentieren.

Einige Tage später sorgt er im Nationalrat mit einem Vorstoss dafür, dass die Kinder­abzüge bei den Bundes­steuern massiv erhöht werden. «Ich will erreichen, dass alle Familien entlastet werden.»

SVP-Finanzminister Ueli Maurer wehrte sich. Er warnte vor Steuer­verlusten in der Höhe von 350 Millionen Franken. Von denen würden nur einkommens­starke Familien profitieren: Fast die Hälfte ginge leer aus, weil ihr Einkommen unter der Schwelle der Bundes­steuer liege. Wer keine Steuern bezahlt, dem helfen Abzüge nichts.

Maurer verlor. Der Vorschlag geht jetzt in den Ständerat.

Kutter ist 43 Jahre alt, Stadt­präsident von Wädenswil ZH und vergangenes Jahr für die zurückgetretene liberalsoziale Barbara Schmid-Federer nachgerutscht. «Ich bin vielleicht wirtschafts­liberaler als sie, aber sicher nicht weniger modern.» Derzeit ist er Co-Leiter einer Arbeits­gruppe für ein CVP-Papier zur Städte- und Agglomerations­politik. Er hätte sich gewünscht, dass seine Partei wissenschaftliche Versuche mit der Abgabe von Cannabis unterstützt, er will sich für ein Ja der CVP zur Ehe für alle einsetzen und dafür, dass schwule und lesbische Paare Kinder adoptieren dürfen. «Ich mache das gern», sagt er, «ich bin der städtische Stachel in der Partei.»

Ein Stachel, der nicht wehtut. Der Schwyzer CVP-Nationalrat Alois Gmür zum Beispiel sagt, dass er sich zwar gut verstand mit Kutters Vorgängerin Barbara Schmid-Federer. «Aber es war gewaltig, wie oft sie mit den Linken abgestimmt hat.» Mit Kutters Linie hat er kein Problem.

Gmür ist Bierbrauer, beliefert seit vielen Jahren das autonome Berner Kultur­zentrum Reitschule mit seinem Einsiedler in Bügel­flaschen und sagt zur Legalisierung von Cannabis: «Ich bin selber Drogen­produzent und war immer schon für die Legalisierung.»

Weniger locker sieht er die Ehe für alle. Konservative Werte seien für die CVP wichtig: «Wenn sich mit der Ehe für alle unzählige Möglichkeiten eröffnen, ist mein Weltbild gestört.» Doch diese Uneinigkeit löst höchstens ein Flügel­kämpfchen aus. In den wirklich wichtigen Fragen, in der Sozial- und Finanz­politik, also da, wo es ums Geld geht, da ziehen Gmür und Kutter am selben Strick: «Wir sind eine soziale Partei. Aber nicht für einen Sozialismus bis zum Gehtnichtmehr», sagt Gmür.

Der urbane Kutter und der voralpine Gmür haben problemlos Platz in derselben Partei.

Gutes altes Mineralwasser

Komplizierter als das Klischee ist die Situation der CVP auch in den Stamm­landen. Etwa im Kanton Luzern, wo Ende Woche gewählt wird.

Michael Kurmann ist 33 Jahre alt und steht seit sechs Uhr früh am Bahnhof in Reiden. Der IC Chiasso–Basel braust hier vorbei. Aber mit dem Regional­zug ist man in fünfzehn Minuten in Olten und in vierzig in Luzern.

«Hesch scho gwäält?», fragt Kurmann einen Herrn, der vom Bus auf den Zug umsteigt.

«Nei.»

«Du duesch aber.»

«Jojoo.»

«Weisch, ich frog albes. Letschts Mol häi nume 38 Prozänt gwäält.»

Für mehr reicht die Zeit nicht, muss sie auch nicht, denn Kurmann drückt den Leuten seine Botschaft in Form einer Halbliter­flasche Mineral­wasser in die Hand. Auf dem Etikett die Worte «Erfrischend, regional, konstruktiv – Michael Kurmann wieder in den Kantonsrat» und ein Bild von ihm: hellblaues Hemd, beiges Jackett, ein gepflegter Dreitage­bart und ein sanftes Lächeln. Alles an ihm strahlt Zuverlässigkeit aus.

Kein Motto, aber eine klare Botschaft: Rudolf Montanari (auf dem Stuhl stehend) argumentiert im April 2002 an der Delegiertenversammlung in Gerlafingen gegen die Fristenlösung.Jürg Müller/Keystone

Kurmann stieg mit 26 für die CVP in die Gemeindepolitik ein. Vor zwei Jahren kam er als Nachrutscher ins Kantons­parlament. Diesmal wird er es wohl im ersten Anlauf schaffen.

Was führte einen Bauingenieur, der sich selber «Mitte-links» nennt, zu einer katholisch-konservativen Partei? «Wenn man hier politisch etwas bewegen will, geht man in die CVP. Sie ist die gestaltende Kraft.»

Zwar sind die Zeiten, als die CVP den Kanton Luzern mit absoluter Mehrheit dominierte, seit den 1970er-Jahren Geschichte. Die Partei verlor seither nach links an Grüne und SP, nach rechts an die SVP. Die Ränder sind weggebrochen, und das nicht in dünnen Stücken. Doch die Luzerner CVP ist eine Volks­partei geblieben, und das vor allem auf dem Land, wo linke Politiker keine Chance haben.

«Wir haben hier noch nahezu die gute alte, heile Welt», sagt Kurmann. Er meint: die Zeiten der fraglosen CVP-Dominanz. In seinem Wahlkreis Willisau kommt die Partei immer noch auf über 40 Prozent. Ihre Leute sitzen in den Behörden, Verbänden, Vereinen. Sie sagen, was geschieht.

Hier ist die CVP noch stark. Und nichts macht eine Partei so attraktiv wie Stärke.

Mandarinli gegen Männer

Die Stadt Luzern ist ein anderes Pflaster: Sie wählt seit einigen Jahren links. Die CVP mit ihrem konservativen Image hat es hier schwer. Bei den Kantons­wahlen vor vier Jahren holte sie nur 4 von 25 Sitzen.

Kein Wunder, geht Wahl­kampf hier anders als auf dem Land. «Ihre Männer für Luzern!» steht auf dem Flyer, den Karin Stadelmann verteilt und auf dem kein Mann zu sehen ist, sondern die neun Kandidatinnen der Stadt­luzerner CVP. Die Irritation führt zu Gesprächen, zum Beispiel über die rein männliche Kantons­regierung. Zum Abschied drückt sie den Leuten ein Mandarinli in die Hand mit einem Kleber drauf: «Wir sind nicht sauer, wir wollen einfach auch Power! #StarkWieMänner #CVPFrauenStadtLuzern».

Das funktioniert: Die meisten Angesprochenen gehen mit einem Lächeln weiter. Und der Erfahrung, dass die CVP in Luzern auch eine Partei für Feministinnen ist.

Stadelmann ist Erziehungs­wissenschafterin und bildet an der Hochschule für Soziale Arbeit in Luzern Sozial­arbeiter aus. «Mein berufliches Umfeld ist SP-nah», sagt sie. Sie trägt ein schwarzes Jackett über einem dunklen Pullover und Perlen­ohrringe. Als sie in die Politik einsteigen wollte, schwankte sie, bei welcher Partei sie das tun sollte: «Ich wählte früher CVP und SP.»

Sie besuchte zuerst eine Versammlung der CVP. Und erschrak: «So viele Männer, so viele ältere Semester.» Wenn auf der Bühne nicht die Nationalrätin Andrea Gmür gesessen wäre, hätte sie den Saal gleich wieder verlassen. So aber blieb sie. Und fühlte sich nachher beim Apéro so wohl, dass sie die geplanten Besuche bei weiteren Parteien fallen liess.

Ohne politisches Mandat mischt sie seither ihre Partei auf. Sie hat in Luzern die Junge CVP wieder zum Leben erweckt und die Christlichsoziale Vereinigung (CSV) mitgegründet, eine Organisation des liberalsozialen Partei­flügels, die unter dem Schirm der CVP soziale und ökologische Themen pflegt. Und im April wird sie wohl zur Präsidentin der Stadt­luzerner CVP gewählt.

Mann und Mann geht gar nicht

Michael Kurmann und Karin Stadelmann sind mindestens so liberal wie der Zürcher CVP-Nationalrat Philipp Kutter. Und im Zweifel sogar sozialer. Der Präsident der Luzerner Kantonal­partei, Christian Ineichen, ist froh um solche Mitglieder. «Als Karin Stadelmann fragte, ob sie die CSV Luzern gründen dürfe, war das für mich als Präsident keine Frage. Sie bindet ein Wähler­segment für die Partei.»

Ineichen ist ein klassisch-konservatives CVP-Milieu­mitglied. In seiner Kindheit seien die Verhältnisse in den Entlebucher Gemeinden noch sehr klar gewesen. «Es gab eine Musik für die Liberalen und eine für die CVP, eine Baugenossenschaft für die Liberalen und eine für die CVP, eine Bank für die Liberalen und eine für die CVP.»

Über die Mitgliedschaft entschied meist die Geburt. Ineichen kommt aus einer CVP-Familie.

Er habe Werte mitbekommen, sagt er, die er nicht bei jeder Gelegenheit infrage stellen müsse. «Ich stehe dazu, dass ich am rechten Flügel der Partei stehe.» Mit Religion habe das wenig zu tun. Er sei «ein typischer Passiv­katholik, an Ostern und Weihnachten in der Kirche – und sonst kaum». Konservatismus hat für ihn mit Boden­haftung zu tun, mit einer feinen Art, miteinander umzugehen, mit Abwarten: «Mal schauen, was kommt. Wer will heute noch in die EU?»

Mit einem Tweet zur Ehe für alle fing er einen Shitstorm ein: «Mann und Frau geht. Frau und Frau geht irgendwie. Mann und Mann geht gar nicht.» Ineichen rechtfertigte sich: Ihm ging es darum, wer Kinder zeugen könne. «Zwei Schwule können das nicht. Warum sollen sie dann ein Kind adoptieren können? Es gibt kein Menschen­recht, ein Kind zu haben.» Er plädiert für die natürliche Ordnung. Doch wichtig sei dieses Thema für die CVP nicht. «Es gibt Züge, die nicht aufzuhalten sind. Die Homoehe ist so ein Zug.» Als ihm die Auseinandersetzungen zu blöd wurden, löschte er seinen Twitter-Account.

Warten auf den Redner: Im Landgasthof Ochsen in Wölflinswil AG ging es um die Invalidenversicherung und die Agrarpolitik (15. Mai 2007). Martin Rütschi/Keystone

Ineichen ist gross und kahlgeschoren; um seinen Mund trägt er einen feinen Bart. Er hat an der Uni Freiburg Geschichte und Politologie studiert und hält seiner Studenten­verbindung die Treue. Er spielt in der Dorf­musik Klarinette und ist im Vorstand des Entlebucher Schwing­vereins. Er ist sportlich, auf seiner Website führt er eine Liste der Berge, die er besteigen, der Pässe, die er mit dem Velo überqueren, der Marathons, die er laufen möchte. Hinter den meisten Punkten steht: «Erledigt!» Er ist Vize­direktor und Regional­manager der Biosphäre Entlebuch. Und sehr viel für die Partei unterwegs.

Viel Zeit für anderes bleibt da nicht. Ineichen ist 41 Jahre alt und bis heute Junggeselle. «Es gibt darum Leute, die denken, dass ich verkappt schwul bin, was ich definitiv negieren kann.» Vielleicht sei er einfach mit der CVP verheiratet.

Von seinen Positionen her würde er auch in die SVP passen. Doch er ist froh, dass er in die CVP hineingeboren wurde. «In der SVP wäre ich viel radikaler geworden, nicht tragbar, ich würde mich schämen dafür.» In der CVP habe er gelernt, auf die Zähne zu beissen, Diskussionen zu führen, andere Stand­punkte zu respektieren. «Schauen Sie, wie einer wie SVP-Nationalrat Roger Köppel sich gibt. Völlig respektlos, ein Unflat. Und solche Leute sollen sagen, wo es langgeht in der Schweiz?»

Tatsächlich hört man fast nur Gutes über die Art, wie Christian Ineichen seine Partei führt. Auch CVPler, die kaum eine Position mit ihm teilen, loben ihn: Er sei anständig und fähig zum Dialog. Und er selber sagt, er habe einen guten Draht zum Luzerner SP-Präsidenten: «Würden wir zusammen bauern, hätten wir das Heu auf getrennten Tennen. Aber wir könnten problemlos 1000 Liter Bier zusammen trinken.»

Er mag konservativ denken und rustikal reden. Aber der Präsident der CVP Luzern ist weit zugänglicher, als man zunächst denken würde. Er führt seine Partei so, dass er darin Platz hat, aber auch eine Karin Stadelmann. Er führt sie als Volkspartei.

Die Sache mit dem C

Wenn die CVP in einem Stamm­land wie Luzern heute weniger konservativ als vielmehr breit ist, warum ist sie dann national so mager? Warum konnten in einem Land wie der Schweiz, das Mitte, Augen­mass und Kompromiss verehrt, SVP, SP und FDP die CVP abhängen? Warum gelang ihr nicht, was der CDU/CSU in Deutschland gelang: eine starke christ­demokratische Partei zu werden?

Deutschland erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Stunde null. Katholiken und Protestanten nutzten diesen Augenblick, schreibt der Historiker Urs Altermatt: Sie «überwanden jahrhunderte­alte Vorurteile und gründeten aus gemeinsamem Antrieb eine ‹christliche› Partei.»

Die CVP und ihre Vorgänger­parteien in der Schweiz hatten Pech: Es gab nie eine Stunde null. Sie fingen im 19. Jahrhundert als Partei der Katholiken an – und blieben es bis heute. Zwar gab es Versuche, die Partei für Nicht­katholiken zu öffnen. Das zeigen die Namens­änderungen: Aus der «Katholischen Volkspartei» wurde 1957 die überkonfessionelle «Konservativ-Christlichsoziale Volkspartei». Doch es blieb beim Etikett; tatsächlich wurde im Terrain zu wenig unternommen, um Protestanten in die katholisch geprägte Partei zu locken.

1970 plante die Partei sogar, das C über Bord werfen. An einem Reform­parteitag wurde lang diskutiert, ob man sich neu «Volks­partei der Schweiz» nennen soll. Doch zuletzt setzte sich mit 106 zu 66 Stimmen ein anderer Name durch: Seither heisst sie «Christlich­demokratische Volks­partei», kurz CVP.

Der Leuthard-Effekt ist vorbei: Parteipräsident Gerhard Pfister verabschiedet die langjährige Bundesrätin.Walter Bieri/Keystone

Ein Jahr später schnappte sich die Bauern- und Gewerbe­partei (BGB) den frei gebliebenen Namen. Sie war damals mit 11 Prozent etwa so stark wie die CVP heute. Aus ihr wurde die SVP.

Seither hat die CVP dem Namen nach immer noch Gott an ihrer Seite. Doch nicht das Glück. Ihre Politik ist zwar längst weder katholisch noch religiös, sondern im besten Fall christlich inspiriert. Doch Protestanten und Protestantinnen wählen kaum CVP: Laut Nachwahlbefragungen sind es nur 4 Prozent.

Unter den Katholiken kam die CVP vor vier Jahren noch immerhin auf 24 Prozent. Doch in den 1960er-Jahren waren es noch 50 Prozent, schätzt Historiker Altermatt.

Eine Zeit der Wirren

Aus der katholischen Partei ist eine Partei geworden, die ein Viertel der Katholiken vertritt. Wie soll sie die Schweiz zusammenhalten?

Die CVP ist um einiges faszinierender als ihr Image. In einer Zeit der Widersprüche ist sie eine Organisation, die diese nicht austrägt, sondern verdaut. Sie hat von der katholischen Kirche nicht mehr die Ideologie, aber noch den Magen.

Nur nützt das dem Land nichts, wenn sie nicht die entscheidende Grösse hat.

Das beschäftigt auch den Luzerner CVP-Ständerat Konrad Graber. Er hat im Bundes­haus den Ruf eines grossen Brücken­bauers. Doch seine Zeit ist fast vorbei. Und in den vergangenen vier Jahren sei im Parlament fast nichts mehr gelungen, sagt er.

Der neben der Energie­strategie einzige wichtige Kompromiss dieser Legislatur, die Verknüpfung der Senkung der Unternehmens­steuer mit einer Finanz­spritze für die AHV, ist von Graber in die Wege geleitet worden. Und sonst? Vier vergeudete Jahre, aus denen man eine Lehre ziehen sollte: «Die Schweiz wäre gut beraten mit einer starken politischen Mitte.»

Natürlich spielt die CVP in Grabers Augen die Schlüssel­rolle für den Aufbau einer Mitte­partei. Dass sie diese Aufgabe nicht mehr allein stemmen kann, sagt er nicht: Im Herbst sind Wahlen, und da sagt man über die eigene Partei nur Gutes. Auch wenn man nicht mehr auf dem Zettel steht und sich wie Graber nach zwölf Jahren im Ständerat aus der Politik verabschiedet.

Dafür sagt Graber es etwas anders: «Vielleicht wird man in fünfzig Jahren auf unsere Zeit als eine Zeit der Wirren in der Mitte zurückschauen.»

Tatsächlich hatte die CVP in der Mitte lange ein Monopol. Doch dann kamen plötzlich zwei neue Parteien. 2007 gelang den Grün­liberalen (GLP) der Sprung in den Nationalrat. Und ein Jahr später spaltete sich die Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP) von der SVP ab.

Seither führen die drei Parteien ein Ballett auf: Mal arbeiten sie eng zusammen. Mal wenden sie einander den Rücken zu. Mal rennen sie grundlos in verschiedene Richtungen – in der Hoffnung, einander Wählerinnen und Wähler abspenstig zu machen.

Immer mal wieder gab es Fusions­pläne. Und das Scheitern dieser Pläne. Die Widerstände sind gross: Die GLP müsste trotz ihren derzeitigen Erfolgen den Traum aufgeben, allein gross zu werden. Die protestantische BDP-Basis die Abneigung gegen eine katholisch geprägte Partei überwinden. Und die CVP müsste den beiden kleineren Parteien die Angst nehmen, als Junior­partner von ihr verschluckt zu werden.

Eine Geburtsanzeige

Aber was die politische Mitte betrifft in der Schweiz: Sie ist nach wie vor da. Sie müsste sich nur zusammenraufen. Die drei Mitte­parteien kamen bei den letzten Wahlen zusammen auf über 20 Prozent. Mehr als SP oder FDP.

Die CVP muss das Land nicht allein zusammenhalten.

Trotzdem werden nach den Wahlen wohl wieder Nachrufe auf sie geschrieben. Aber eigentlich wäre es dann an der Zeit, über eine Geburts­anzeige nachzudenken. Und über den Namen einer neuen Partei. Einen Namen ohne C. Und ohne G und ohne B.

* In einer früheren Version stand hier eine falsche Formulierung zu den Sitzgewinnen der CVP in den genannten Kantonen.

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