Binswanger

Staatsrechtliches Nachsitzen

Sie haben versucht, die Selbstbestimmungsinitiative zu verstehen? Es ist Ihnen nicht gelungen? Keine Sorge: Ihr Fehler ist das nicht.

Von Daniel Binswanger, 17.11.2018

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Bald ist Adventszeit, mit Kränzen und Kerzen – und ich hätte auch einen Weihnachtswunsch: Die Eidgenossenschaft soll für einige Zeit von staatspolitischen Dauercrashkursen verschont bleiben. Ich persönlich habe allmählich genug davon. Und ich könnte mir vorstellen: Ihnen geht es genauso.

Nein!!! (sage ich jetzt präventiv, weil das in unserem Land als Erstes immer ganz laut gesagt oder besser noch gebrüllt werden muss) – das ist kein Statement gegen die direkte Demokratie. Die direkte Demokratie ist eine grossartige Errungenschaft, ein politisches Mirakel, ein ewiges Alpenglühen. Und ja: In der Schweizer Direktdemokratie geht man viermal pro Jahr an die Urne, stimmt ab über teilweise sehr komplexe Fragen – und muss sich nolens volens mit manchmal unübersichtlichen Zusammenhängen vertraut machen. Oder sagen wir mal: Man sollte.

Aber die beiden Vorlagen zur Selbstbestimmungsinitiative und zu den Versicherungsdetektiven sind ein derartiges formaljuristisches Desaster, dass der beflissene Teil des Stimmvolkes nun seit Wochen nachsitzen muss. Er muss nicht nur die Abstimmungsbüchlein pauken, sondern auch noch Bundesgerichtsurteile, Sozialversicherungsstatistiken und bundesrätliche Berichte, sollte sie kritisch prüfen und vergleichen, um sich irgendwie einen Reim auf die anzunehmenden oder abzulehnenden Rechtsbestimmungen zu machen. Und er scheitert damit kläglich.

Denn über Dinge, die keine rechtliche Konsistenz haben, kann man sich auch kein konsistentes Urteil bilden. Was zur Vernebelung lanciert wird, kann keine Klarheit schaffen. Ich würde mir deshalb wünschen, dass das Schweizer Volk mal wieder über eine Vorlage abstimmen darf, bei der man sogar weiss, worum es wirklich geht. Bei der das staatspolitische Nachsitzen in mehr resultiert als in Muffensausen, Migräne – und Entscheiden mit kaum abschätzbaren Folgen.

Immerhin bin ich guter Hoffnung, dass dieser Weihnachtswunsch auch bald einmal erfüllt wird. Zum Beispiel, wenn wir abstimmen werden über die Initiative zur Abschaffung der Personenfreizügigkeit, die diesen Sommer eingereicht worden ist. Da weiss man, worum es sich handelt: Entweder sind Sie für die Personenfreizügigkeit, oder Sie sind dagegen. Entweder wollen Sie weniger Ausländer im Land, oder Sie können ganz gut mit den jetzigen Verhältnissen leben. Ja oder nein, abschaffen oder nicht abschaffen. Auf eine klare Frage wird eine klare Antwort gegeben werden.

Wie wohltuend das sein wird nach der Selbstbestimmungsinitiative. Was will die Initiative? Wir wissen es nicht. Was motiviert ihre Unterstützer? Wir können nur spekulieren. Was wäre das Ergebnis im Fall einer Annahme? Überlassen Sie sich ihrer Fantasie.

Was also will die Initiative? Nach ständig wiederholter Aussage der Befürworter will sie einen Rechtszustand wiederherstellen, der durch einen Entscheid der Zweiten öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts im Oktober 2012 ausser Kraft gesetzt worden sei. Völkerrecht sei plötzlich über Landesrecht erhoben worden. Altbewährte Traditionen seien auf den Kopf gestellt worden. Ein antidemokratischer Staatsstreich sei das, nichts weniger.

Und schon geht es los mit dem Büffeln. Doch beschränken wir uns auf das Nötigste: Die Passage in dem Bundesgerichtsurteil, die damals die SVP so sehr in Wallung brachte, dass diese bis heute die akute Zerstörung der Schweizer Demokratie befürchtet, war lediglich ein obiter dictum, eine sogenannte Randbemerkung. Ein obiter dictum hat aber keinerlei rechtssetzende Kraft, nach dem Bundesgerichtsgesetz nicht einmal präjudizielle Kraft. Es kann die Rechtsfortentwicklung beeinflussen, aber es ist für die anderen Kammern des Bundesgerichts in keiner Weise bindend. Die Rechtspraxis der Schweiz hat sich mit besagtem obiter dictum schon deshalb nicht geändert, weil sich nicht einmal die Rechtspraxis des Bundesgerichts geändert hat – ganz einfach deshalb, weil ein obiter dictum die Rechtspraxis nicht ändern kann. Warum die SVP bis heute behauptet, dieses Bundesgerichtsurteil stelle einen höchstrichterlichen Putschversuch dar und habe einen Zustand zerstört, der unbedingt wiederhergestellt werden muss? Good luck, büffeln Sie weiter! Es wird trotzdem schwer zu verstehen bleiben.

Eine naheliegende Weise, dieses Weiterbüffeln zu betreiben, wäre das Studium eines Bundesratsberichts vom März 2010, den die SVP neuerdings stilisiert zur Rechtsphilosophie einer Welt, die noch in Ordnung war. So steht in dem Text zu lesen: «Nach Ansicht des Bundesrates sind die rechtsanwendenden Behörden grundsätzlich gehalten, völkerrechtswidrige Verfassungsbestimmungen anzuwenden, wenn diese jünger als die völkerrechtliche Bestimmung [...] sowie direkt anwendbar sind» (Seite 2323). So weit, so gut: Der Bundesrat schrieb damals, dass völkerrechtswidrige Verfassungsbestimmungen angewandt werden sollen – grundsätzlich und nach Möglichkeit.

Denn noch im selben Absatz des dicken Berichts steht auch: «Für diesen Lösungsansatz ist keine Verfassungsänderung nötig.» Denn, so heisst es weiter im nächsten Abschnitt: «Im Übrigen hat sich gezeigt, dass in diesem Bereich ein flexibles Vorgehen einer zu schematischen oder mechanischen Lösung vorzuziehen ist» (Seite 2324). Das heisst, der Bundesrat wollte genau nicht, dass eine starre Hierarchie zwischen Verfassung und Völkerrecht eingeführt wird, sondern dass das Bundesgericht flexibel abwägen kann. Ausgerechnet dieser Bericht soll nun der Hauptbeweis dafür sein, dass wir zu einer starren Normenhierarchie «zurückkehren» müssen? Sie verstehen das nicht? Macht nichts! Büffeln Sie weiter!

Denn das wird Sie unweigerlich zur leidigen Frage der Menschenrechte führen. Die SVP bestreitet heute vehement, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) kündigen zu wollen, aber das war weiss Gott nicht immer so. Toni Brunner redete im Februar 2013 davon, dass die Kündigung naheliegend sei, Bundesrat Maurer beantragte im November 2014 nach nie dementierten und von der SVP-Parteiführung begeistert bestätigten Berichten im Bundesrat die Kündigung der EMRK, Hans-Ueli Vogt sprach bis vor kurzem davon, man müsse die Kündigung in Kauf nehmen. Und jetzt? Abrakadabra: Gilt alles nicht mehr. Nur böswillige Volksverhetzer, so heisst es jetzt, würden eine so perfide Unterstellung machen. Die SVP liebt, die SVP verteidigt, die SVP schützt die Menschenrechtskonvention. Was also ist die wahre Absicht? Büffeln Sie weiter!

Denn es wird noch wirrer. Die SVP sagt heute, dass man die EMRK nicht kündigen, sondern im Fall einer Kollision mit Verfassungsrecht ganz einfach nicht umsetzen soll. Das heisst, wir sollen einerseits die Europäische Menschenrechtskonvention unangetastet in Kraft lassen und gleichzeitig ganz offiziell von Gesetzes wegen in bestimmten Fällen nicht anwenden. Einen solchen Umgang mit der EMRK praktiziert bisher nur ein einziges Mitglied des Europarates: Russland. Offenbar liefert Putin jetzt das neue Leitbild für Menschenrechtsgarantien.

Sie finden das bizarr? Gemach. Die Abstrusheiten fangen erst an. Denn im Initiativtext steht klipp und klar, dass «völkerrechtliche Verträge, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstanden hat» für die rechtsanwendenden Behörden massgebend seien. Das Problem ist: Die EMRK selber unterstand zwar nicht dem Referendum, die meisten, teilweise sehr grundlegenden Zusatzprotokolle hingegen schon. In einer Erklärung von 31 Rechtsprofessoren der Universität Zürich wird festgehalten, dass die Massgeblichkeit der Zusatzprotokolle durchaus auch die Massgeblichkeit der Mutterkonvention, das heisst der EMRK, nach sich ziehen könnte. Das würde schlicht bedeuten, dass es sich die Initianten mit ihrem eigenen Initiativtext verunmöglichen, die EMRK nur teilweise anzuwenden. Sie wäre nach ihrem eigenen Vorschlag weiterhin vollumfänglich massgebend, auch wenn es doch gerade der Sinn der Initiative war, die Massgeblichkeit der EMRK einzuschränken.

Ist das nun ein diabolischer Schachzug (weil eine «nicht intendierte» Massgeblichkeit ja zum Beispiel eine «nicht intendierte» Kündigung rechtfertigen könnte)? Oder ist es einfach markerschütterndes Dilettantentum? Wenn Sie Spass daran haben, im Dunkeln zu tappen, dann büffeln Sie weiter. Wenn Sie glauben, Verwirrung sei das Mass der Selbstbestimmung, dann sagen Sie Ja. Und sonst schicken Sie diesen Nonsens an den Absender zurück.

Illustration: Alex Solman

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